soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 24 (2020) / Rubrik „Sozialarbeitswissenschaft“ / Standort Wien
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/view/700/1252.pdf


Marion Johanna Neunkirchner:

Multiperspektivische Fallarbeit in der Untersuchungshaft und Deliktverarbeitung bei Gewalt in Intimpartnerschaften


1. Der Anstieg häuslicher Gewalt während des Corona-Lockdowns

Im Frühjahr 2020 sind die registrierten Betretungsverbote während des Lockdowns im Zuge der Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus in Österreich leicht gestiegen. Österreichweit gab es im Februar 879 ausgesprochene Annäherungs- und Betretungsverbote, im März 972 und im April bereits 1077, ein leichter Rückgang kann im Mai mit 1033 Betretungsverboten verzeichnet werden.1 Verschiedene Berichte und unterschiedliche Zahlen dazu gibt es auf europäischer Ebene, wie im Rahmen des Projekts IMPRODOVA erhoben wurde.2 In Slowenien, Frankreich, Ungarn und, gegen Ende des Lockdowns, auch in Schottland wurde ein Anstieg an polizeilich eingegangenen Notrufen und registrierten Fällen verzeichnet (vgl. Brooks-Hay/Burman/Bradley 2020).

Die Zunahme von Betretungsverboten und Notrufen lässt jedoch nicht eindeutig auf einen Anstieg häuslicher Gewalt schließen. Sie spricht viel eher für eine Erhöhung der registrierten Straftaten, was auf vermehrte Anzeigen und eine Verkleinerung der Dunkelziffer zurückzuführen sein kann (vgl. dazu auch Leonhardmair/Kersten 2020). Die Erhebungen lassen auch keine Unterscheidung von Gewalt in Intimpartnerschaften und Gewalt zwischen anderen Familienmitgliedern zu. Die sorgfältige Interpretation dieser Daten ist daher wesentlich, um Rückschlüsse auf mögliche Auswirkungen des Lockdowns auf Gewalt in Familien zu ziehen und Interventionen der Sozialen Arbeit daran zu orientieren.3

Das Projekt IMPRODOVA beschäftigt sich seit 2018 mit der Verbesserung von Verantwortlichkeiten im Bereich der High Impact Domestic Violence (HIDV). Als Hochrisikofälle werden insbesondere Situationen in Intimpartnerschaften betrachtet, deren Gewalteskalation zu Tötungsdelikten führen kann. Das Risiko für eine Eskalation wird vor allem durch Professionist*innen der Polizei, Medizin und Sozialen Arbeit eingeschätzt. In Fällen, in denen ein hohes Risiko für eine tödliche Gewalteskalation besteht, finden häufig auch Inhaftierungen statt. Inhaftiert wird jedoch sonst nur ein geringer Teil jener, die eines Delikts im Bereich häuslicher Gewalt verdächtigt werden. So zeigt eine Studie aus der Schweiz von Julien Chopin und Mercelo Aebi (2020) anhand der sogenannten attrition rate (Ausscheidungsrate), dass die wenigsten aller registrierten Delikte häuslicher Gewalt den justiziellen Weg zur Untersuchungshaft bis zum Urteil durchlaufen.4 Die meisten Verfahren werden bereits durch polizeiliche und staatsanwaltschaftliche Interventionen erledigt oder als Folge einer zurückgezogenen Aussage des Opfers eingestellt.5 Opferschutzeinrichtungen in Österreich berichten in diesem Zusammenhang ebenfalls von ausbleibenden Urteilen, da Verfahren häufig wegen fehlender Beweismittel eingestellt werden (vgl. dazu Wiener Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie 2020; Verein Wiener Frauenhäuser 2018: 52; AÖF 2019: 3).

In Österreich muss laut §173 der Strafprozessordnung einer von drei Haftgründen für die Verhängung einer Untersuchungshaft vorliegen: die Tatbegehungsgefahr, die Fluchtgefahr und die Verdunkelungsgefahr (vgl. StPO §173). Diese liegen nicht bei allen Delikten im Bereich häuslicher Gewalt vor. Nur ein kleiner Teil aller Fälle findet somit Eingang in den Strafvollzug. Die Fallarbeit konzentriert sich in diesem Feld daher auf eine spezifische Täter*innengruppe, die im Regelfall bereits Risikofaktoren für wiederholte Tathandlungen aufweist und daher als Hochrisikofall gelten kann.

Den Ausgangspunkt für die im Folgenden beschriebene multiperspektivische Fallarbeit in Untersuchungshaft bildet eine den Gefährder*innen zur Last gelegte Tathandlung im Bereich der Intimpartner*innengewalt, die im Zuge der Untersuchungshaftverhängung mit verschiedenen Risikofaktoren verbunden ist. Der Fokus des Projekts IMPRODOVA, der sich auf die Verbesserung der Verantwortlichkeiten in Hochrisikofällen richtet, konzentriert sich dabei auf Kooperation, Interventionsplanung und Risikoeinschätzung der Sozialarbeiter*innen im Strafvollzug. Multiperspektivische Fallarbeit ist eine passende Methode für die Soziale Arbeit, um Interventionen bei Intimpartner*innengewalt zu planen, welche über die Einzelfallhilfe hinausgehen und die interdisziplinäre Kooperation miteinbeziehen. Die konzeptionellen Überlegungen zur multiperspektivischen Fallarbeit basieren auf Burkhard Müllers Ausführungen in Sozialpädagogisches Können: Ein Lehrbuch zur multiperspektivischen Fallarbeit (2017).

Ziel des Beitrags ist es zu zeigen, inwiefern die Inhalte des Projekts in Bezug auf die interdisziplinäre und risikoorientierte Zusammenarbeit in Fällen von Gewalt in Intimpartnerschaften mit dem Handlungs- und Betreuungsauftrag der Sozialarbeiter*innen in der Untersuchungshaft vereinbar sind. Die sozialarbeiterischen Interventionen werden daher nach der Betrachtung des Falls (Fall von, für und mit) in Bezug zur Deliktverarbeitung als mögliche risikoorientierte Intervention während der Untersuchungshaft und der damit verbundenen Risikoeinschätzung gesetzt.6 Mit dem Begriff Deliktverarbeitung wird im Folgenden auf die Methode nach Klaus Mayer, Ursula Schlatter und Patrick Zobrist (2007) aus dem RISK-Programm (Risikoorientiertes Interventionsprogramm für straffällige KlientInnen) rekurriert, die im Bereich der Täter*innenarbeit des Vereins NEUSTART seit einigen Jahren regulär angewendet wird.


2. Multiperspektivische Fallarbeit in der Untersuchungshaft

Multiperspektivische Fallarbeit ermöglicht es, die Komplexität von Fällen häuslicher Gewalt in der Haft zu erfassen. Müller (2017) unterscheidet drei Kategorien zur Betrachtung einer Fallstruktur: „Fall von“, „Fall für“ und „Fall mit“. „Fall von“ meint die Einbettung einer bestimmten Problemlage in einen übergeordneten Kontext. Dabei kann es sich allgemein um einen „Fall von“ häuslicher Gewalt handeln oder, spezifischer, um einen „Fall von“ Sucht, existenziellen Krisen und destruktiven Konfliktlösungsstrategien. Ist die Problematik des Falles bestimmt, stellt sich in der weiteren Betrachtung nach Müller die Frage, für wen häusliche Gewalt ein relevanter Fall ist. Bei Festnahme der Täter*innen ist sie vor allem ein „Fall für“ die Polizei und gegebenenfalls für die Bewährungshilfe, für die Kinder- und Jugendhilfe und für Opferschutzeinrichtungen. Im Fall einer Untersuchungshaftverhängung ist häusliche Gewalt immer ein „Fall für“ den Strafvollzug und wird damit zum „Fall für“ den Sozialen Dienst und für andere Betreuungsdienste und Berufsgruppen der Justiz.

Zuletzt betrachtet die Kategorie „Fall mit“ den Kontakt zu den Klient*innen und die darauf aufbauenden Interventionen während der Untersuchungshaft. Im Zwangskontext der Haft ist dieser Erstkontakt durch das Zugangs-Anamnesegespräch abgedeckt. Die darauffolgenden sozialarbeiterischen Interventionen richten sich kurzfristig auf die Bearbeitung akuter materieller und psychosozialer Krisen, die aufgrund der Inhaftierung entstehen, und mittelfristig auf die Begleitung der Inhaftierten bis zur Hauptverhandlung. Sprechen Klient*innen bei der Inhaftierung über ihr Delikt, können Interventionen mit der Deliktverarbeitung bereits in dieser Phase geplant werden. Insbesondere das Erzählen der Deliktgeschichte kann zu diesem Zeitpunkt bereits auf einen Veränderungsprozess im Sinne der Verantwortungsübernahme hindeuten.

Die Kategorien „Fall von“, „Fall für“ und „Fall mit“ sind stets miteinander verbunden und nicht als linearer Ablauf einzelner Handlungspraktiken zu verstehen (vgl. Müller 2017: 127). Sie werden in den folgenden Kapiteln bei der Fallbearbeitung von Gewaltdelikten in Intimpartnerschaften angewandt. So zeigt sich mithilfe der multiperspektivischen Fallarbeit, dass bereits während der Untersuchungshaft mittels Deliktverarbeitung interveniert werden kann, um Risiken in diesem Bereich abschätzen zu können und frühzeitig zur künftigen Straffreiheit der Täter*innen beizutragen.


2.1 Häusliche Gewalt identifizieren: „Fall von“ Gewalt in Intimpartnerschaften

Häusliche Gewalt wird im österreichischen Strafrecht nicht als eigenes Delikt definiert, weshalb die Problemdefinition und Identifizierung durch die jeweiligen Professionen anhand des Einzelfalls stattfinden. Anders verhält sich dies in Schottland, wo Domestic Abuse seit Beginn 2019 als Offizialdelikt definiert wird, was die Problemdefinition weitestgehend vereinheitlicht hat und die Implementierung von eigens zuständigen Polizeibeamt*innen sowie spezialisierten Gerichten zur Folge hatte (vgl. Brooks-Hay et al. 2020; IMPRODOVA 2020: 178–183).

Im Allgemeinen bezieht sich familiäre Gewalt auf Gewalt zu anderen Familienmitgliedern. Sie ist daher nicht auf partnerschaftliche Beziehungen beschränkt und muss auch nicht im gemeinsamen Haushalt passieren. Gewalt, die im häuslichen Kontext stattfindet, umfasst häufig Taten innerhalb partnerschaftlicher Beziehungen, die (meistens) im selben Haushalt gelebt werden, sogenannte Intimate Partner Violence (IPV). In den Interviews zeigt sich, dass die beiden Begriffe der häuslichen und familiären Gewalt von den befragten Professionist*innen häufig synonym verwendet werden.

Zwischen März und Juli 2019 wurden im Zuge des Projekts IMPRODOVA insgesamt 41 Leitfadeninterviews in drei Regionen Österreichs mit Beschäftigten im Bereich der regionalen Verwaltung, der Polizei, Medizin und Sozialen Arbeit geführt (vgl. IMPRODOVA 2020: 12–34). Aus diesen Interviews geht hervor, dass sich die Berufsgruppen an ihrem öffentlichen Auftrag und ihrer Berufserfahrung orientieren, um häusliche Gewalt zu identifizieren. Die variierende Verwendung in den verschiedenen Berufskontexten führt zu einer breiten Definition des Begriffs (siehe dazu auch Steingen 2020: 22). Die folgenden Definitionen von häuslicher Gewalt werden entsprechend den Bereichen der Polizei, Sozialen Arbeit und Medizin zugeordnet.

Die Formen der Gewalt, mit denen die Berufsgruppen konfrontiert werden, sind vielfältig und reichen von länger andauernder psychischer Gewaltausübung durch Stalking, Isolation und Kontrolle bis hin zur fortgesetzten physischen Gewaltausübung und Cybergewalt (vgl. Verein Wiener Frauenhäuser 2018: 52). Für die Polizei bewegt sich häusliche Gewalt meist im Bereich der IPV. Häufig wird von den Interviewpartner*innen von einem „typischen“ Betretungsverbot berichtet, welches gegen einen Mann ausgesprochen wird, der im Rahmen eines Streits gewalttätig geworden ist oder eine Gewalttat angedroht hat. Auch wird von Erlebnissen erzählt, bei denen die Frau gegenüber dem Mann gewalttätig wurde oder die Schuldhaftigkeit einer Person in der Situation vor Ort nicht eindeutig zu erkennen war. Solche Situationen werden in der Literatur als Situational Couple Violence beschrieben, in denen die Gewalt von beiden Geschlechtern ausgeübt wird und sich nur in bestimmten Situationen abspielt, im Gegensatz zur fortgesetzten Gewaltausübung des Coercive Control Behaviours (vgl. Kelly/Johnson 2008).

Von der Polizei wird zudem von Fällen berichtet, in denen innerfamiliäre Gewalt generationenübergreifend stattfindet. In diesen Fallerzählungen wird Gewaltausübung mit Familien in Zusammenhang gebracht, in denen traditionell-patriarchale Geschlechterrollen gelebt werden, die mit den Grundrechten, die im Zuge der Frauenbewegung erkämpft wurden, in Konflikt stehen. Ein Beispiel dafür ist die Zwangsheirat. Es handelt sich bei polizeilich registrierten Fällen auch um solche, bei denen die Gewalt bereits eskaliert ist und keine weitere polizeiliche Intervention zum Schutz des Opfers getroffen werden kann, da bereits ein Mord oder Totschlag geschehen ist.7 Zur Gewalteskalation neigen Partner*innen auch in der Separation-Instigated Violence. Diese Form der Partner*innengewalt findet in Zusammenhang mit dem Ende einer Intimpartnerschaft statt und wird eher von Männern verübt. Sowohl Polizist*innen als auch Mitarbeiter*innen im Opferschutz und in der Täter*innenarbeit weisen auf die Trennung als wesentlichen Risikofaktor für eine Gewalttat hin.

Berichte einer Interviewpartnerin aus dem medizinischen Bereich beschreiben im Gegensatz dazu Gewalt vor allem dort, wo Angehörige ihre pflegebedürftigen Familienmitglieder versorgen. Als Gründe für Gewalt in diesem Kontext werden vor allem die Überforderung und Hilflosigkeit im Umgang mit den zu pflegenden Personen genannt. Häusliche Gewalt wird in Krankenhäusern über die Opferschutzgruppe hauptsächlich bei der Versorgung von Patient*innen in der Notaufnahme bemerkt. Sie kann aber auch auf der Abteilung für Kinder- und Jugendheilkunde sowie auf anderen Stationen erkannt werden, wenn beispielsweise eine Untersuchung auf sexuelle Gewalt hindeutet oder Patient*innen psychosomatische Beschwerden angeben und den Krankenhausaufenthalt trotz erfolgter Genesung nicht beenden wollen.

Der Fokus auf Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist im Opferschutzbereich am stärksten vertreten. Die Unterstützungsleistung richtet sich an weibliche und minderjährige Opfer. Sozialarbeiter*innen in Frauenhäusern, in Gewaltschutzzentren, in der Kinder- und Jugendhilfe sowie in anderen Einrichtungen des Opferschutzes ergreifen Partei für die weiblichen Opfer und versuchen auf diese Weise weitere Gewalttaten des Gefährders zu unterbinden. Kelly und Johnson (2008: 482) beschreiben, dass etwa 79 Prozent aller Klientinnen in Frauenhäusern den Gewalttyp der Coercive Control Violence erfahren haben. Ihre Beziehungen sind durch eine langfristige Gewalteinwirkung geprägt, die mit der Ausübung von Macht und Kontrolle über die benachteiligte, verängstigte Partnerin einhergeht. Angst entsteht auch vor den Folgen einer Trennung, die wiederum zu Separation-Instigated Violence führen könnte. Die Arbeit mit diesen beiden Klientinnen-Gruppen wirkt sich auf das Problemverständnis von häuslicher Gewalt aus. Sie wird von den genannten Einrichtungen als überwiegend männliche Gewalt verstanden, die sich auf Intimpartnerinnen richtet, wodurch andere Konstellationen familiärer Gewalt weniger im Fokus stehen.

In der opferorientierten Täter*innenarbeit sind Sozialarbeiter*innen und andere Professionen meist mit männlichen Gefährdern konfrontiert. Die Opferorientierung in der Deliktverarbeitung soll zur Verantwortungsübernahme der Täter*innen und zu deren Veränderung führen, um so das Opfer zu schützen. Da es das Delikt der häuslichen Gewalt im österreichischen Strafgesetzbuch nicht gibt, liegt die Identifizierung des Problems bei der betreuenden Person. Insbesondere Delikte der fortgesetzten Gewaltausübung, des Stalkings bzw. der beharrlichen Verfolgung, Freiheitsentzug, Delikte gegen die sexuelle Integrität sowie Körperverletzung und Mord sind Indikatoren.

Die vielfältigen Formen häuslicher Gewalt finden ebenso Eingang in den Berufsalltag der Strafvollzugsbediensteten wie jene spezifischen der Intimate Partner Violence. Diese Formen gehen jedoch meist noch mit anderen Aspekten und Dynamiken einher und wären in Bezug auf die Fallarbeit in der Untersuchungshaft daher gesondert zu betrachten. Um das Anwendungspotential der multiperspektivischen Fallarbeit in der Untersuchungshaft zu beschreiben, wird im Folgenden die Bearbeitung von Intimate-Partner-Violence-Fällen fokussiert. Die Betrachtung des „Fall von“ unterstützt Praktiker*innen dabei, die verschiedenen Formen der Intimpartner*innengewalt wahrzunehmen und spezifische Problemkonstellation zu identifizieren. Für die Interventionsplanung kann die Vielzahl an Gewaltdelikten den Kategorien der IPV anhand ihrer spezifischen Eigenschaften zugeordnet werden. Das Wissen über die Spezifika einer Coercive-Controlling-IPV im Unterschied zu einer Situational Couple Violence sowie einer Separation-Instigated Violence kann für den Umgang mit Angehörigen sensibilisieren und die weitere Interventionsplanung in der Opfer- und Täter*innenarbeit strukturieren.


2.2 Ein „Fall für“…die Täter*innenarbeit

Häusliche Gewalt hat mehrere sogenannte entrypoints in das Helfer*innensystem. So werden jene Organisationen bezeichnet, bei denen ein Fall häuslicher Gewalt registriert wird. Neben der polizeilichen Registrierung kann dies ein Verdacht im Krankenhaus als Folge einer ärztlichen Untersuchung sein oder die Kontaktaufnahme des Opfers oder einer*s Angehörigen bei einer Opferschutzeinrichtung. Neben der Untersuchungshaft und der unbedingten Freiheitsstrafe, können strafrechtliche Konsequenzen häuslicher Gewalt die Betreuung des Vereins NEUSTART im Rahmen der Bewährungshilfe sein, der Tatausgleich oder ein Anti-Gewalt-Training.8

Ein „Fall von“ Gewalt in Intimpartnerschaften wird nach Festnahme der Gefährder*innen durch die Polizei (oder auf Selbstantritt von bereits rechtskräftig verurteilten Straftäter*innen) schließlich auch ein „Fall für“ die Betreuungsdienste und andere Berufsgruppen im Strafvollzug. Als Folge von Interventionen der Sozialarbeiter*innen können darüber hinaus folgende Organisationen ebenfalls temporär eingebunden sein: Arbeitsmarktservice, Pensionsversicherungsanstalten, Krankenversicherungsträger, Therapieeinrichtungen. Polizei, Staatsanwaltschaft und Haftrichter*innen sind im Kontext der Untersuchungshaft hingegen immer am Fallverlauf beteiligt. Im weiteren Verfahren kommt die Zuständigkeit der Hauptverhandlungsrichter*innen und anderer gerichtlicher Instanzen hinzu. Bis dahin richten sich die Interventionen der Sozialarbeiter*innen auf die Abklärung der unmittelbaren Haftsituation. Inhaftierte erhalten psychosoziale Unterstützung und Hilfestellung, um ihre materielle Absicherung und ihre gesundheitliche Situation in den Hafttagen aufrecht zu erhalten. In den meisten Fällen erfordert das eine hohe Betreuungsintensität während der Untersuchungshaft, was zeit- und ressourcenintensiv ist. Die Intensivbetreuung einzelner Inhaftierter ermöglicht jedoch auch den Einstieg in eine tragfähige Betreuungsbeziehung und Deliktverarbeitung.

Kann ein Delikt von Gewalt in Intimpartnerschaften erkannt werden, so erfordert die Abklärung besonderes Feingefühl gegenüber den Beschuldigten sowie gegenüber den Angehörigen. Ein aufmerksamer Umgang vor allem mit dem Nichtwissen ist von hoher Bedeutung, um problematische sowie konflikthafte familiale Beziehungsverhältnisse rechtzeitig zu erkennen. Ist beispielsweise das Anlassdelikt eine gefährliche Drohung, kann die Recherche nach dem Opfer sowie nach ausgesprochenen Betretungs- und Annäherungsverboten im Vorfeld der Tat Hinweise auf einen möglichen häuslichen Kontext geben. So ist auch die Information darüber, dass eine Opferschutzeinrichtung involviert ist, bereits ein Hinweis auf einen „Fall von“ IPV. Der Kontakt zu einer Opferschutzeinrichtung muss jedoch nicht immer vorhanden sein, da das Opfer deren Unterstützung auch ablehnen kann. Hier ist es förderlich, danach zu fragen, um weitere Interventionen auch in Hinblick auf die Angehörigenberatung zu planen.

Interdisziplinäre Zusammenarbeit mit dem psychologischen Dienst, den Therapeut*innen, den Psychiater*innen und anderen Strafvollzugsbediensteten kann ebenfalls bei der Identifizierung des Problems helfen. Die Perspektive „Fall für“ kann die Praktiker*innen während der Untersuchungshaft dabei unterstützen, die Beteiligung anderer Organisationen abzuklären, deren konkreter Fallauftrag bisher noch nicht bekannt ist. Der Austausch mit externen Kooperationspartner*innen erweist sich für die Fallbearbeitung als hilfreich. Er ist im Sinne des Datenschutzes jedoch nicht immer einwandfrei möglich. Die Task Force Strafrecht fordert daher in ihrem Bericht 2019 die Vernetzung bei häuslichen Gewaltdelikten und die Aufhebung der Verschwiegenheitspflichten, „wenn und soweit dies zur Bekämpfung einer ernstlichen und erheblichen Gefährdung des Lebens oder der Gesundheit anderer erforderlich und verhältnismäßig ist“ (Task Force Strafrecht 2019: 10). Im Rahmen der Untersuchungshaft stellt sich die Frage, inwieweit diese Forderung auch den Strafvollzug betreffen kann. Beispielsweise ist die Information über vorangegangene Betretungsverbote inhaftierter Gefährder*innen für die Problemidentifikation wichtig. Die erhebliche Gefährdung potenzieller Opfer ist jedoch nicht für den Zeitraum der Inhaftierung gegeben, sondern für die Zeit nach einer Enthaftung, weshalb die Zusammenarbeit und Nachbetreuung Teile der Interventionsplanung sein sollten.


2.3 Interventionen planen: „Fall mit“ Deliktverarbeitung

Interventionen in der Betreuung der Untersuchungshaft können anhand der Kategorie „Fall mit“ geplant werden. Sie sind aufgrund der Inhaftierung der Klient*innen in einem deutlichen Zwangskontext eingebettet. Die Verhängung der Untersuchungshaft kann in Fällen von Intimate Partner Violence in Zusammenhang mit dem Schutz des Opfers vor den Gefährder*innen stehen. In diesem Fall liegt der Grund der möglichen Tatbegehung nach §173 StPO, Abs. 2 vor. Die Inhaftierung wird also mit dem Risiko einer neuerlichen Straftat begründet, was auch in den Debatten über die Sicherungshaft auf Kritik stößt (vgl. dazu derStandard 2019; Kurier 2020). Zudem wird so die Intervention während der Untersuchungshaft in Richtung des Risk-Need-Responsivity-Modells (vgl. Andrews/Bonta/Wormith 2011) und des von Mayer et al. (2007) entwickelten Programms RISK gelenkt.

Bei der Betrachtung des „Fall mit“ wird die Perspektive auch auf den Interventionsrahmen ausgeweitet. Bei der Haftaufnahme ist die erste Intervention zu Beginn der Betreuung die Zugangsanamnese der Sozialarbeiter*innen mit den Inhaftierten. Darauf aufbauende Interventionen bei Fällen von Gewalt in Intimpartnerschaften können Clearing-Gespräche mit Angehörigen sein sowie motivationale Interventionen, die Vermittlung des Gefangenen zu Anti-Gewalt-Trainings und weiterführenden Therapiemaßnahmen in der späteren Strafhaft. Mittel- und langfristige Interventionen sind im Sinne der Zwecke des Strafvollzugs (vgl. §20 StVG) auf die Bearbeitung des Delikts zur Rückfallvermeidung gerichtet, wodurch das Risiko erneut in den Fokus gerät. Aufgrund der Risikoorientierung in Bezug auf die Rückfallgefahr und die vorliegenden Haftgründe sowie den damit verknüpften Zwecken des Strafvollzugs ist es naheliegend, eine Risikoabklärung und strukturierte Deliktverarbeitung bereits während der Untersuchungshaft zu planen und zu beginnen.

Vom Verein NEUSTART wird die Deliktverarbeitung seit einigen Jahren standardisiert mit den Täter*innen in der Bewährungshilfe und Haftentlassenenhilfe angewandt (vgl. Kufner/Reidinger 2016: 287). Diese Intervention beginnt jedoch erst nach dem Urteil oder zu einem späteren Zeitpunkt, kurz vor der Entlassung. Ausgenommen davon sind Klient*innen, die bereits vor und während der Untersuchungshaft von der Bewährungshilfe betreut werden. Die multiperspektivische Fallarbeit ermöglicht an dieser Stelle, die Deliktverarbeitung mit den Klient*innen bereits zu einem früheren Zeitpunkt zu beginnen und eine dementsprechende Fallübergabe zur Weiterbetreuung zu planen. Im Weiteren werden daher die Möglichkeiten zur Anwendung der Deliktverarbeitung während der Untersuchungshaft unter Berücksichtigung der damit verbundenen Kooperation zwischen den Betreuungsdiensten und dem Verein NEUSTART diskutiert.

Die Deliktverarbeitung nach Mayer et al. (2007) ist grundsätzlich als risikoorientiertes Programm (RISK) entwickelt worden. Ziel ist es, das Risiko einer neuerlichen Straftat durch die Arbeit am Delikt mit den Klient*innen zu verhindern. Im Gegensatz zur Risikoorientierung können Erkenntnisse aus der Desistance-Forschung hilfreich sein, die Interventionen des Programmes ressourcenorientiert zu gestalten (vgl. Hofinger 2012). Eine Richtung der Desistance-Forschung geht von kognitiven Transformationsprozessen aus, die das Leben der Täter*innen dauerhaft positiv beeinflussen können. Andere Strömungen widmen sich verstärkt den sogenannten turning points wie z.B. der Geburt eines Kindes als einem Ereignis, welches das bisher kriminelle Leben einer Person nachhaltig verändern kann (vgl. Hofinger 2012: 6).

Am Beispiel der häuslichen Gewalt zeigt sich, dass Kinder zu Zeug*innen und Opfern werden und durch die Inhaftierung ihrer Eltern stets mitbetroffen sind (vgl. Amann/Neunkirchner 2020). Die Perspektive des Kindes einzunehmen, kann also die Bereitschaft der Täter*innen erhöhen, Verantwortung für ihre Handlungen zu übernehmen und sich dementsprechend langfristig zu verändern. Für diesen Veränderungsprozess benötigt es die Compliance der Täter*innen sowie deren Verantwortungsübernahme, um schließlich einen Handlungsplan entwickeln zu können (vgl. Hofinger 2016: 238f.). Während der Untersuchungshaft kann dem Modell zufolge bis zu diesem Handlungsplan gearbeitet werden. Die Umsetzung erfolgt jedoch weitestgehend nach der Haft, weshalb in Fällen der IPV intensiv mit der Haftentlassenenhilfe bzw. der Bewährungshilfe zusammengearbeitet werden muss. Müller (2017) weist darauf hin, dass Professionist*innen in der Interventionsplanung der multiperspektivischen Fallarbeit auch fragen sollten, für wen der Handlungsplan akzeptabel und zielführend ist. Je nach Fallkontext können auf dieser Grundlage die passenden psychosozialen Interventionen ausgehandelt werden.

Die multiperspektivische Fallarbeit legt nun folgende vier Prozessschritte für die Abklärung des Betreuungsbedarfs bei IPV während der Untersuchungshaft nahe: Anamnesegespräch, soziale Diagnose, Intervention und Evaluation. Im Anamnesegespräch werden Informationen zur Person und dem Delikt erhoben, es beinhaltet meist auch die Erzählung der gefangengenommenen Person zum Tathergang. Der Fokus liegt darauf, die erzählte Geschichte zu verstehen und die Person kennenzulernen. Anschließend kann eine soziale Diagnose stattfinden,9 im Zuge derer festgestellt wird, für wen welches Problem besteht. Die Problematik wird für die jeweilige Person definiert, wobei die Hilfeplanung bereits eingeschlossen ist. Dazu ist die Einschätzung der Klient*innen zu ihrer Situation vordergründig, die mittels Kommunikation und Beziehungsarbeit eingeholt wird (vgl. Müller 2017: 65f., 125–129). Beispielsweise kann bei Beschuldigten, denen eine gefährliche Drohung zur Last gelegt wird, das Problem weniger in der konflikthaften Beziehung zur*m Lebensgefährt*in liegen, sondern mehr im Suchtverhalten, da die Tat stets unter Alkoholeinfluss begangen wird. Die Diagnose wird dann anhand der Anamnese in Bezugnahme auf die Einschätzung der Klient*innen gestellt. Im genannten Beispiel wäre dies voraussichtlich die IPV, die sich aus der Alkoholproblematik der*s Beschuldigten ergibt. Die Anamnese kann zudem die lange Suchtgeschichte und eine Verbindung zu anderen kriminogenen Faktoren, die sich im Rahmen der Corona-Lockdown-Maßnahmen verstärkt haben, zeigen (z.B. Arbeitslosigkeit und damit verbundene Existenzängste).

Intervention und Evaluation bauen auf den hier gewonnenen Erkenntnissen auf, was sich im Rahmen der Diagnose als hilfreich für die weitere Betreuung erweist. Interventionen sollten berücksichtigen, für wen Hilfe geplant wird und wie diese erbracht werden kann (vgl. ebd. 97). Sie beziehen sich während der Untersuchungshaft unweigerlich auf die Gründe für die Haftverhängung (v.a. bei der Tatbegehungsgefahr) sowie auf die fallspezifische Umsetzung der Zwecke des Strafvollzugs im Sinne der Reintegration der Inhaftierten in die Gesellschaft. Bei IPV legt das Schutzbedürfnis des Opfers und das Risiko einer neuerlichen Tatbegehung die Deliktverarbeitung im Sinne der Rückfallprävention nahe.

Die Evaluation nach Müller geht über die geläufige Begrifflichkeit hinaus. Der Begriff umfasst in diesem Sinne nicht nur die Prüfung der Wirksamkeit eingesetzter Mittel im ökonomischen Sinn der Messbarkeit. Evaluiert werden vor allem Arbeitsabläufe unter Einbezug von Wertmaßstäben, an denen die Handlungen orientiert sind (vgl. ebd.: 102, 180). Aufgrund der normativen Bewertung einzelner Delikte, insbesondere im Bereich der IPV, ist die Reflexion der eigenen Werthaltung wesentlich, um professionelles Handeln in der Täter*innenarbeit zu evaluieren.


2.3.1 Compliance im Zwangskontext als Voraussetzung zur Zusammenarbeit

Da Inhaftierte den unmittelbaren Zwängen und Verpflichtungen der Haft unterliegen, wird folgend erörtert, wie sich eine Deliktverarbeitung in diesem Zwangskontext überhaupt gestalten lässt. Eine vertrauensvolle Atmosphäre im Betreuungssetting, die durch wertschätzende Kommunikation entstehen kann, ist eine günstige Bedingung für die Compliance der Täter*innen (vgl. Roessler 2012). Sofern Mitwirkungs- und Kooperationsbereitschaft gebildet werden, geht es um die Verantwortungsübernahme für das Tatgeschehen oder zumindest für einzelne Bereiche davon. Dafür ist die motivationale Ausgangslage der Klient*innen entscheidend und in den Zwangskontext eingebettet (vgl. Klug/Zobrist 2013: 17). Zwang muss dabei nicht per se ein Hindernis für die Compliance bilden, er kann sogar hilfreich sein, um Klient*innen zur Zusammenarbeit zu motivieren, und deren Veränderungsbereitschaft erhöhen (vgl. Conan 2007: 74).

Compliance ist die Voraussetzung für die Deliktverarbeitung und für alle Interventionen, die einen Veränderungsprozess der Klient*innen ansteuern. In der Deliktverarbeitung durch den Verein NEUSTART fließt die Verantwortungsübernahme der Täter*innen für das eigene kriminelle Handeln mit ein (vgl. Kufner/Reidinger 2016: 287). Die gerichtliche Weisung, Bewährungshilfe in Anspruch zu nehmen, bildet die Grundlage, mit der Deliktverarbeitung zu beginnen, um eine Resozialisierung zu bewirken. In der Untersuchungshaft gilt jedoch die Unschuldsvermutung für die Beschuldigten, weshalb die Betreuungsbeziehung einen anderen Rahmen hat, innerhalb dessen die Verantwortungsübernahme vor einer Verurteilung zu klären ist.


2.3.2 Verantwortungsübernahme der Beschuldigten vor dem Urteil

Die krisenhafte Situation der Haft kann die Reflexionsbereitschaft der Betroffenen fördern. In der Haft werden die Folgen der Tathandlung unmittelbar und intensiv verspürt. Dies begünstigt auch, die Diskrepanz zwischen dem eigenen Verhalten und den eigenen Werten zu erkennen, was die Veränderungsmotivation fördern kann (vgl. Miller/Rollnick 2004: 43) und damit die Bereitschaft, sich mit dem Geschehenen auseinanderzusetzen. Die Deliktverarbeitung kann daher bereits ab dem ersten Tag der Inhaftierung relevant für die Verantwortungsübernahme der Beschuldigten sein. Sie muss aus dieser lebensweltlichen Perspektive heraus nicht erst als Folge einer rechtskräftigen Verurteilung legitimiert werden.

Professionelle Betreuung während der Untersuchungshaft bietet die Möglichkeit, den erforderlichen Reflexionsprozess für eine Deliktverarbeitung strukturiert anzuleiten und nicht-kriminogene Handlungskompetenzen zu erarbeiten. Mögliche Komplikationen in der Verantwortungsübernahme bei Gewalt in Intimpartnerschaften können Rechtfertigungsstrategien von Seiten der Gefährder*innen sein und gegenseitige Abhängigkeitsverhältnisse der Beziehungspartner*innen, die sich mit entsprechender Schulung in den Gesprächen erkennen lassen (vgl. dazu Steingen 2020: 68–72). Im besonderen Fall der IPV gestaltet sich die Beziehung zwischen Täter*in und Opfer äußerst problematisch und diese ist daher unbedingt beobachtend zu begleiten. Vor allem bei einer Coercive-Control Behaviour Intimpartnerschaft kommt es vor, dass Opfer ihre Gefährder*innen trotz massiver Gewalttaten nicht verlassen. Die Vermittlung zu Opferschutzeinrichtungen kann die Betroffenen dabei unterstützen, sich aus einer derart gefährlichen Beziehung zu lösen (vgl. dazu Lamothe 2019).

Nach Mayer et al. (2007) ist die Deliktverarbeitung bis zur Umsetzung des Handlungsplans vorgesehen. Eine solche langfristige Betreuung ist aufgrund der eher kurzen Verweildauer der Klient*innen in der Untersuchungshaft in einem gerichtlichen Gefangenenhaus meist nicht möglich. Zudem ist die Umsetzung eines erarbeiteten Handlungsplans aufgrund der Bedingungen in Haft nur teilweise gegeben. Sofern also die Compliance und Verantwortungsübernahme der Beschuldigten bereits während der Untersuchungshaft gegeben ist und mit der Deliktverarbeitung begonnen werden kann, ist die Fallübergabe an die jeweiligen Strafgefangenenhäuser und externen Betreuungs- und Nachbetreuungseinrichtungen ein wesentlicher Teil der Interventionsplanung.


3. Fazit: Multiperspektivische Fallarbeit zur ressourcenschonenden Planung risikoorientierter Interventionen

Die hohe Zahl an zu betreuenden Inhaftierten erschwert die intensive Arbeit mit den Klient*innen während der Untersuchungshaft. Der Beitrag zeigt, dass multiperspektivische Fallarbeit das Potential hat, sich ressourcenschonend auf die Betreuungsleistung der Sozialarbeiter*innen auszuwirken. Indem die Methode es ermöglicht, das Problem häuslicher Gewalt zu identifizieren („Fall von“) und damit den Blick auf die komplexen Dynamiken der spezifischen Formen von Gewalt in Intimpartnerschaften zu richten, treten andere Problemlagen im Betreuungsalltag der Untersuchungshaft in den Hintergrund und schaffen Platz für die strukturierte Planung passender Interventionen.

Aufgaben und Zuständigkeiten anderer Berufsgruppen werden auf der Ebene „Fall für“ sichtbar und so aktiv in die Fallbearbeitung eingebunden. Dadurch kann Doppelgleisigkeit bei Interventionen von Betreuungsdiensten verhindert werden. Zudem rückt die Notwendigkeit der Fallübergabe, Zusammenarbeit und Nachbetreuung mit externen Einrichtungen in den Blick.

Die risikoorientierten Gründe für die Verhängung einer Untersuchungshaft und die Zwecke des Strafvollzugs legen schließlich die Intervention („Fall mit“) der Deliktverarbeitung in Fällen von Gewalt in Intimpartnerschaften nahe. Eine Voraussetzung dafür ist die Compliance der Inhaftierten, die in keinem Widerspruch zum Zwangskontext steht. Die Haftsituation kann sogar förderlich für den Willen zur Zusammenarbeit und für die Verantwortungsübernahme der Beschuldigten sein, da die Konsequenzen der Tat unmittelbar verspürt werden. Dies spricht dafür, die Situation der Inhaftierung zu nutzen, um einen professionell angeleiteten Reflexionsprozess zu beginnen, der im besten Fall durch die Nachbetreuung der Haftentlassenen- oder der Bewährungshilfe zu einer langfristigen Straffreiheit der Täter*innen führt. Die Überlegung, die Deliktverarbeitung bereits während der Untersuchungshaft zu beginnen, sollte daher nicht als Konkurrenz zwischen den Einrichtungen und Professionist*innen gesehen werden. Vielmehr eröffnet sie Raum für Diskussion, wie die Deliktverarbeitung die Kooperation der Sozialarbeiter*innen in der Täter*innenarbeit bereichern kann und zur Rückfallprävention der gemeinsamen Klient*innen beitragen kann.

Wie die Deliktverarbeitung in der Praxis konkret gestaltet werden kann, ist von den jeweiligen Rahmenbedingungen in der Justizanstalt abhängig und bleibt in diesem Beitrag weitgehend unbehandelt. Eine Grundvoraussetzung ist die Freiwilligkeit der Gefangenen, über ihre Situation zu sprechen und sich dem Sozialen Dienst anzuvertrauen. So wäre hier zu diskutieren, inwiefern ein geeigneter Gesprächsrahmen in Haft beispielsweise in Bezug auf vorhandene Räumlichkeiten und Intensität der Gespräche geschaffen werden kann. Ebenso ist zu bedenken, dass die intensive Bearbeitung des Tathergangs vor der Hauptverhandlung auch das laufende Ermittlungsverfahren beeinträchtigen könnte, indem sich zum Beispiel Erklärungsmodelle über das Motiv der Täter*innen verändern könnten. Eine Schwierigkeit stellt zudem der kaum planbare Betreuungszeitraum dar, da es für Untersuchungsgefangene kein festgelegtes Entlassungsdatum gibt und sie so jederzeit enthaftet werden können, was das Betreuungsverhältnis abrupt beendet. Daher ist auch methodisch zu diskutieren, inwieweit die Deliktverarbeitung einrichtungsübergreifend weitergeführt werden könnte und wie dies mit dem Vertrauensverhältnis zu vereinbaren wäre.

Insgesamt hat der Beitrag gezeigt, dass multiperspektivische Fallarbeit eine geeignete Methode ist, um das Problem der häuslichen Gewalt in der Untersuchungshaft zu identifizieren und die Interventionsplanung im Betreuungsalltag zu strukturieren. Die risikoorientierte Deliktverarbeitung nach Mayer et al. (2007) stellt sich darin als mögliche Intervention dar, deren konkrete Umsetzung jedoch ausführlicherer Überlegungen bedarf. Sie beinhaltet schließlich auch ein Risiko-Assessment in der Interventions- und Handlungsplanung. Im Falle einer Implementierung des Programms in den Strafvollzug, könnten bereits im Rahmen der Zugangsanamnese der Sozialarbeiter*innen Risikofaktoren erhoben, integriert und dokumentiert werden. Die Frage danach, inwiefern ein standardisiertes Vorgehen hier jedoch aus Sicht der behördlichen Entscheidungsträger*innen und der Sozialen Dienste wünschenswert ist, und welche Chancen und Risiken die Generierung und Verwendung dieser Daten bergen, öffnet Raum für einen kritischen Diskurs in der Sozialen Arbeit, der auch die Praxis von Polizei, Staatsanwaltschaft und Haftrichter*innen im Ermittlungsverfahren miteinschließt.


Verweise
1 Datenquelle PAD – Auswertung über SAP-BO; Abfrage am 03.06.2020; letzter Datenabzug: 02.06.2020. Zur Verfügung gestellt durch BMI II/10/a – Controlling GD, Oberst Harald Stöckl im Rahmen des Projekts IMPRODOVA. Zum Betretungs- und Annäherungsverbot sind keine vergleichbaren Daten aus dem Jahr 2019 vorhanden. Dies ist vor allem auf die Änderung des Sicherheitspolizeigesetzes (SPG) zu BGBl. I Nr. 105/2019 zurückzuführen, durch die das Annäherungsverbot erstmals eingeführt wurde.
2 Danksagung: Für dieses Projekt wurden im Rahmen der Finanzhilfevereinbarung Nr. 787054 (Improving Frontline Responses to High Impact Domestic Violence – IMPRODOVA) Fördermittel aus dem Programm der Europäischen Union für Forschung und Innovation „Horizon 2020“ bereitgestellt. Der Inhalt dieser Veröffentlichung liegt in der alleinigen Verantwortung der Autorin und spiegelt nicht die Ansichten der Europäischen Kommission wider.
3 Derzeit werden Eindrücke aus den Partnerländern gesammelt, wie sich der Lockdown und dessen Folgen auf Hochrisikofälle auswirken. Erste Berichte zeigen, dass Beratungsstellen, Frauenhäuser und Institutionen der Täter*innenarbeit während des Lockdowns auf eine schnelle Adaptierung ihrer Betreuungs- und Beratungsangebote angewiesen waren. Die Angebote wurden daher großteils flexibler und virtuell gestaltet (vgl. Brooks-Hay et al. 2020).
4 In Österreich liegen zur attrition rate keine vergleichbaren Daten vor, was vor allem auf die nicht-standardisierte Datenerhebung im justiziellen Bereich und im Bereich häuslicher Gewalt zurückzuführen ist.
5 Die Staatsanwaltschaft in der Schweiz hat die Möglichkeit, bestimmte Weisungen vor einem gerichtlichen Urteil auszusprechen, was nach österreichischer Rechtslage nur durch richterliche Befugnis angeordnet werden kann (vgl. Chopin/Aebi 2020: 274).
6 Der Begriff risikoorientierte Intervention meint in diesem Zusammenhang das professionell geplante Vorgehen, welches auf die Gefahr einer neuerlichen Straftat innerhalb der Gewaltbeziehung ausgerichtet ist. Interventionen während der Untersuchungshaft beziehen sich zudem einerseits auf das Risiko des materiellen Verlustes beispielsweise der Wohnung oder des Arbeitsplatzes sowie andererseits auch immanent auf die Risiken zur Tatbegehung, Flucht oder Verdunkelung, welche durch die Untersuchungshaft abgewehrt werden sollen.
7 Herbers (2008) untersuchte polizeiliche Interventionen bei Beziehungsgewalttaten anhand von Ermittlungsakten von 2002–2005. Bei einem Drittel der untersuchten Tötungsdelikte waren die Tatverdächtigen wegen Gewalt am Opfer zuvor polizeilich aktenkundig.
8 Anti-Gewalt-Trainings werden in Wien auch von der Männerberatung angeboten. Siehe dazu: https://www.maenner.at/gewaltpraevention/anti-gewalt-training-erwachsene-maenner/.
9 Die Verwendung des Begriffs Diagnose stößt in der Sozialen Arbeit häufig auf Kritik. Im Gegensatz zum klinischen Diagnosebegriff meint das Verfahren der sozialen Diagnose nach Müller (hier) die „Klärung der Beziehungen zwischen Personen und ihrer Umwelt“ (Müller 2017: 65).


Literatur

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Über die Autorin


Marion J. Neunkirchner, BA MA
marion.neunkirchner@vicesse.eu

arbeitet seit 2015 als Sozialarbeiterin im Strafvollzug und ist seit 2018 als Soziologin im Vienna Centre for Societal Security (VICESSE) tätig. Sie ist Teil des wissenschaftlichen Konsortiums des EU-Projekts IMPRODOVA und forscht im Bereich der Rechts- und Kriminalsoziologie sowie der Sicherheitsforschung.