soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 24 (2020) / Rubrik „Sozialarbeitswissenschaft“ / Standort Wien
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/view/698/1248.pdf


Verena Grill:

Epistemische Gewalt in der Sozialen Arbeit


1. Einleitung

Wie geschichtliche Entwicklungen verstanden werden, ist immer eine Frage der Perspektive. Sie können beispielsweise linear fortschreitend, als chronologische Auflistung von Ereignissen wahrgenommen werden. Aus einer historisch-materialistischen Perspektive ist es hingegen unabdingbar, historische Momente im Zusammenhang mit soziopolitischen und ökonomischen Kontexten und Umständen zu analysieren. Dementsprechend sind die Entwicklungen innerhalb der Profession Soziale Arbeit keineswegs lediglich auf Entscheidungen früher Protagonist*innen zurückzuführen, ebenso wenig auf eine Art natürlichen Fortschritts von Theorien und Praktiken (vgl. Smith 2014: 305). Stattdessen wurden und werden sie vor dem Hintergrund von interessensgeleiteten und konflikthaften Prozessen hervorgebracht (vgl. Bettinger 2013a: 91).

Mit Rückgriff auf Foucaults Macht-Wissens-Matrix lässt sich feststellen, dass die (Weiter-)Entwicklung von Wissensbeständen in der Sozialen Arbeit wesentlich von den jeweils aktuellen Macht- und Herrschaftsverhältnissen beeinflusst wurde und wird (vgl. ebd.: 89). Soziale Arbeit ist jedoch nicht nur eingebettet in gesellschaftliche und politische Diskurse sowie dominierende Weltbilder und Vorstellungen von Normen und sozialen Problemen ausgeliefert, sondern sie (re)produziert diese (un)mittelbar mit (vgl. ebd.) – eine Tatsache, die angesichts des Selbstverständnisses Sozialer Arbeit paradox anmutet. Genau aus diesem Grund entschied ich mich dafür, mich mit den vielmals im Unsichtbaren belassenen Verstrickungen Sozialer Arbeit in Macht- und Herrschaftsverhältnisse – ihren blinden Flecken – auseinanderzusetzen. Als Dreh- und Angelpunkt wählte ich dabei den Begriff der epistemischen Gewalt. Dieser Terminus verweist auf den Beitrag, den Wissen zur Aufrechterhaltung gewaltförmiger gesellschaftlicher Verhältnisse leistet (vgl. Brunner 2016: 101).

Im vorliegenden Artikel stelle ich meine Masterarbeit Epistemische Gewalt in der Sozialen Arbeit (2019) in Auszügen vor. Zu Beginn beschreibe ich die Methodik und die der Forschung zugrundeliegende Epistemologie. Danach erkläre ich den Begriff epistemische Gewalt und lege dar, inwiefern Wissen gewaltvoll ist. Anschließend stelle ich die Forschungsergebnisse der theoretischen Analyse vor und zeichne nach, inwiefern die Profession Soziale Arbeit seit ihrer Formierung von Aspekten epistemischer Gewalt geprägt ist. Im darauffolgenden Abschnitt wende ich mich anhand der Ergebnisse von Gruppendiskussionen, die im Rahmen der Masterarbeit geführt wurden, der Frage zu, wie epistemische Gewalt sich in der täglichen Sozialarbeitspraxis zeigt und was es benötigt, um sie zu reduzieren.


2. Methodik und Epistemologie

In der Masterarbeit bearbeitete ich den Forschungsgegenstand auf zweifache Weise. Zu Beginn untersuchte ich aus einer historisch-dialektischen Perspektive, inwiefern im Rahmen der Entstehung, Entwicklung und globalen Ausbreitung Sozialer Arbeit Aspekte epistemischer Gewalt zu finden sind und wie diese konkret aussehen. Anschließend führte ich drei Gruppendiskussionen mit in der Sozialen Arbeit tätigen Personen, die ich mithilfe der Reflexiven Grounded Theory analysierte. Da ein Praktikum beim Verein maiz1 in Linz mir die Notwendigkeit bewusst machte, sich mit epistemischer Gewalt in der Beratungsarbeit auseinanderzusetzen, führte ich eine Diskussion mit Mitarbeiter*innen des Vereins durch. Die zweite Diskussion fand mit Studierenden eines Masterstudiums der Sozialen Arbeit statt, die ich im Rahmen der Mitgestaltung einer Lehrveranstaltung zur Thematik epistemische Gewalt kennenlernte. Im Streben nach dem Einbezug verschiedenster Erfahrungshorizonte führte ich die dritte Diskussionsgruppe mit langjährig berufstätigen Sozialarbeiter*innen durch. Die zentrale Frage der Diskussionen war, inwiefern bei in der Sozialen Arbeit tätigen Personen ein Bewusstsein für Aspekte epistemischer Gewalt in der Sozialen Arbeit besteht und wie sie diese in der Praxis für sich selbst verhandeln. Mit der Kombination aus einer theoretischen und praktischen Untersuchung versuchte ich der in der Sozialen Arbeit zentralen Notwendigkeit der Verbindung von Theorie und Praxis, von Wissen und Handeln nachzukommen (vgl. Grill 2019: 4f., 53ff.).

Mit der Forschung beabsichtigte ich, Wissen sowie Wissensbestände in der Sozialen Arbeit in den Fokus zu rücken und kritisch zu beleuchten. Auch war es mir ein Anliegen, zur Selbstreflexivität in der Sozialen Arbeit – insbesondere mit dem Fokus auf Beziehungsarbeit – beizutragen. Im Sinne von kritischer Wissenschaft strebte ich danach, reflexives Wissen zu erarbeiten, mit dem Ziel, Befreiungsprozesse zu ermöglichen und zu unterstützen. Ich verorte meine Position dementsprechend in der Tradition radikaler Sozialer Arbeit, deren Ziel die „Transformation des Bestehenden ‚in befreiender Absicht‘“ (Kessl/Maurer 2012: 44) ist.

Da Wissen in meiner Forschung eine zentrale Rolle spielte, skizziere ich folgend die epistemologische Orientierung der Forschungsarbeit. Mein Forschungszugang wurde vom durch Donna Haraway geprägten Konzept des situierten Wissens beeinflusst. Haraway (1991: 188, 191–196) kritisiert den wissenschaftlichen Glauben an eine*n gesichtslose*n, körperlose*n und kontextlose*n Wissenschafter*in, der*die losgelöst von den Forschungsobjekten und der Welt von einer erhöhten Position der Überwachung aus objektives Wissen produziert, als sogenannten god-trick. Im Gegensatz zu positivistischer Epistemologie, deren Ausgangspunkt ist, dass „wissenschaftlich relevante Realität […] auf alles [beschränkt ist], was beobachtbar und quantifizierbar ist“ (Pühretmayer 2012: 39), basiert das Konzept des situierten Wissens auf poststrukturalistischen, postkolonialen und queer-feministischen Kritiken von universalisierenden Meistererzählungen, wie beispielsweise dem klassischen standpunktfeministischen Narrativ, das den einen Weg zur Befreiung aller Frauen postuliert (vgl. Lykke 2010: 135). Anstatt von Frauen spricht Haraway von den „Unterworfenen“ und den „als unangemessen Betrachteten“. Im Einklang mit dem intersektionalen Gedanken, umfassen diese Kategorien als offene Knotenpunkte eine Vielzahl an verschiedenen Arten von sozialen und kulturellen Ein- und Ausgrenzungen, von Beherrschung und Unterordnung. Haraways Epistemologie baut somit auf einer mobilen Vielfalt an kritischen Verortungen auf, ausgehend von den jeweiligen Perspektiven von verschiedenen unterworfenen Gruppen (vgl. ebd.: 136). Haraway hebt zudem die Verantwortlichkeit von Wissenschafter*innen hervor, indem sie diese auffordert, kritisch zu reflektieren, welche realitätsproduzierenden Effekte die eigene Forschung hat (vgl. ebd.). Die Entscheidung, im vorliegenden Artikel das Wort Ich zu gebrauchen, ist demnach eine bewusste. Sie resultiert aus meinem Anspruch, nicht in objektivistischer Manier hinter dem Text zu verschwinden, sondern mich als Autorin sichtbar und damit verantwortbar zu machen.


3. Von der Gewalt des Wissens

Meine Forschung basiert auf intersektionalen, feministischen und postkolonialen Theorien sowie Ansätzen der Kritischen Sozialen Arbeit. Während Intersektionalität und feministische Theorien bereits in die Debatten und die Wissenschaft Sozialer Arbeit Eingang gefunden haben, wurde die postkoloniale Perspektive meinen Recherchen nach in der deutschsprachigen Sozialarbeitsforschung noch kaum aufgegriffen. Aus diesem Grund stelle ich diese folgend kurz vor.

Postkoloniale Theorien2 beschäftigen sich mit Prozessen der Kolonisierung, andauernder Dekolonisierung sowie auch Rekolonisierung. Interdisziplinär ausgerichtet, bearbeiten sie eine immense Bandbreite an Theorien (vgl. Castro Varela/Dhawan 2015: 12). Die Bedeutung des Begriffs postkolonial wird dabei unter Theoretiker*innen heiß debattiert (vgl. Young 2016: 57; Loomba 2015: 28; Castro Varela/Dhawan 2015: 15). In meiner Forschung gehe ich von jener Definition aus, der entsprechend Postkolonialismus vom allerersten Moment an, in dem kolonialer Kontakt stattfand, durch den Diskurs des Widerstands ins Leben gerufen worden ist (vgl. Ashcroft/Griffiths/Tiffin 1995: 117). Postkolonialismus bezeichnet eine „Widerstandsform gegen die koloniale Herrschaft und ihre Konsequenzen“ (Castro Varela/Dhawan 2015: 16). Der Begriff beschreibt demnach eine theoretische und politische Position und signalisiert das aktive Streben, gegen unterdrückende Verhältnisse zu intervenieren (vgl. Young 2016: 57).

Neben marxistischen Ansätzen beziehen sich postkoloniale Theorien insbesondere auf poststrukturalistische Ansätze. Poststrukturalistische Perspektiven leisten einen Beitrag zur Kritik an Epistemologien aus dem Westen. Sie theoretisieren eurozentrische Gewalt und kritisieren „die Produktion epistemischer Gewalt“ (Castro Varela/Dhawan 2015: 12). Genau diese Form von Gewalt ist der Kern- und Angelpunkt meiner Forschung. Da der Begriff nicht sehr geläufig ist, scheint mir an dieser Stelle eine ausführlichere Auseinandersetzung damit angebracht.

Grundsätzlich verweist epistemische Gewalt auf den Umstand, dass bestimmte Erkenntnismöglichkeiten zwanghaft delegitimiert, sanktioniert und verdrängt werden, während versucht wird, andere durchzusetzen bzw. während diese auch tatsächlich durchgesetzt werden (vgl. Garbe 2013: 3). Zum besseren Verständnis der Begrifflichkeit lohnt sich ein Blick darauf, wie in Europa zeitgleich universalisiertes Wissen hervorgebracht und mobilisiert und gleichzeitig nicht-willkommenes Wissen verdrängt und gelöscht wurde (vgl. Castro Varela 2018a: 10). Den Zweck dieses Vorgangs – die Aufrechterhaltung gewaltförmiger gesellschaftlicher Verhältnisse mithilfe von Wissens- und Wahrheitsbeständen (vgl. Brunner 2017: 45) – veranschaulicht der Soziologe Aníbal Quijano in seiner Analyse der Kolonialität von Macht und Wissen (vgl. Loomba 2015: 60). Er beschreibt zwei Achsen der Macht, die im Zuge der Kolonisierung entstanden und in weiterer Folge die räumlich-zeitliche Matrix des als Amerika bezeichneten Kontinents definierten (vgl. Maldonado-Torres 2007: 243). Die eine Achse ist die Konstruktion von ‚Rassen‘ als Mittel der sozialen Klassifikation der Bevölkerung. Durch den Verweis auf scheinbar biologische Unterschiede zwischen Eroberern und Eroberten wurde es möglich, kolonisierte Völker als anderen Völkern von Natur aus ‚unterlegen‘ zu konstruieren. Europäer*innen rechtfertigten auf diese Weise die von ihnen aufgezwungenen Machtbeziehungen (vgl. Quijano 2000: 533). Die zweite Achse ist die Einführung einer neuen Struktur von Arbeitskontrolle, ihrer Ressourcen und Produkte. Im Rahmen dieses Prozesses wurden alle bisher historisch bekannten Strukturen von Arbeitskontrolle wie Sklaverei, Leibeigenschaft, geringe unabhängige Warenproduktion und Wechselseitigkeit auf der Basis von Kapital und Weltmarkt zusammengefügt. Auf die soeben skizzierte rassistische Einteilung der Weltbevölkerung aufbauend, wurde die systematisch rassialisierte Arbeitsteilung eingeführt, die bis heute fortwirkt (vgl. Quijano 2000: 534–537).

Kolonialität und Gewalt sind der Entwicklung der Moderne untrennbar eingeschrieben (vgl. Brunner 2017: 37f.); Imperialismus und die Erfindung von ‚Rassen‘ sind demnach fundamentale Aspekte der Moderne (vgl. McClintock 1995: 5). In der bekanntesten und frühesten Beschreibung epistemischer Gewalt bezeichnet Gayatri Chakravorty Spivak dieses aus der Entfernung inszenierte und heterogene Projekt, das koloniale Subjekt als ‚Andere*n‘ abzuwerten, als eindeutiges Beispiel von epistemischer Gewalt (vgl. Spivak 1988: 280f.). Wie María do Mar Castro Varela festhält, beschreibt Spivak diese als „eine spezifische Form der Gewalt, die das postkoloniale Subjekt ebenso wie das imperiale Subjekt des Westens“ (Castro Varela 2018a: 10) hervorbringt. Castro Varela betont, dass „die Kolonialität des Wissens auch weit über das politische Ende des Kolonialismus selbst hinauswirkt“ (ebd.). Epistemische Gewalt ist demnach nach wie vor tief in unserem Wissen sowie den Wegen, auf denen wir es erlangen, eingelagert (vgl. Brunner 2017: 39). Sie beeinflusst weiterhin unsere Wahrnehmung, unser Denken sowie unsere Affekte, etwa in Form von imperialer Überheblichkeit oder rassistischen Denkmustern (vgl. Castro Varela 2018b: 9). Epistemische Gewalt wirkt weitgehend unsichtbar, so auch in Akten des Sprechens, (Ver-)Schweigens und auch Zu(-Hörens) (vgl. Brunner 2017: 41).


4. Vom Einfluss epistemisch gewaltförmigen Wissens auf die Profession Soziale Arbeit

Ein Blick auf die Ergebnisse der historisch-dialektischen Untersuchung von traditioneller Sozialer Arbeit zeigt, inwiefern die Entstehung, Entwicklung und globale Ausbreitung Sozialer Arbeit von Aspekten epistemischer Gewalt durchzogen ist. In der Untersuchung fokussierte ich exemplarisch Ausschnitte aus zentralen (berufs)geschichtlichen Perioden: die frühe Soziale Arbeit zur Zeit ihrer Entstehung, die Zeit ihrer globalen Ausbreitung im Rahmen der Kolonisierung und ihrer zeitgleichen Weiterentwicklung innerhalb Europas sowie ihrer aktuellen Ausgestaltung im Neoliberalismus.

Die Ergebnisse der Analyse zeigen auf, dass Soziale Arbeit seit ihrer Entstehung wesentlich mit jeweils vorherrschenden Macht- und Wissensverhältnissen verwoben war und dies weiterhin ist. So zeigt sich, dass über die gesamte geschichtliche Entwicklungsperiode hinweg als legitim erachtetes, sozialarbeiterisches Wissen vorrangig jenem Wissen entsprach und entspricht, das aus der jeweiligen wissenschaftlichen wie politischen Machtperspektive als legitim betrachtet wurde (vgl. Grill 2019: 47). Aus einer historisch-materialistischen Perspektive betrachtet wird deutlich, dass der Ursprung Sozialer Arbeit in Zusammenhang mit den Dynamiken des kapitalistischen Systems und daraus resultierender Armut und sozialen Konflikten steht (vgl. Smith 2014: 305).

Westliche Soziale Arbeit entstand im späten 19. Jahrhundert in einer Zeit, die gekennzeichnet war vom „Aufstieg und der Durchsetzung einer bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsordnung in Westeuropa und Nordamerika“ (Anhorn 2012: 225). Die Einführung des kapitalistischen Systems wurde durch ein Zusammenspiel von sozialdarwinistischen und liberalen Wissensbeständen legitimiert: Die sozialdarwinistische Argumentation, dass sich im Kapitalismus ausschließlich ‚Leistungswillige‘ durchsetzen, legitimierte die neoklassische Perspektive auf Ungleichheit als grundlegenden und notwendigen Ansporn für „Fleiß und persönlichen Einsatz“ (Weiss/Hofmann 2016: 2). Erklärungsmodelle, die auf sozialdarwinistischen und kapitalistischen Argumenten basieren, verorteten die Ursachen für die zunehmende Ausbreitung von Armut und Unruhen im Charakter von Individuen anstatt in der Ausgestaltung von sozialen und ökonomischen Strukturen (vgl. Ferguson/Woodward 2009: 17). Von diesen Wissensbeständen ausgehend, erklärte eine sich gerade formierende traditionelle Soziale Arbeit gesellschaftliche Ungleichheiten mit sozialdarwinistisch argumentierten Unterschieden zwischen Individuen und bestimmte auf Basis dessen, wer es verdient, Hilfe zu erhalten (vgl. ebd.: 17f.).

Exemplarisch für dieses traditionelle Paradigma Sozialer Arbeit steht die US-Amerikanerin Mary Richmond, die 1889 nach britischem Vorbild eine Charity Organization Society (COS) gründete (vgl. Anhorn 2012: 226f., 232). Sie erklärte Armut aus einer individualisierenden und moralisierenden Perspektive, definierte diese „als letztlich individuell zu verantwortendes Defizit und Versagen“ (ebd.: 229), betrachtete Lohnarbeit als bestes moralisches Erziehungsmittel und orientierte sich somit am liberalistischen Versprechen, dass Erwerbsarbeit den Weg aus der Armut weise. Im Gegensatz dazu steht das kritische Paradigma von Richmonds Zeitgenossin Jane Addams, die 1889 ein Settlement in der unmittelbaren Nachbarschaft von armutsbetroffenen Personen mitbegründete (vgl. ebd.: 227, 241, 243f.). Das Ziel dieser Bewegung lag darin, Nachbar*innen dabei zu unterstützen, ihre Schwierigkeiten zu identifizieren und aktiv an der Verbesserung sozialer Infrastruktur und Reformen mitzuwirken (vgl. ebd.: 248).

Der gravierende Unterschied zwischen beiden Konzepten zeigt sich besonders deutlich, wenn der wissenschaftliche Kontext fokussiert wird, in dem die verschiedenen Erklärungs- und Lösungsansätze für Armut entstanden (vgl. Hugman 2009: 1139; Anhorn 2012: 263). Die Settlement-Bewegung orientierte sich an sozialwissenschaftlich-soziologischen Grundlagen. Darauf basierend versuchte sie, das konkrete Verhalten von Personen vor dem Hintergrund materieller und ökonomischer Bedingungen als Handlungsstrategie zur Bewältigung von schwierigen Situationen zu verstehen. Sie distanzierte sich so von einem ahistorischen, dekontextualisierten und absoluten Normverständnis (vgl. ebd.: 243f.). Im Gegensatz dazu orientierte sich social casework nach Richmond am naturwissenschaftlichen Modell eines objektiv-neutralen, positivistischen Wissens. Statt das persönliche Wissen von armutsbetroffenen Menschen in ihren individuellen Lebenskontexten zu berücksichtigen, propagierte sie ein abstraktes und universelles Normenkonzept, in dem allgemein gültige Normen festgelegt und als unverrückbar verstanden wurden (vgl. Anhorn 2012: 246). Die Orientierung an diesem Konzept hat zur Folge, dass alternative Wissensbestände und andere Lebensweisen ignoriert, abgewertet und unterdrückt werden – kurz, dass epistemische Gewalt ausgeübt wird. Traditionelle Soziale Arbeit partizipierte somit an der Ausübung epistemischer Gewalt. Dabei orientierte sie sich nicht nur an epistemisch gewaltförmigen Wissensbeständen, wie die Ergebnisse der historisch-dialektischen Untersuchung aufzeigen, sondern (re)produzierte diese beständig in ihrer Praxis (vgl. Grill 2019: 47ff, 92).

Ein Blick auf die globale Ausbreitung Sozialer Arbeit vor dem Hintergrund von Kolonialismus und Imperialismus illustriert dieses Ergebnis: Von einem weißen3 Überlegenheitsdenken durchdrungen, konstruiert(e) sozialarbeiterisches Denken und Handeln indigene Personen als ‚minderwertige Andere‘, die der Anpassung und Disziplinierung bedürfen. Diese Wissensbilder führten dazu, dass Sozialarbeiter*innen aktiv an systematischer Gewaltausübung gegenüber der indigenen Bevölkerung beteiligt waren, wie unter anderem den zwangsweisen Abnahmen indigener Kinder von ihren Eltern in der Siedlungskolonie Australien über eine Zeitperiode von 40 Jahren zwischen 1930 und 1970 (vgl. Young/Zubrzycki 2011: 160). Die Kontroll- und Disziplinierungspolitiken in den Kolonien spiegelten sich im Europa des 19. Jahrhunderts in der bereits skizzierten Praxis der sozialdarwinistisch fundierten Zuordnung von Menschen zu devianten Klassen. Im Nationalsozialismus führte Soziale Arbeit ihre Unterstützung von gewaltförmigen Ideologien und Regimes fort. Sogenannte Volkspfleger*innen lieferten auf Grundlage der sozialrassistischen Lehre als ‚unwert‘ definierte Personen ans nationalsozialistische System aus und wirkten somit aktiv an dessen grausamen und menschenverachtenden Politiken mit (vgl. Kuhlmann 2012: 89ff.).

Die sozialarbeiterische Praxis, als ‚anders‘ konstruierte Personen an vorgegebene Normen anzupassen, wirkt bis heute fort. Der neoliberal fundierte Auftrag an die gegenwärtige Soziale Arbeit besteht vielfach darin, Individuen zu ‚normalisieren‘ und in den Arbeitsmarkt einzugliedern (vgl. Michel-Schwartze 2010: 18). Dieser Auftrag entspricht dem zunehmenden Wandel vom Sozialstaat zum aktivierenden Staat: Der Fokus wird auf die Eigenverantwortung von Individuen gelegt und Menschen werden zur Arbeitsaufnahme verpflichtet (vgl. Seithe 2012: 247). Hilfsleistungen werden an entsprechende Gegenleistungen wie die Bereitschaft, Arbeit aufzunehmen, gebunden (vgl. Butterwege 2017: 167). Ob jemand Unterstützung verdient, wird somit abhängig gemacht von der Selbstverantwortung der Bürger*innen (vgl. Seithe 2012: 247). Zugleich wird von Bürger*innen gefordert, mitzuwirken sowie das eigene Verhalten anzupassen (vgl. Butterwege 2017: 173). Geprägt von Managerialismus und Betriebswirtschaft wird Soziale Arbeit zunehmend zur Kontrolleurin staatlicher Bevormundung reduziert und wirkt gehorsam an der Anpassung von Individuen an neoliberale Normen mit. Gleich den liberal motivierten Anfängen traditioneller Sozialer Arbeit, werden im Neoliberalismus Ansätze für Erklärungen und Lösungen von sozialen Problemen auf das Individuum bezogen. Strukturelle Ungleichheiten werden somit ausgeblendet und vorherrschende Macht- und Herrschaftsverhältnisse gestärkt (vgl. Grill 2019: 47, 49).

Die zusammengefassten Ergebnisse der Analyse weisen darauf hin, dass seit Beginn ihrer Entstehung jene Soziale Arbeit gefördert und politisch akzeptiert wurde, die dazu beitrug, gesellschaftspolitische Verhältnisse zu stabilisieren (vgl. Anhorn 2012: 267): die Einzelfallhilfe, die auf Richmonds Modell der social casework basiert. Da Soziale Arbeit seit jeher zumeist von öffentlicher Hand finanziert wird, ist diese Entwicklung keineswegs verwunderlich, erschwert diese Abhängigkeit es ihr doch, sich gegen vorherrschende Wissensparadigmen zu positionieren. Indem sie vermeidet, Herrschaftsstrukturen anzugreifen, schützt sie in gewisser Weise ihr eigenes Fortbestehen (vgl. Bettinger 2012: 166f.). Jedoch nimmt traditionelle Soziale Arbeit dadurch in Kauf, weiterhin auf epistemisch gewalttätiger Basis zu agieren.


5. Vom Einfluss epistemisch gewaltförmigen Wissens auf die Praxis Sozialer Arbeit

Im Zuge der Auswertung der Gruppendiskussionen mittels Reflexiver Grounded Theory gliederte ich epistemische Gewalt in die drei Bestandteile Definitionsmacht, Entscheidungsmacht und Handlungsmacht. Diese Aufgliederung ermöglicht es, die Fundierung, Auswirkungen und Konsequenzen epistemischer Gewalt besser zu verstehen und nachvollziehen zu können. Definitionsmacht verstehe ich in Anlehnung an die Ergebnisse der Gruppendiskussionen als die Macht, zu definieren, welches Wissen und welche Normen und Werte in einer jeweiligen Gesellschaft anerkannt werden (vgl. Grill 2019: 92). Entscheidungsmacht wurde in den Gruppendiskussionen insbesondere als die Macht, Entscheidungsprozesse zu gestalten sowie Prioritäten zu setzen, thematisiert (vgl. ebd.: 68). Handlungsmacht wurde anhand von zwei Aspekten diskutiert: Der Macht, in einer zwischenmenschlichen Begegnung Einfluss zu nehmen auf die eigene Haltung und das eigene Verhalten, sowie der Macht, selbst zu entscheiden, auf welche Art und Weise Wissen, Normen und Werte vermittelt werden (vgl. ebd.: 73).


5.1 Über epistemische Gewalt in der Praxis Sozialer Arbeit

Im Folgenden wird auf Basis der Gruppendiskussionen gezeigt, wie sich epistemische Gewalt in der Praxis Sozialer Arbeit zeigen kann und wodurch sie reduziert werden kann. Den Diskussionsteilnehmer*innen zufolge äußert sich epistemische Gewalt in der Praxis Sozialer Arbeit etwa in rassistischen oder paternalistischen Aussagen und Handlungen. Am Beispiel von Paternalismus wird deutlich, wie die soeben geschilderten Machtebenen epistemischer Gewalt zusammenwirken, wie eine Teilnehmerin schildert: Ist ein*e Sozialarbeiter*in davon überzeugt, selbst besser zu wissen, was für die Person, die er*sie berät, die richtige Entscheidung ist, kann dies zur Konsequenz haben, dass er*sie die eigene Entscheidung der Person in Frage stellt (vgl. Grill 2019: GD2 TN2 Z: 120ff., 246, 248; GD2 TN1 Z: 300ff., 304). Diese Überzeugung, besser zu wissen, was das Beste für jemanden wäre, kann sich, wie eine weitere Teilnehmerin beschreibt, ebenso in einer Art Erste-Welt-Überheblichkeit äußern, indem z.B. die gebende Person entscheidet, was die als ‚hilfsbedürftig‘ markierte Person benötigt (vgl. ebd.: GD3 TN2 Z: 718f.).

Dergleichen paternalistisches Verhalten gegenüber Personen bedeutet einer Diskussionsteilnehmerin zufolge letztendlich immer „eine Nichtanerkennung von ihrer […] Selbstbestimmungsfähigkeit, […] von ihrem Erwachsenendasein“ (GD2 TN2 Z: 255). Um dieser Form epistemischer Gewalt in der Praxis Sozialer Arbeit entgegenzuwirken, ist es, so diese Teilnehmerin, unerlässlich, jede Person als Subjekt anzuerkennen und zu versuchen, dem Gegenüber möglichst auf Augenhöhe zu begegnen. Auf diese Weise kann die vorhandene Machtasymmetrie zwischen Sozialarbeiter*innen und Personen, die sie beraten oder betreuen,4 zumindest etwas reduziert werden (vgl. ebd.: 74). Eine weitere Teilnehmerin betont, dass eine Person als Subjekt zu respektieren bedeutet, ihr Vorwissen und ihre jeweiligen Erfahrungen anzuerkennen und wertzuschätzen, sowie zu akzeptieren, dass es für Sozialarbeiter*innen selbst unmöglich ist zu wissen, was der beste Lösungsansatz für die andere Person ist (vgl. GD2 TN1 Z: 238–241).

Dieser Zugang, basierend auf poststrukturalistischen Grundannahmen, ähnelt Donna Haraways Konzept des situierten Wissens: Anstatt davon auszugehen, dass das eigene Wissen objektiv und neutral ist, wird anerkannt, dass der persönliche Blickwinkel und das Wissen von Sozialarbeiter*innen begrenzt sind durch die jeweilige Positionierung in der Welt. In diesem Sinne konstatiert eine Diskussionsteilnehmerin, dass Sozialarbeiter*innen ausschließlich jenen kleinen Teil der Wirklichkeit der beratenen oder betreuten Person kennen, über den ihr Gegenüber erzählt. Dies hat zur Folge, dass ihr Wissen über die jeweilige Person stark eingeschränkt ist. Aus diesem Grund können Sozialarbeiter*innen nicht automatisch davon ausgehen, dass ihre eigene Lösung für ein spezifisches Problem auch für ihr Gegenüber die beste ist (vgl. ebd.: 66f., 74). Anstatt Lösungsansätze ausschließlich auf der Grundlage von Fachwissen zu entwickeln, plädiert die Teilnehmerin dafür, dass Sozialarbeiter*innen stets das Vorwissen der beratenen oder betreuten Personen miteinbeziehen (vgl. GD2 TN1 Z: 238–241). In den Diskussionen wurde darüber hinaus festgestellt, dass die Lösungsfindung immer von den jeweiligen Vorerfahrungen der Sozialarbeiter*innen beeinflusst wird (vgl. ebd.: 66). Darüber hinaus transportieren Sozialarbeiter*innen in Beratungs- und Betreuungsbeziehungen permanent ihr eigenes Weltbild mit, vermitteln ihre jeweiligen persönlichen Werte und Sichtweisen, wie eine Teilnehmerin der Gruppendiskussion mit Studierenden feststellte. Sie schlussfolgert, dass es unmöglich ist, das Gegenüber in einem intensiven Betreuungsverhältnis nicht zu beeinflussen (vgl. ebd. GD1 TN2 Z: 415ff.).

Genau in diesem Transportieren eines bestimmten Weltblickes kann sich epistemische Gewalt zeigen, wie die Analyse der Diskussionen zeigt: dann, wenn Wissen, wenn bestimmte Normen und Werte als einzig wahr und gültig vermittelt werden und alles, was dem nicht entspricht oder davon abweicht, abgewertet wird (vgl. ebd.: 62, 73). Die zentrale Position, die die Vermittlung von Wissen, Normen und Werten in der Sozialen Arbeit einnimmt, lässt zudem erkennen, dass epistemische Gewalt im Auftrag traditioneller Sozialer Arbeit eingeschrieben und damit allgegenwärtig ist (vgl. ebd.: 92). Nichtsdestotrotz sind Sozialarbeiter*innen nicht machtlos, wie eine Teilnehmerin betont, sondern haben gewisse Handlungsspielräume, da sie selbst entscheiden können, wie sie diese Normen vermitteln: Als absolut oder als historisch gewachsen und in unserem momentanen Gesellschaftssystem essentiell, gleichzeitig jedoch auch als kritisier- und veränderbar. Die letztere Sichtweise ermöglicht, Normen zu vermitteln und diese gleichzeitig zu kritisieren (vgl. ebd.: 75f., GD2 TN2 Z: 471–474).


5.2 Über Macht(losigkeit) in der Praxis Sozialer Arbeit

Nachfolgend beschreibe ich, wie Definitionen von epistemischer Gewalt und Sozialer Arbeit die Wahrnehmung der eigenen Handlungsmacht und in weiterer Folge die Handlungen in der Praxis Sozialer Arbeit beeinflussen. Ob und inwiefern Teilnehmer*innen der Gruppendiskussionen sich selbst als handlungsfähig und machtvoll in Bezug auf die Reduktion epistemischer Gewalt wahrnehmen, war davon abhängig, wo sie epistemische Gewalt lokalisierten. Wurde diese auf der System- und Organisationsebene verortet, auf die der eigene Einfluss als gering wahrgenommen wird, und wurde zudem die eigene Praxis als kaum Handlungsspielräume ermöglichend beschrieben, resultierte dies in Empörung, Hilflosigkeit oder gar Ohnmacht gegenüber dem System. Teilnehmer*innen reagierten auf diese Erfahrungen und emotionalen Herausforderungen teilweise mit einer Portion Pragmatismus, teilweise mit Kündigung ihres Dienstverhältnisses. Wurde epistemische Gewalt im Gegensatz dazu mit dem eigenen Verhalten und Handeln in Verbindung gebracht und wurden zudem gewisse Handlungsspielräume in der eigenen Arbeitsstelle wahrgenommen, sahen Teilnehmer*innen eher die Möglichkeit, in ihrer eigenen Praxis Sozialer Arbeit epistemische Gewalt zu reduzieren (vgl. Grill 2019: 92, 95f.).

Ein weiterer Einflussfaktor auf die Wahrnehmung von Handlungsmöglichkeiten war, wie Teilnehmer*innen der Gruppendiskussion ihre eigene Arbeit definierten. Soziale Arbeit als an den Bedürfnissen von Personen orientiert mit dem Ziel ihrer Selbstermächtigung, wurde insbesondere von langjährigen Sozialarbeiter*innen unter den derzeitigen Rahmenbedingungen als unmöglich beschrieben. Die eigene Profession wird stattdessen zunehmend als „Pflasterlpickerinnen […] der jeweiligen Politik“ (vgl. ebd.: GD3 TN3 Z: 406) erlebt. Macht- und Herrschaftsverhältnisse werden dieser Schilderung zufolge als auf die Soziale Arbeit einwirkend wahrgenommen und nicht als Verhältnisse, in die die Akteur*innen in den Feldern Sozialer Arbeit selbst eingewoben sind und die von diesen zugleich permanent (re)produziert werden (vgl. Kessl 2013: 70).

Das Bewusstsein, dass durch das eigene Verhalten permanent Macht- und Herrschaftsverhältnisse reproduziert werden, ist im Verein maiz stark ausgeprägt. Die zuvor skizzierte Wahrnehmung, dem System ausgeliefert zu sein und es selbst nicht mitgestalten zu können, wird von einer Teilnehmerin stark kritisiert (vgl. Grill 2019: 98f.). Sie betont, dass Sozialarbeiter*innen in ihrer praktischen Arbeit unabhängig von der Ausrichtung der Trägerorganisation immer gewisse Spielräume haben, im Rahmen derer sie entscheiden können, wie sie diese gestalten (vgl. ebd.: GD2 TN2 Z: 746ff.). So entscheiden sie selbst, wie sie den Menschen, mit denen sie arbeiten, begegnen, wie sie mit ihnen sprechen, ihnen zuhören, auf welche Art und Weise sie ein Beratungsgespräch gestalten etc. (vgl. ebd.: 98f.).

Der vielfach von Diskussionsteilnehmer*innen geäußerten Ohnmacht und Hilflosigkeit aufgrund der Eigenwahrnehmung als machtlos, wird bei maiz mit der Überzeugung begegnet, durch das eigene Verhalten und die eigenen Handlungen koloniale Kontinuitäten zumindest unterbrechen zu können (vgl. ebd.: 97f.). Konkret zeigt sich dies etwa im Versuch, im Zuge von Beratungen das Widerstandspotential von Personen zu aktivieren (vgl. ebd. GD2 TN2 Z: 263f., 266). Mit Blick auf diese Intervention wird deutlich, dass im Verein maiz Beratungsarbeit nicht nur als soziale, sondern auch als politische Arbeit definiert wird. Diese Perspektive zielt nicht auf die Selbstermächtigung einzelner Personen ab, sondern stellt grundsätzlich kolonial geprägte Ungleichheitsverhältnisse in Frage. Das Ziel liegt somit in der Veränderung ungerechter Gesellschaftsverhältnisse. Ähnlich wie Kritische Soziale Arbeit, konzentriert sich maiz somit auf die gesellschaftlichen Bedingungen und Strukturen von hegemonialen Wissensbeständen (vgl. ebd.: 97, vgl. Bettinger 2013b: 340).


5.3 Über die Notwendigkeit der Reflexion (von Machtverhältnissen)

Um epistemische Gewalt in der Praxis der Sozialen Arbeit zu reduzieren, ist permanente Selbstreflexion sowie Reflexion in der Gruppe notwendig. Diese Überzeugung teilen nahezu alle Diskussionsteilnehmer*innen (vgl. Grill 2019: 99, 102). In der Gruppendiskussion mit maiz wird ausführlich darauf eingegangen, wie eine umfassende Reflexion der eigenen Praxis gestaltet werden kann. Dass Reflexion einen hohen Stellenwert im Verein einnimmt, verdeutlicht die Herausgabe eines Buches zu Pädagogischer Reflexivität in der Basisbildung (2011) durch maiz. Reflexivität wird darin anschließend an Paul Mecherils Konzept einer pädagogischen Reflexivität als „professionelle reflexive Haltung innerhalb eines reflexiven professionellen Feldes“ (maiz 2011: 6) verstanden, die über individuelle Reflexion hinausgeht. Gegenstand dieser Reflexivität sind nicht primär individuelle Pädagog*innen, „sondern das im pädagogischen Handeln und Deuten maskierte erziehungswissenschaftliche, kulturelle und alltagsweltliche Wissen (zum Beispiel über die ‚Migrant_innen‘)“ (Mecheril 2010: 187, zit.n. maiz 2011: 6). Reflexivität erfordert demnach die Notwendigkeit, vorhandenes oder nicht bewusstes Wissen über Migrant*innen, dass dazu beiträgt, diese als andere festzuschreiben oder zu diskriminieren, zu reflektieren (vgl. maiz 2011: 7).

Wer, wie wahrgenommen und wem, wie begegnet wird, ist, so eine Teilnehmerin der Gruppendiskussion mit maiz, zurückzuführen auf koloniale Wissensbestände, die Menschen weiterhin anhand bestimmter Merkmale wie etwa Herkunft, Hautfarbe und Sexualität einteilen (vgl. ebd.: 73, 102). Koloniale Machtverhältnisse sind somit keineswegs Teil einer längst vergangenen Geschichte, sondern wirken nach wie vor fort. Sie beeinflussen noch immer, welche Person als wissend, als Recht und Wahrheit besitzend wahrgenommen wird, und welche nicht, welche somit als Subjekt gilt und welche als Objekt, wie eine Teilnehmerin betont (vgl. Grill 2019: GD2 TN2 Z: 49–53).

Für die Teilnehmerinnen der Gruppendiskussion mit maiz ist darum diese kritische Hinterfragung und Beschäftigung mit Theorien unerlässlicher Bestandteil der eigenen Arbeit. Als wesentlich für die eigene Praxis beschreibt eine Teilnehmerin die gemeinsame Reflexion von Theorie, Praxis und Emotionen (vgl. ebd.: GD3 TN3 Z: 529-533). Diese umfassende Reflexion ermöglicht es, so die Teilnehmerinnen, sich intensiv mit den eigenen Emotionen auseinanderzusetzen, sowie die eigene Praxis der Sozialen Arbeit vor dem Hintergrund theoretischer Überlegungen zu reflektieren. Um einen sicheren Raum zu schaffen, ist es den Teilnehmerinnen zufolge notwendig, dass die Reflexion ohne moralischen Fingerzeig stattfindet. Stattdessen soll die Reflexion in dem Bewusstsein stattfinden, dass wir alle durch unsere Sozialisation und Bildung wesentlich von einem epistemisch gewaltförmigen System geprägt wurden und dadurch bestimmtes Wissen inkorporiert haben. An dieser Stelle kommt die Macht, eigene Entscheidungen zu treffen, ins Spiel: Wir als Sozialarbeiter*innen können uns dafür entscheiden, in gestatteter Ignoranz5 zu verharren, die eigene Machtposition und persönlichen Privilegien zu ignorieren und so weiterhin (unbewusst) epistemische Gewalt auszuüben. Wir haben aber auch die Möglichkeit, uns mit Machtverhältnissen und eigenen Vorurteilen kritisch und selbstreflexiv auseinanderzusetzen und dadurch immer wieder aufs Neue zu probieren, epistemischer Gewalt in der eigenen Sozialarbeitspraxis entgegenzuwirken(vgl. ebd.: 73, 102).


6. Conclusio

Im Artikel wurde aufgezeigt, dass Soziale Arbeit seit Anbeginn ihrer Entstehung in epistemisch gewaltförmige Macht- und Herrschaftsverhältnisse verstrickt ist und diese auch in ihrer Praxis, im direkten Kontakt mit Menschen, reproduziert. Epistemologie nimmt in der Sozialarbeitspraxis eine zentrale Bedeutung ein. Jegliches sozialarbeiterisches Handeln orientiert sich an jener Epistemologie, die ihren Wissensbeständen zugrunde liegt: entweder werden Wissen, Werte und Normen als objektiv fundiert verstanden, als absolut und unveränderbar oder als untrennbar mit Macht- und Herrschaftsverhältnissen verbunden, als davon geprägt und geformt und deshalb einer Hinterfragung bedürfend. Epistemologische Annahmen üben enormen Einfluss auf die Ausgestaltung von Definitionen, Wissen, Normen und Werten aus. Wie sich in der Analyse der Gruppendiskussionen gezeigt hat, beeinflussen diese auf der Definitionsebene angesiedelten Überzeugungen, welche Entscheidungen wir treffen und wie wir handeln. Unser Handeln basiert demnach bei Weitem nicht allein auf sozialarbeiterischen Theorien, sondern ist geprägt von unseren eigenen Vorstellungen und Ideen, beeinflusst von unseren Erfahrungen, unserer Erziehung und Sozialisation. Aus diesem Grund ist es unabdingbar, diese immer wieder kritisch und umfassend in der Verbindung von Theorie-Praxis-Emotionen zu reflektieren. Nur so wird es möglich, die eigene Macht in diesem von epistemischer Gewalt geprägten System wahrzunehmen, und epistemische Gewalt in den eigenen Handlungen und der eigenen sozialarbeiterischen Praxis zu reduzieren.


Verweise
1 maiz ist „ein unabhängiger Verein von und für Migrantinnen mit dem Ziel, die Lebens- und Arbeitssituation von Migrantinnen in Österreich zu verbessern“ (maiz o.J.). Neben dem Engagement für die soziale und rechtliche Besserstellung von Migrantinnen greift maiz aktiv in gesellschaftliche Debatten um Migration sowie (Anti-)Rassismus ein. Die Aktivitäten des seit 1994 bestehenden Vereins umfassen Beratung, Bildungsangebote, öffentliche Aktionen, politische Kulturarbeit sowie wissenschaftliche Forschungsprojekte (vgl. Araujo 2010; maiz o.J.).
2 Ich verwende den Begriff postkoloniale Theorien im Plural, da unter dem Etikett Postkolonialismus unterschiedliche Theoretiker*innen subsumiert werden, „die sich zudem in einem kontinuierlichen Schlagabtausch zu befinden scheinen“ (vgl. Castro Varela/Dhawan 2015: 12).
3 Im vorliegenden Artikel schreibe ich weiß kursiv, um zu verdeutlichen, dass weiß und Schwarz als soziale und politische Konstruktionen zu verstehen sind. Schwarz und weiß sind demnach keine Hautfarben, sondern beschreiben die Position von Menschen als diskriminiert oder privilegiert in einer Gesellschaft, die durch Rassismus geprägt ist. Während Schwarz als emanzipatorische Selbstbezeichnung Schwarzer Menschen groß geschrieben wird, um dadurch den Widerstandscharakter des Wortes zu betonen, beschreibt weiß eine dominante Position in der Gesellschaft, die meist nicht thematisiert wird (vgl. quix 2016: 92).
4 Im vorliegenden Artikel verwende ich den in der Sozialen Arbeit gängigen Begriff Klient*in nicht, da die Gefahr besteht, dass die Subsumierung von Personen unter diesen Terminus die ohnehin vorhandenen Machtasymmetrien zwischen ‚helfenden‘ Sozialarbeiter*innen und als ‚hilfsbedürftig‘ wahrgenommenen Personen verstärkt. Zudem kann der Terminus Klient*in dazu beitragen, dass eine Person ausschließlich unter dem Blickwinkel ihrer ‚Hilfsbedürftigkeit‘ wahrgenommen und so auf ihr Klient*innen-Dasein reduziert wird.
5 Der von Gayatri Spivak (1999) geprägte Begriff der gestatteten Ignoranz impliziert, dass Privilegien meist nicht als solche erkannt werden, da sie die Welt so strukturieren, dass sie für diejenigen, die von ihnen profitieren, unsichtbar bleiben. Wenn eigene Privilegien und Vorteile nicht als solche erkannt werden, besteht die Gefahr, dass die Erfahrungen marginalisierter Personen nicht wahrgenommen werden. Viele privilegierte Personen partizipieren somit an der Unterdrückung von marginalisierten Personen, ohne sich dessen bewusst zu sein (vgl. Pease 2015: 96–99).


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Über die Autorin


Verena Grill, BA MA
verena.grill@gmx.at

Sozialarbeiterin, Masterstudium der Internationalen Entwicklung an der Universität Wien. Von 2014 bis 2019 in einer sozialpädagogischen Wohngemeinschaft und diversen Beratungsstellen in Wien tätig. Derzeit wohnhaft in den Niederlanden, berufstätig an einer Fachhochschule im administrativen Bereich. Verbunden mit einer Selbstorganisation von geflüchteten Menschen in Arnheim. Interessiert an Austausch und Vernetzung mit (selbst)kritischen Sozialarbeiter*innen.