soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 24 (2020) / Rubrik „Werkstatt“ / Standort Wien
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/view/704/1278.pdf


Anu Pöyskö, Christina Pantucek-Eisenbacher & Michaela Anderle:

Digitale Kinder- und Jugendarbeit in Wien

Eine Bestandsaufnahme


1. Einleitung

Der digitale Wandel stellt die Jugendarbeit vor neue Herausforderungen. Der Alltag der Jugendlichen spielt sich in hybriden Lebenswelten ab: das Physische und das Virtuelle existieren für sie parallel und greifen ineinander; die Erfahrungen, die Jugendliche in digitalen Umgebungen machen, sind ebenso real wie jene in Face-to-Face-Settings. Jugendarbeit, die lebensweltnah agieren möchte, muss dem Rechnung tragen.

Der vorliegende Beitrag beschreibt die Bestrebungen, digitale Kinder- und Jugendarbeit in Wien nachhaltig zu implementieren. Nach einer theoretischen Auseinandersetzung darüber, was unter digitaler Jugendarbeit verstanden werden kann (Kapitel 1), geht es um konkrete Maßnahmen, die von der für die Jugendarbeit zuständigen Abteilung der Stadt Wien gesetzt wurden, um das Thema stärker auf die Agenda der Jugendarbeits-Organisationen zu setzen (Kapitel 2). Zuletzt beschreiben wir einen partizipativen Prozess, den verschiedene Wiener Jugendarbeits-Organisationen durchlaufen sind, um gemeinsam eine Leitlinie für digitale Jugendarbeit zu entwickeln.1 Das ambitionierte Ziel der Projektgruppe war es, ein Papier zu verfassen, der Sinn stiftet und inspiriert, aber auch Orientierung und Richtung bieten soll. Wir gewähren erste Einblicke in die zentralen Fragestellungen und Schwerpunkte der Leitlinien, die zum Zeitpunkt des Schreibens noch nicht in der finalen Fassung vorliegt (Kapitel 3).


2. Digitale Jugendarbeit. Eine Begriffsklärung

Jugendarbeit beschäftigt sich mit digitalen Medien und Technologien, seit es diese gibt – mit verschiedenen Zielsetzungen und in sehr unterschiedlicher Intensität. Einzelne Jugendarbeiter*innen erstellten schon früh Websites für ihre Einrichtungen und experimentierten zunächst mit den Möglichkeiten von Chat-Räumen, später mit ersten Online-Communities wie Blackbox. Technik-interessierte Kolleg*innen schraubten mit Jugendlichen Computergehäuse auf, um das Innenleben eines Rechners zu erforschen. Die Spielekonsole nahm in den Jugendhäusern neben dem Wutzler Platz. Informations- und Beratungsangebote wurden ins Web übertragen. Bei solchen und weiteren Aktivitäten von digitaler Jugendarbeit zu reden, ist hingegen relativ neu.

In Österreich trug u.a. die Tagung des bundesweiten Netzwerk Offene Jugendarbeit (bOJA) 2017 zur Verbreitung des Begriffes bei (vgl. bOJA 2018). Die erste breit getragene Definition, was unter digitaler Jugendarbeit zu verstehen ist, entwarf die European Commission Expert Group on Digitalisation and Youth, die von 2016 bis 2018 im Einsatz war (vgl. European Commission 2018). Kurz zusammengefasst umfasst digitale Jugendarbeit jede Art der proaktiven Nutzung von digitalen Medien und Technologien in der Jugendarbeit. Nach dieser Definition können digitale Medien Werkzeug, Inhalt und Aktivität für die Jugendarbeit sein. Als Werkzeuge sind sie ein Mittel zum Zweck, zum Beispiel wenn Jugendarbeiter*innen über verschiedene Social Media-Kanäle mit Jugendlichen in Kontakt treten. Zum Inhalt werden sie dann, wenn wir uns mit Themen wie Fake News befassen oder mit Jugendlichen ihren digitalen Alltag reflektieren. Und zuletzt werden komplette Aktivitäten, von Lan-Partys bis Medienwochen und -workshops, um digitale Medien herum konzipiert.

Der Begriff digitale Jugendarbeit an sich ist unscharf und bietet genauso wie andere ähnliche Konstrukte (z.B. digitale Bildung) viel Angriffsfläche für Kritik. Präziser wäre es, von Jugendarbeit in einer mediatisierten, digital vernetzten Gesellschaft zu sprechen (vgl. Rösch 2019). Die Kurzform digitale Jugendarbeit (digital youth work) ist jedoch alltagstauglicher und scheint sich auch in europäischen Jugendarbeits-Diskursen zu etablieren. Als Sammelbegriff spannt digitale Jugendarbeit einen Bogen über viele Angebote und Aktivitäten der Jugendarbeit, die bislang getrennt voneinander wahrgenommen wurden: zum Beispiel kreativ-gestalterische Medienprojekte und andere medienpädagogische Aktivitäten, Online-Jugendarbeit/e-youthwork oder Online-Beratung. Gerade wenn wir über den Sinn und Zweck der digitalen Aktivitäten der Jugendarbeit diskutieren, kann es erhellend sein, verschiedene Angebote, deren gemeinsame Nenner die Nutzung von digitalen Technologien ist, als einander ergänzende Teile eines größeren Projektes zu betrachten.


2.1 Jugendarbeit und der digitale Wandel

Die Beschäftigung mit digitalen Medien und Technologien in der Jugendarbeit sollte kein Selbstzweck sein. Es geht auch nicht um Kosmetik, also den oberflächlichen Versuch, die Angebote durch das Attribut digital attraktiver und zeitgemäßer wirken zu lassen. Die Frage, die über all den praktischen Ausprägungen der digitalen Jugendarbeit steht, lautet: Welche Art von Jugendarbeit braucht es in einer Gesellschaft im digitalen Wandel? Die Bezeichnung digitaler Wandel weist auf einen „epochalen Transformationsprozess“ hin (Grimm 2018: 9), der von der Bandbreite seiner Auswirkungen mit der industriellen Revolution vergleichbar ist. Die Voraussetzungen für ein gelingendes Leben verändern sich und die digitalen Kompetenzen einer Person werden ihre Teilhabechancen entscheidend mitbestimmen (vgl. Pekla 2018: 59).

Den Jugendarbeiter*innen war bereits vor dem Lockdown im Frühjahr 2020 klar, dass Jugendliche keine homogene Gruppe von Digital Natives sind, die alle über ähnliche und ausreichende Kompetenzen im Umgang mit Medien und Technologien verfügen. Die Lockdown-Phase machte digitale Klüfte auf allen Ebenen nur noch sichtbarer. Gerätebesitz und (bandbreitenstarker) Internet-Zugang ist weiterhin ein Thema, neben Nutzungskompetenz, Orientierungswissen und Reflexionsfähigkeit. Jugendarbeit hat das Potential, in ihrem Wirkungsbereich einer drohenden digitalen Spaltung entgegenzuwirken, indem sie Zugänge zu digitalen Technologien, Erprobungs- und Experimentier-Anlässe schafft. Klingt kompliziert? Nicht unbedingt. Einzelne Aktivitäten, bei denen auf digitale Medien zurückgegriffen wird, können alltäglich und einfach in der Umsetzung sein: ein Instagram-Takeover, ein Spieleabend, eine gemeinsam gestaltete digitale Rätselrallye im eigenen Grätzel, oder – ganz wichtig – einfach nur spontane Gespräche über medienbezogene Themen. In Summe tragen alle diese Aktivitäten dazu bei, dass Jugendliche Jugendarbeit als einen digitalen Lernort wahrnehmen und als einen solchen für sich nutzen.

Das Alltagshandeln von Jugendlichen findet heute schon in hybriden Lebenswelten statt, in denen die Ereignisse, Eindrücke und Erfahrungen aus dem Online- und Offline-Bereich ineinandergreifen. Lebensweltnah agierende Jugendarbeit, die gemäß dem alten Jugendarbeit-Leitsatz, die Jugendlichen dort abholt, wo sie sind, muss demnach verstärkt in virtuellen Räumen anwesend sein und lernen, Konzepte professioneller, aufsuchender Jugendarbeit in diese zu übertragen. Die/der Jugendarbeiter*in von morgen macht weiterhin Beziehungsarbeit, sowohl in Face-to-Face-Settings als auch über digitale Interfaces. Die Jugendlichen erwarten von ihr/ihm keine tiefgehende Expertise zu digitalen Themen – das kann Jugendarbeit nicht leisten bzw. ist es nicht ihr Auftrag. Aber Jugendliche profitieren von Jugendarbeiter*innen, die neugierig und wachsam Entwicklungen und Diskussionen mitverfolgen und Räume für selbstbestimmte Erfahrungs- und Reflexionsprozesse in und über digitale Medien schaffen.


2.2 Digitale Jugendarbeit benötigt Bottom-up- und Top down-Impulse

Drei Faktoren scheinen zu einer guten Weiterentwicklung der digitalen Jugendarbeit besonders beizutragen: digitale Jugendarbeit ist zuallererst eine Frage der Haltung, muss von der gesamten Organisation mitgetragen werden und benötigt einen klaren Auftrag und explizite Unterstützung durch die Entscheidungsträger und Fördergeber. Als Grundvoraussetzung müssen Organisationen, Teams und einzelne Mitarbeiter*innen die eigene Haltung zu digitalen Medien und Technologien überprüfen und gegebenenfalls hinterfragen. Eine undifferenziert ablehnende Haltung verhindert das Vorankommen. Die digitale Transformation stellt die Gesellschaft und das Individuum vor enorme Herausforderungen. Der Wunsch, die Uhr zurückzudrehen und zu einem analogen Vorgestern zurückzukehren, ist daher absolut nachvollziehbar, sollte aber unser professionelles Handeln nicht anleiten. Nur wer sich mit dem digital Neuen aktiv auseinandersetzt, ist auch dazu in der Lage, Potentiale und Risiken trennscharf zu erkennen.

Voran getrieben werden viele digitale Innovationen in der Jugendarbeit durch einzelne, besonders engagierte Kolleg*innen, die ihre oftmals auch privat kultivierten Medieninteressen in der Arbeit einbringen und mutig Neues ausprobieren. Eine digital lernende Jugendarbeits-Organisation erkennt den Wert solcher Kolleg*innen, unterstützt sie, fördert den fachlichen Austausch in- und außerhalb der Organisation und somit Peer-to-Peer-Lernprozesse. Die Schnelllebigkeit der digitalen Phänomene setzt Flexibilität und Probierfreude voraus: Wie schaffen wir es, ein Arbeitsklima zu kultivieren, in dem man schnell ins Tun kommen, Neues initiieren und dabei auch scheitern darf? Zudem stehen Organisationen vor der schwierigen Aufgabe, von den stets eher knappen Ressourcen der Jugendarbeit ausreichend viel für digitale Angebote einzuplanen. Die Politik hat mittlerweile die Dringlichkeit erkannt, digitale Kompetenzen aller Bürger*innen zu fördern. In Österreich manifestiert sich dies z.B. in dem 2016 vorgelegten ersten „Digital Roadmap Austria“ (vgl. BMDW 2016). Der Fokus liegt jedoch häufig einseitig auf dem, was in der Schule gelernt wird bzw. unterrichtet werden soll. Um die Offene Jugendarbeit als digitalen Bildungsort zu stärken, wäre es wichtig, sie als solchen wahrzunehmen, digitale Jugendarbeit in der Jugendpolitik und in den Jugendstrategien zu berücksichtigen und Kapazitäten in diesem Bereich gezielt aufzubauen (vgl. digitalyouthwork.eu 2019a).

Zusammengefasst: Es bedarf Bottom-up- und Top-down-Impulsen, damit sich Jugendarbeit in diesem zukunftsrelevanten Bereich gut weiterentwickelt. Wir laden dazu ein, die im Folgenden vorgestellten, konkreten Projekte und Vorhaben der Wiener Jugendarbeit aus dieser Perspektive zu betrachten: als von Fördergebern und Jugendarbeits-Organisationen gemeinsam getragenen Versuch, eine gute Entwicklung weiter voranzutreiben. 


3. Digitale Kinder- und Jugendarbeit in Wien. Eine Entwicklung

3.1 Jahresschwerpunkt „Medien.Kompetenz.JA“

In den Jahren 2015 und 2016 zeigte sich in der Wiener Kinder- und Jugendarbeit, dass die Herausforderungen, denen Kinder und Jugendliche im virtuellen Raum und im Umgang mit Social Media begegnen, groß sind und es sinnvoll und notwendig ist, sie dabei zu begleiten. Damals aktuelle Studien (vgl. Anderle/Pöyskö 2016; Think difference 2016) zeigten den Bedarf an Unterstützung für Kinder und Jugendliche bei der Nutzung von digitalen Medien. Viele Mitarbeiter*innen von Vereinen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit hatten bereits entsprechende Angebote für die von ihnen begleiteten Kinder und Jugendlichen entwickelt – manche mehr, manche weniger. Dies führte bei der Fachdienststelle der MA 13, Bildung und außerschulische Jugendbetreuung (jetzt: Stadt Wien – Bildung und Jugend), zu der Entscheidung, als Jahresschwerpunkt (JSP) für die Jahre 2017/2018das Thema „Medien.Kompetenz.JA“ vorzugeben. Ziel des JSP war es, diesem Thema mehr Aufmerksamkeit zu schenken, Jugendarbeiter*innen zu vernetzen, sich mit den vielfältigen Aspekten des Themas zu beschäftigen, Ressourcen zu bündeln und Neues auszuprobieren, um Kinder und Jugendliche in diesem Bereich fit zu machen.

Die thematische Bandbreite reichte von der Bedeutung der Medien in der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen, über Fragen der Informationskompetenz in der digitalen Welt bis zur Auseinandersetzung mit den persönlichen, sozialen, gesellschaftlichen und politischen Wirkungen medialer Berichterstattung. Als zuständige Fachabteilung war es der Stadt Wien – Bildung und Jugend ein großes Anliegen, dass die reflexiven Fähigkeiten der Jugendlichen beim Nutzen von digitalen und analogen Medien gefördert werden. Hierbei sollten auch gendersensible Aspekte beachtet werden, zeigten sich doch deutliche Unterschiede im Nutzungsverhalten von Mädchen und Burschen.

Jugendarbeit bietet aufgrund ihres Ansatzes eines vertrauensvollen Miteinanders und der Bereitstellung von Beziehungsangeboten fernab von einem autoritären Umgang den geeigneten Raum für kritische Auseinandersetzung mit und Unterstützung bei diesem Thema. Mehr Sicherheit und Selbstvertrauen im Umgang mit Social Media bedeutet auch mehr Schutz im Netz vor neuen besorgniserregenden Phänomenen, wie Cyber-Mobbing, Hasspostings sowie Cyber-Grooming und Sexting u.v.m. Die Voraussetzung für eine kompetente Begleitung durch die Jugendarbeit ist ein souveräner Umgang der Mitarbeiter*innen der Jugendarbeit mit sozialen Netzwerken und ihren aktuellen Themen, wie dem Datenschutz, dem Urheberschutz etc. Deshalb war unter anderem ein deklariertes Ziel des JSP, auch die Medienkompetenz der Jugendarbeiter*innen zu verbessern, sowie eine positive Grundhaltung gegenüber digitalen Welten und die Bereitschaft, selbst dazuzulernen, entstehen zu lassen.


3.2 Maßnahmen der Stadt Wien – Bildung und Jugend

Der umfangreichste Teil der Maßnahmen fokussierte auf die Qualifizierung der Mitarbeiter*innen. Anfang 2018 hatten alle Mitarbeiter*innen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit (ungefähr 800) mittels eines anonymisierten Fragebogens, erstellt von der Stadt Wien – Abteilung Bildung und Jugend (ehemals MA 13), die Möglichkeit, rückzumelden, inwieweit sie mit dem Arbeitsauftrag für digitale Jugendarbeit zurechtkommen beziehungsweise was sie benötigen, um diesem Arbeitsauftrag nachkommen zu können. Es wurden 229 Fragebögen ausgefüllt retourniert. Diese Antworten waren die Grundlage für weitere Maßnahmen seitens der Fachabteilung. Die Mitarbeiter*innen formulierten sehr stark den Bedarf bezüglich des (vereinsübergreifenden) fachlichen Austauschs, nach besserer technischer Ausstattung sowie nach maßgeschneiderten Fortbildungen zu Themen wie Datenschutz, Cybermobbing, technischem Know-how und mehr zeitlichen Ressourcen.

Daraufhin wurden Fortbildungsmaßnahmen in Kooperation mit dem WIENXTRA Institut für Freizeitpädagogik (IFP) nachgeschärft, auch vereinsinterne Fortbildungen wurden verstärkt angeboten. Mitarbeiter*innen von 19 Vereinen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit in Wien haben daraufhin an externen Fortbildungen teilgenommen, Mitarbeiter*innen von 18 Vereinen an internen. Im Newsletter der Stadt Wien – Bildung und Jugend an die Vereine der Offenen Kinder- und Jugendarbeit wurde der JSP als Fixpunkt aufgenommen und auf Veranstaltungen, Studien, interessante Links etc. hingewiesen. In Kooperation mit dem WIENXTRA-Medienzentrum wurden elf themenbezogene Austauschtreffen angeboten. Die Themen (z.B. zu Gender, Datenschutz, Actionbound, Fake News, Virtual Reality etc.) orientierten sich an den Antworten aus der Mitarbeiter*innenbefragung.

2017 fand in Koordination mit dem Wiener JSP die alljährliche Tagung des bundesweiten Netzwerkes für Offene Jugendarbeit (bOJA) zum Thema digitale Jugendarbeit statt (vgl. bOJA 2018). Um dem Wunsch nach vereinsübergreifendem, fachlichen Austausch nachzukommen, wurde, gemeinsam mit Vertreter*innen der OKJA, ein Blog zum Thema Medienarbeit in der Jugendarbeit entwickelt. Jugendarbeiter*innen teilen hier seit November 2018 ihr Wissen und ihre Erfahrungen. Im ersten Jahr besuchten 1130 Nutzer*innen den Blog, es gab 4282 Seitenaufrufe, 212 Blog-Leser*innen kehrten regelmäßig zur Seite zurück. Der Blog wurde mit Mai 2020 zu dem www.jugendarbeit.wien-Blog weiterentwickelt. Hier findet weiterhin ein reger Austausch zu allen, die Jugendarbeit betreffenden Themen statt. Als Abschluss des JSP 2017/18 fand am 27.11.2018 das Barcamp „Medien.Kompetenz.JA“ statt, an dem 85 Jugendarbeiter*innen teilnahmen, ihr Wissen teilten, aktuelle Fragestellungen diskutierten und einander vereinsübergreifend ihre Expertise aus der Praxis zur Verfügung stellten.

Als eine weitere Maßnahme der Stadt Wien – Bildung und Jugend werden seit dem Förderjahr 2019 die um Förderung ansuchenden Vereine der OKJA Wien angehalten, ihre Konzepte und Überlegungen zum Thema digitale Kinder- und Jugendarbeit zu verschriftlichen, Ziele und Methoden zu beschreiben und die Aktivitäten, Zielerreichung und Reflexion in den Jahresberichten zu verschriftlichen. Mit den Anbietern des Tools Actionbound wurde zudem erfolgreich verhandelt, sodass, in Anlehnung an Angebote für Lehrer*innen, Jugendarbeiter*innen dieses Tool nun für und mit ihren Zielgruppen gratis nutzen können.


3.3 Wirkungen

Im Zuge von unzähligen Projekten wurde mit den Kindern und Jugendlichen partizipativ gearbeitet. Viele positive Beispiele finden sich am Blog www.jugendarbeit.wien. Mit Jahresende 2018 konnte eine deutliche Verbesserung der technischen Ausstattung und des technischen Know-hows der Jugendarbeiter*innen in Wien festgestellt werden. 20 Vereine der OKJA haben in neue Geräte und Tools investiert. So wurden z.B. Tablets, Smartphones, Tonstudios, Videokameras, mobile Drucker (Nutzung im Park), GoPro-Kameras, neue Apps und Programme angekauft bzw. eingerichtet.

Bei den Zielgruppen der Jugendarbeit konnten deutlich positive Wirkungen festgestellt werden. Viele Kinder und Jugendliche hatten erstmals mit Tablet, Laptop, bestimmten Programmen und Geräten zu tun, durch die angeleitete Nutzung hat sich deren technisches Verständnis verbessert. Mittels gemeinsamer Reflexion haben sie ein besseres Verständnis in Bezug auf Netiquette entwickelt, sie haben sich mit Fake News und Datenschutz auseinandergesetzt und können nun besser entscheiden, was sie von sich preisgeben, die Online-Auftritte der Kinder und Jugendlichen wurden anders, vielfältiger, sorgsamer. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass es in den beiden Jahren des JSP „Medien.Kompetenz.JA“ gelungen ist, Jugendarbeit in Wien zum Thema Medienarbeit weiter zu professionalisieren.


3.4 Nächste Schritte. Einheitliche Richtlinien

Um die Qualität der digitalen Kinder- und Jugendarbeit in Wien noch zu verbessern und weiterzuentwickeln, hat sich die zuständige Fachabteilung der Stadt Wien – Bildung und Jugend nach Gesprächen mit Vertreter*innen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit 2019 dazu entschlossen eine Projektgruppe einzurichten, um einheitliche Richtlinien für digitale Kinder- und Jugendarbeit zu entwickeln. In diese Arbeitsgruppe wurden Vertreter*innen von sechs Vereinen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit sowie zwei Vertreter*innen des WIENXTRA-Medienzentrums eingeladen. Bei der Auswahl der Vertreter*innen wurde auf die Vereinsgröße (große, kleine, mittelgroße Vereine) sowie auf die Rolle der Mitglieder (pädagogische Leitung, Basismitarbeiter*in) geachtet. Die Vertreter*innen des WIENXTRA-Medienzentrums sind Expert*innen bei Fragestellungen rund um das Thema digitale Kinder- und Jugendarbeit und national sowie international bestens vernetzt. So kann jede Person aus der Projektgruppe ihre Perspektive sowie eigene Erfahrungen und spezifisches Wissen einbringen. Ziel ist es, bis Ende 2020 praktikable Leitlinien als Orientierungshilfe für digitale Kinder- und Jugendarbeit in Wien zu erstellen. Diese Leitlinien sollen sowohl die Praktiker*innen als auch die pädagogischen Leitungen sowie die verantwortlichen Geschäftsführungen dabei unterstützen, alle nötigen Maßnahmen und Entscheidungen innerhalb der Organisation zu treffen, um eine professionelle digitale Kinder-und Jugendarbeit gewährleisten zu können.

Ganz aktuell kann festgestellt werden, dass uns die Aktivitäten der letzten Jahre ab Mitte März 2020 sehr dabei geholfen haben, den Kindern und Jugendlichen, trotz Corona-bedingten Einschränkungen, zumindest digital intensiv zur Seite stehen zu können. Die bestehenden Online-Kanäle wurden von den Jugendarbeiter*innen tatkräftig genutzt, um Kontakt zu halten, wichtige Fragen zu klären und stützend als Ansprechpartner*innen da zu sein. Dort, wo solche digitalen Kanäle noch nicht gegeben waren, wurden innerhalb von wenigen Tagen neue Strukturen geschaffen, um adäquate Angebote setzen zu können. Die Erfahrungen der letzten Monate fließen nun auch in unser aktuelles Projekt ein.


4. Leitlinien zur digitalen Kinder- und Jugendarbeit. Ein Prozess.

4.1 Von der Einladung in die Projektgruppe zu einem gemeinsamen Ergebnis

Gestalter*innen der Wiener Kinder- und Jugendarbeit, quer durch alle Hierarchieebenen, arbeiten derzeit an einer gemeinsamen Leitlinie zum Thema digitale Kinder- und Jugendarbeit und begrüßen es, dass es einen vereinsübergreifenden Entwicklungsprozess gibt. Ein zentraler Punkt am Beginn des Arbeitsprozesses war es, die jeweiligen Vorstellungen von digitaler Jugendarbeit mit der gelebten Praxis abzugleichen und zu diskutieren. Zunächst ging es darum, einander auf fachlicher und auch menschlicher Ebene kennenzulernen. Beim ersten Treffen halfen assoziative Methoden, dem weiten Feld digitale Jugendarbeit und unserem Verständnis davon Raum zu geben. Gemeinsam sind wir zum besseren Kennenlernen auch mit der Methode der Medienbiographie (vgl. Digitalyouthwork.eu 2019b; Pöyskö 2009) in die Vergangenheit gereist: Was war unser erstes Mediengerät? Welche gemeinsamen Medienerlebnisse blieben in Erinnerung? Was habe ich nach einem schlimmen Tag in der Schule gemacht? Hinsichtlich der Mediengeräte sind wir quer durch die Generationen gut aufgestellt: von der Generation Kassettenrekorder über den MP3-Player bis zur wieder hippen Vinylplatte, vom Gameboy über Tamagotchi bis zur Konsole.

Im nächsten Schritt ging es um die gemeinsame Perspektive auf den weiteren Prozess, das noch offene Ergebnis und um die (Wirkungs-)Wünsche an das Ergebnis. Die Dokumentation der (Wirkungs-)Wünsche und der Aussagen, was und wie das Ergebnis auf keinen Fall sein darf, gab und gibt über den gesamten Projektzeitraum Orientierung. So steht zum Beispiel der Wunsch, zielorientiert statt problemorientiert zu diskutieren, ganz oben auf der Liste. Die Leitlinien sollen auf keinen Fall im Sinne von Mikromanagement jede Eventualität schriftlich regeln und einengend sein, denn eine richtige Art, digitale Kinder- und Jugendarbeit zu machen, gibt es nicht. Die Leitlinien sollen auf Handlungsorientierung bedacht sowie mutig, sinnstiftend und stärkend sein.

Es gibt bereits unterschiedliche Handlungsanweisungen, Guidelines und Vorgaben zu digitaler Jugendarbeit und ihrer konkreten Ausgestaltung: auf europäischer Ebene von der European Commission Expert Group on Digitalisation and Youth, die „European Guidelines“ des Erasmus+ Projekts „Digital Youth Work“, Positionspapiere von einzelnen (Dach-)Verbänden, konkrete Handlungsanweisungen für Mitarbeiter*innen einzelner Vereine etc. Genau hier setzt auch der Wunsch nach gemeinsamen Leitlinien an: Kleinere Vereine können häufig intern weniger Diskussion herstellen, weil schlicht und ergreifend weniger Ressourcen dafür zur Verfügung stehen, während größere Vereine der Jugendarbeit eigene Arbeitsgruppen rund um die Themen der Digitalisierung installiert haben. Der nächste Schritt war daher, alle uns bekannten Leitlinien, Papiere und Dokumente zu sammeln. Rund ein Dutzend Papiere hat die Gruppe analysiert und diskutiert, bevor wir die Themen und Inhalte für unser Leitlinien-Projekt skizziert haben. Zu den einzelnen Themenbereichen bildeten sich Schreibteams aus zwei bis drei Menschen. Nach einem längeren Zeitraum des gemeinsamen Schreibens, trugen wir die ersten Textentwürfe zusammen. Der kollektive Schreibprozess ist damit noch lange nicht abgeschlossen: es wird beständig Feedback auf die vorhandenen Texte und Passagen gegeben, Begriffe werden diskutiert, es wird erneut an der Struktur gefeilt. Dieser Prozess des Feedback-Gebens und das Einarbeiten des Feedbacks in den Text gehen über mehrere Runden. Derzeit ist das Autor*innenkollektiv in der fünften Überarbeitungsschleife.


4.2 Zentrale Inhalte und Erkenntnisse

Das Eingangsstatement der Leitlinien beschreibt den gesellschaftlichen Kontext und die Relevanz von digitaler Kinder- und Jugendarbeit als wichtige außerschulische Bildungs- und Beziehungsinstanz:

„Die Nutzung von und Kommunikation mit digitalen Medien zählen zu den wichtigsten Freizeitaktivitäten von Kindern und Jugendlichen und beeinflussen zudem auch Lebensbereiche wie Schule, Arbeit und Familie. Eine kompetente, aktive und altersspezifische Begleitung von Kindern und Jugendlichen bei der Nutzung von bzw. in digitalen Lebenswelten (wie z.B. Social Media, digitale Spiele, eigene Medienproduktion,…) durch die Mitarbeiter*innen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit in Wien ist daher ein wichtiges Aufgabenfeld.“ (Stadt Wien – Bildung und Jugend)

Die Arbeitsgruppe definiert digitale Kinder- und Jugendarbeit als Teil der Offenen Kinder- und Jugendarbeit, welcher alle Aktivitäten zu und mit digitalen Medien und Technologien umfasst. Zur Veranschaulichung erscheint am Blog jugendarbeit.wien eine Liste mit Praxisbeispielen der Wiener Kinder- und Jugendarbeit, die laufend ergänzt werden kann.

Im Abschnitt über die Ziele und Wirkungen von digitaler Jugendarbeit beschreiben wir, welche Gestalt die Räume für selbstbestimmtes, digitales Lernen haben, die die digitale Kinder- und Jugendarbeit schafft, und welche Ziele und Wirkungen für die Zielgruppen damit verknüpft sind:

„Wir ermutigen unsere Zielgruppen zur selbstbestimmten und aktiven Mediennutzung.

Wir begleiten Kinder und Jugendliche bei ihrer kreativen, selbständigen Aneignung von Medien, indem wir den Raum für eine lustvolle Auseinandersetzung schaffen.

Wir ermöglichen Kindern und Jugendlichen, einen reflektierten Umgang mit Herausforderungen, die die Digitalisierung mit sich bringen, zu entwickeln. Das trägt zur Chancengerechtigkeit bei und stärkt die Teilhabemöglichkeit von Kindern und Jugendlichen.“ (Stadt Wien – Bildung und Jugend)

Ganz wesentlich erschien es uns, die Rahmenbedingungen zu schildern, die digitale Kinder- und Jugendarbeit braucht. Damit sind nicht nur die personellen Ressourcen und technischen Anschaffungen gemeint, sondern auch und vor allem die gelebte Unternehmenskultur.

„Digitale Entwicklung der Organisation: Digitale Kinder- und Jugendarbeit ist nicht nur ein pädagogisches Konzept, sondern ein Prozess, der alle Bereiche einer Organisation betrifft. Es ist notwendig, dass sich alle Mitarbeiter*innen mit dem Thema beschäftigen, auch die Führungsebenen einer Organisation.

Innovationsräume eröffnen: Wir benötigen innerhalb der Organisationen die Möglichkeit, neue Projekte und Ideen entwickeln und umsetzen zu können. Eine positive Fehlerkultur erlaubt uns, ergebnisoffen Neues auszuprobieren.“ (Stadt Wien – Bildung und Jugend)

Die Haltung der Organisation beeinflusst die Haltung der einzelnen Mitarbeiter*innen. Der nächste Abschnitt beschreibt das Wunsch-Mindset der Mitarbeiter*innen für digitale Kinder- und Jugendarbeit:

„Wir lassen uns auf die Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen ein und erkennen durch die Lebensweltorientierung digitale Medien als unablässiges Kommunikationsmittel an.

Wir sind bereit, uns mit digitalen Medien auseinanderzusetzen.“ (Stadt Wien – Bildung und Jugend)

Die Diskussion zum Thema „Wer spricht zu wem?“ begleitete uns lange. Eine Leitlinie bringt dann etwas, wenn nicht von oben herab auf die Jugendarbeit eingeredet wird. Es braucht einen Wandlungsprozess, im Zuge dessen die Wichtigkeit und Wertigkeit von digitaler Kinder- und Jugendarbeit anerkannt werden müssen. Die Arbeit, die die Jugendarbeiter*innen in der Projektgruppe leisten, muss als Beitrag dafür gesehen werden, Kinder- und Jugendliche bei einem selbstbestimmten Leben in einer Gesellschaft im digitalen Wandel zu begleiten.

Es ist essentiell, darüber Verständnis herzustellen, was digitale Kinder- und Jugendarbeit ist, und diese zur gemeinsamen Vision zu machen. So entstehen die ersten Leitlinien, die in der Wir-Form verfasst sind. Beim ersten Treffen der Projektgruppe stand die Frage im Raum: „Wie darf der Prozess auf keinen Fall sein?“ Eine der Antworten war: „Fad und schnell, schnell.“ Nach einem Jahr gemeinsamer Arbeit können wir das mit Sicherheit ausschließen. Und: Gerade unsere unterschiedlichen Arbeitsbereiche, Zielgruppen und Zugänge machen das gemeinschaftliche Erarbeiten der Leitlinien zu einem bereichernden Prozess.


Verweis
1 Verein Wiener Jugendzentren, Wiener Kinderfreunde aktiv, Verein Bahnfrei, Rettet das Kind -– Wien, Verein JUVIVO, Kiddy&Co.


Literatur

Anderle, Michaela/Pöyskö, Anu (2016): Digitale Medien in der österreichischen Jugendarbeit. Eine Studie im Rahmen von Screenagers International Research Project. https://www.wienxtra.at/fileadmin/web/medienzentrum/PDF/Screenagers_Bericht_DigitaleMedienJugendarbeit.pdf (13.07.2020).

BMDW – Bundesministerium für Digitalisierung und Wirtschaftsstandort (2016): Digital Roadmap Austria. Die digitale Strategie der österreichischen Bundesregierung. https://www.digitalroadmap.gv.at (20.08.2020).

bOJA – bundesweites Netzwerk Offene Jugendarbeit (2018): Explizit. Fachmagazin offene Jugendarbeit #digitale Jugendarbeit. https://www.boja.at/sites/default/files/wissen/2020-04/bOJA_Explizit_2018.pdf (13.07.2020).

Digitalyouthwork.eu (2019a): European guidelines for digital youthwork. https://www.digitalyouthwork.eu/guidelines/ (13.07.2020).

Digitalyouthwork.eu (2019b): wienxtra-medienzentrum. Meine Medienbiographie. https://www.digitalyouthwork.eu/wp-content/uploads/sites/4/2019/04/Meine_Medienbiographie_DE.pdf (13.07.2020).

European Commission (2018): Developing digital youth work. Policy recommendations and training needs for youth workers and decision-makers: expert group set up under the European Union Work Plan for Youth for 2016–2018. https://publications.europa.eu/en/publication-detail/-/publication/fbc18822-07cb-11e8-b8f5-01aa75ed71a1  (13.07.2020).

Grimm, Petra (2018): Digitales Leben: zwischen Prometheus und Pandora – Einleitung. In Grimm, Petra/Koziol Klaus (Hg): Der verwertete Mensch. Vom Wandel des digitalen Lebens. München: Kopäd, S. 9–26.

Pekla, Bastian (2018): Digitale Teilhabe: Aufgaben der Verbände und Einrichtungen der Wohlfahrtspflege. In: Kreidenweis, Helmut (Hg.): Digitaler Wandel in der Sozialwirtschaft. Grundlagen – Strategien – Praxis. Baden-Baden: Nomos, S. 57–78.

Pöyskö, Anu (2009): Medienbiographie – ein Leben voller Medien. In: Magazin erwachsenenbildung.at. Das Fachmedium für Forschung, Praxis und Diskurs, Ausgabe 6. http://www.erwachsenenbildung.at/magazin/09-6/meb09-6.pdf (13.07.2020).

Rösch, Eike (2019): Jugendarbeit in einem mediatisierten Umfeld. Impulse für ein theoretisches Konzept. Weinheim Basel: Beltz Juventa.

Stadt Wien – Bildung und Jugend : Leitlinien für digitale Kinder- und Jugendarbeit in Wien. Unveröffentlichtes Arbeitsdokument (in Erarbeitung).

Think difference (2016): Jugendliche in der Jugendarbeit. Identitäten, Lebenslagen und abwertende Einstellungen. https://think-difference.com/wp-content/pdf/Studie_Jugend_Abwertung-final-.pdf (13.07.2020).


Über die Autorinnen


Mag.a Anu Pöyskö
anu.poeyskoe@wienxtra.at

Leiterin und Medienpädagogin WIENXTRA-Medienzentrum.


DSAin Christina Pantucek-Eisenbacher
christina.pantucek-eisenbacher@wien.gv.at

Fachreferentin bei der Stadt Wien – Bildung und Jugend.


Mag.a Michaela Anderle
michaela.anderle@wienxtra.at

Medienpädagogin WIENXTRA-Medienzentrum.