soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 25 (2021) / Rubrik „Thema“ / Standort Graz
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/view/000/000.pdf
Cornelia Forstner:
1. Einleitung
Seit dem Jahr 2004 beschäftige ich mich mit dem Thema der akuten psychosozialen Unterstützung für Menschen nach traumatischen Ereignissen durch meine Tätigkeit im Kriseninterventionsteam des Landes Steiermark (KIT). Was als ehrenamtliche Mitarbeit begann, ging 2010 in eine hauptberufliche Beschäftigung als Leiterin der Koordinationsstelle Krisenintervention über. Als Reaktion auf das Grubenunglück in Lassing 1998 gegründet, besteht dieses Team nunmehr aus 400 ehrenamtlichen AkutbetreuerInnen, die Menschen nach plötzlichen und außerhalb der Vorstellungskraft liegenden, traumatischen Ereignissen unterstützen:
„In der Akutphase […] ist das Team für Betroffene und Angehörige da, hat Zeit zum Zuhören, hilft bei der ersten Orientierung und gibt durch seine Anwesenheit Unterstützung und Sicherheit bis das soziale Netz aufgebaut ist.“ (KIT-Land Steiermark 2013: 43)
Die psychosoziale Akutbetreuung beschreibt der Psychotherapeut und fachliche Leiter, Edwin Benko, als qualifiziertes Ehrenamt. Um mitarbeiten zu können, sind Zugangskriterien zu erfüllen. Das Mindestalter beträgt 25 Jahre, ein psychosozialer Grundberuf oder die aktive Mitarbeit in einer Einsatzorganisation ist Voraussetzung und es muss eine Ausbildung von 185 Stunden absolviert werden. Als qualitätssichernde Angebote sind die Teilnahme an Fortbildungen, Supervisionen, Übungen, Teamtreffen, Einsatznachbesprechungen u.a. verankert. Die Dienste des Kriseninterventionsteams Land Steiermark werden der steirischen Bevölkerung 24 Stunden/Tag unentgeltlich angeboten. Alarmiert wird u.a. durch Behörden, die Polizei, gesetzlich anerkannte Einsatzorganisationen, Krankenhäuser und Bildungseinrichtungen sowie durch Privatpersonen über die Landeswarnzentrale Steiermark. Die Einsätze erfolgen überwiegend nach plötzlichen Todesfällen (vgl. KIT-Land Steiermark 2013: 8–17 & 56–60). Um diese Standards auch österreichweit sicherzustellen, wurde bereits im Jahr 2003 eine Plattform jener Organisationen gegründet, die psychosoziale Akutbetreuung anbieten www.plattform-akutbetreuung.at).
Sind nach 20 Jahren schon viele Rahmenbedingungen geregelt, so spricht Stein (2020) in seinem Buch Spannungsfelder der Krisenintervention einen, mich über die Jahre begleitenden Diskussionspunkt an, der auch unter den Plattformmitgliedern Kontroversen auslöst. Dem Grundsatz, dass „als Regel […] zu gelten [hat], dass eine Hilfestellung immer die ausdrückliche Einwilligung und den Wunsch der Betroffenen voraussetzt und eine etwaige Ablehnung von Unterstützungsangeboten zu respektieren ist“ (Stein 2020: 162) stellt er die Sinnhaftigkeit einer zeitnahen Intervention gegenüber. Er führt aus, dass psychosoziale Interventionen, die Betroffenen nach akuten Traumatisierungen möglichst unmittelbar nach dem Ereignis angeboten werden, das Risiko herabsetzen, später Traumafolgestörungen zu entwickeln. Doch daran schließt sich unmittelbar die Frage an, ob diese ausdrückliche Einwilligung in der Akutsituation überhaupt eingeholt werden kann.
Die Problematik möchte ich gleich zu Beginn an einem drastischen Praxisbeispiel verdeutlichen: Stellen Sie sich vor, die Polizei überbringt Ihnen die Nachricht, dass ihrE LebenspartnerIn einen schweren Unfall hatte und verstorben ist. Und im selben Moment werden sie gefragt, ob Sie die Hilfe eines Kriseninterventionsteams in Anspruch nehmen möchten. Wer oder was sollte Ihnen in diesem Moment Hilfe sein? Niemand kann das Geschehene ungeschehen machen. Auf Grundlage welcher Erfahrungen sollten Sie in diesem stressreichen, außerhalb der Vorstellungskraft liegenden Moment Entscheidungen treffen? Die Praxis zeigt, dass das Fragen in diesen Situationen immer wieder dazu führt, dass Hilfe nicht ankommt.
Die Praxisanalyse zeigt die Spannungsfelder der fremdinitiierten Kontaktaufnahme, im Zusammenhang mit der wesentlichen Frage nach der „hilfreichen Hilfe“ und der daraus resultierenden, professionellen Haltung auf. Im folgenden Beitrag soll es gelingen, durch die Auseinandersetzung mit einzelnen Themen – der Definition und den Rahmenbedingungen der psychosozialen Akutintervention, der Komplexität von Entscheidungen, der Psychotraumatologie, den Faktoren der aufsuchenden, niederschwelligen Sozialarbeit und der hilfreichen Hilfe – die Wichtigkeit des Kontaktangebotes für Menschen in Krisen aufzuzeigen. Durch die kritische Betrachtung soll herausgearbeitet werden, wie verhindert werden kann, dass einerseits benötigte Hilfe nicht ankommt und dass andererseits psychosoziale Unterstützung übergestülpt wird.
2. Psychosoziale Akutintervention
Der Fokus dieses Artikels liegt auf der akuten Hilfeleistung in psychischen Ausnahmesituationen mit traumatischer Qualität. Die unterschiedlichen Definitionen dieser frühen Interventionen ergeben, nicht zuletzt aufgrund professionsspezifischer Unterschiede, ein inkongruentes Bild. So definieren z.B. die Psychotherapeuten Bengel & Becker-Nehring (2013) alle Maßnahmen innerhalb der ersten drei Monate nach dem traumatischen Ereignis als Frühintervention. Im englischsprachigen Raum wurden die Begrifflichkeiten early interventions (Hobfoll et al. 2007) sowie der Begriff der psychischen Ersten Hilfe, psychological first aid, durch die WHO (2011) geprägt (vgl. Hausmann 2016: 106–107). In seinen Ausführungen bringt es Hausmann auf den Punkt, indem er beschreibt:
„Wenn man alle Maßnahmen vor Beginn einer möglichen Therapie in einer Kategorie zusammenfasst, ignoriert man die spezielle Dynamik der kognitiven, emotionalen und sozialen Bedingungen der ersten Zeit nach dem Notfall.“ (Hausmann 2016: 107)
Krüsmann & Müller-Cyran (2005: 90) führen den Begriff der peritraumatischen Intervention ein, die psychisch traumatisierte Menschen dabei unterstützen soll diese herausfordernde Situation ohne gesundheitliche Folgebelastungen zu überstehen. Damit gehört die psychosoziale Notfallversorgung, die zeitlich so nahe als möglich eintreten soll, zur sekundären Prävention. Dieser Artikel bezieht sich auf die Kontaktaufnahme in der peritraumatischen Situation und im Folgenden wird die Begrifflichkeit psychosoziale Akutintervention (early interventions) verwendet.
3. Psychotraumatologie – Definition und Auswirkungen
3.1 Psychisches Trauma
In der Medizin wird unter einem Trauma eine gewaltsame Einwirkung auf den Körper mit nachhaltiger Schädigung verstanden (z.B. Schädel-Hirn-Trauma). Dieses Sinnbild gilt auch für die psychische Traumatisierung (vgl. Hausmann 2016: 40). Fischer und Riedesser (2009: 84) definieren das psychische Trauma als seelische Verletzung und als ein
„vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit dem Gefühl von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses erwirkt.“
Diese traumatischen Situationen können nicht mehr in normaler Weise verarbeitet werden, weil es in der rezeptorischen Sphäre des Gehirns zu Veränderungen kommt, die das Zeit-, Raum- und Selbsterleben beeinflussen. Gestört wird auch die effektorische Sphäre, die eine Unterbrechung des momentanen Handelns bewirkt und einen panikartigen Bewegungssturm oder auch eine völlige Erstarrung nach sich ziehen kann. Zusätzlich werden die Schemata der Wahrnehmungsverarbeitung durch traumatische Ereignisse strukturell verändert. Bis zu einem gewissen Grad lassen sich neurophysiologische Veränderungen in der traumatischen Situation mit den Konzepten der Stressforschung beschreiben. Darüber hinaus gibt es spezifische, Trauma-bezogene Veränderungen. So etwa die chronische Dysregulation der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenachse mit hypersensitivem, aber gleichzeitig herunterregulierendem Cortisolspiegel. Flashbacks, Pseudo-Erinnerungen und dissoziative Zustände sind Trauma-spezifische Symptome. Letztgenannte dienen zur Selbsterhaltung des psychobiologischen Systems und sichern das Überleben (vgl. Fischer/Riedesser 2009: 84–85 & 120).
Traumatische Ereignisse haben ein traumatisierendes Potenzial, bedingen jedoch nicht automatisch eine Erkrankung. „Es gibt so viele Möglichkeiten, traumatische Erfahrungen zu erleben und zu verarbeiten, wie es Menschen gibt.“ (Krüsmann/Müller-Cyran 2005: 21) Erst 1980 wurde erstmals ein Störungsbild in das Diagnosemanual, das heute unter der Bezeichnung DSM IV, Diagnostic and Statistical Manual of Metal Disorders, zur Verfügung steht, aufgenommen So haben sich die akute Belastungsreaktion sowie die Posttraumatische Belastungsstörung etabliert und werden in ihrer Ausdifferenzierung stets weiterentwickelt (vgl. Krüsmann/Müller-Cyran 2005: 19–22).
Die Ausführungen zur Psychotraumatologie lassen erahnen, in welchen Ausnahmesituationen sich Menschen nach plötzlichen Ereignissen befinden und wie sie reagieren. Diese akuten Stressreaktionen haben auch Auswirkung auf eine willentliche Entscheidungsfindung.
3.2 Die Komplexität der Entscheidung aus psychologischer und hirnphysiologischer Sicht
Unter dem Begriff der Entscheidung verstehen Pfister, Jungermann & Fischer (2017: 3) „einen mentalen Prozess, dessen zentrale Komponenten Beurteilungen (judgements), Bewertungen (evaluations) und Wahlen (choices) sind.“ Ein Entscheidungsprozess beginnt mit der Wahrnehmung durch die Person, dass es mindestens zwei Optionen gibt oder dass eine Diskrepanz zwischen einem gegebenen und einem erwünschten Zustand besteht, die zur Suche von Optionen veranlasst. Dieser Suchprozess wird durch die Festlegung auf eine Option oder die Umsetzung in eine Handlung beendet. Eine rückblickende Bewertung schließt sich oftmals der Entscheidung an. Voraussetzungen für Entscheidungen sind die Faktoren Wissen, Motivation und Emotion (vgl. ebd. 2017: 3–8).
Hirnforscher Gerhard Roth (2019) unterstreicht die Schwierigkeit, Entscheidungen in Stresssituationen zu treffen, da man unter Druck nicht ausreichend denken kann.
„[D]er menschliche Verstand [kann] komplizierte Entscheidungssituationen allein schon aus Gründen der Komplexität des Problems, der mangelnden Kenntnis von Anfangs- und Rahmenbedingungen und wegen der Begrenztheit der Berechenbarkeit gar nicht bewältigen.“ (Roth 2019: 226)
Emotionen spielen eine nicht zu unterschätzende Rolle bei Entscheidungen. Durch eine Sammlung an Erfahrungen entscheiden Menschen oftmals wie in vergleichbaren Situationen.
Als Willenshandlungen werden jene Handlungen verstanden, für die Alternativen bestehen, die bei Menschen mit dem Gefühl der Selbstverursachung einhergehen, selbst die Möglichkeit zu haben, etwas zu tun oder zu lassen. Davon zu unterscheiden sind reflexartige Reaktionen, die auftreten, bevor uns die Situation überhaupt bewusst ist. Aufgrund dieser Beschaffenheit ist es Menschen nicht möglich, diese willentlich zu unterdrücken (vgl. Roth 2019: 155 & 194–195).
Wenn sich Menschen willentlich überlegen, was sie tun wollen und Alternativen abwägen beziehungsweise darüber nachdenken, wie sie die Handlungen ausführen wollen, so geschehen diese Vorgänge hauptsächlich im Arbeitsgedächtnis (dorsolateraler präfortaler Cortex). Die Kapazität dieser Gehirnregion ist allerdings begrenzt. Unter starkem psychischen Druck, insbesondere unter Stress oder wenn Gefahr droht, kommt es häufig zu einer spontan-affektiven Entscheidung. Im Gehirn werden die Regionen des Hypothalamus, der Amygdala und des zentralen Höhlengrau angesprochen. Tief in uns verwurzelte Verhaltenstendenzen wie Flucht, Angriff, Erstarren oder Unterwerfung (Resignation) werden freigesetzt. Diese Verhaltensweisen sind ebenso richtig wie falsch. Entscheidungen, die hochgradig reaktiv getroffen werden, beinhalten ein unvermeidbares Risiko. Adrenalin und Noradrenalin werden in hohen Dosen ausgeschüttet und legen den präfortalen Cortex lahm. Gegenstrategien zu entwickeln ist schwierig und könnte nur durch Training erlernt werden (vgl. Roth 2019: 202; 209; 218–223).
Die Erkenntnisse zeigen auf, dass weder ein Ja noch ein Nein eine willentliche Entscheidung in der Ausnahmesituation darstellt. Umso mehr sind wir gefordert bei einer fremdinitiierten Kontaktaufnahme Kriterien der hilfreichen Hilfe zu berücksichtigen.
4. Hilfreiche Akut-Hilfe
Ausschlaggebend für die Hilfeleistung in Notsituationen ist nach Bierhoff (2010) das Funktionieren der Rettungskette, das das Erkennen einer Notsituation voraussetzt. „Je größer der Schweregrad der Notlage, desto größer ist der Hilfeleistungsbedarf.“ (Bierhoff 2010: 131) Hilfe in akuten Notsituationen oder eine Hilfeleistung, die nur eine kurzfristige Abhängigkeit mit sich bringt, kann insgesamt leichter angenommen werden. Als geringere Freiheitseinschränkung wird die Hilfeleistung dann erlebt, wenn ein Problem aufgetreten ist und die Aufgabe als unlösbar eingeordnet wird. Positiv vom Hilfeempfänger bewertet wird die Hilfeleistung, wenn sie im Kontext von Gegenseitigkeit besteht und wenn sie nicht als Geschenk, das eine stärkere Positionierung des Helfers definiert, verstanden wird. Sind Helfer und Hilfeempfänger unähnlich, so dürfen die HelferInnen über Fähigkeiten und Mittel verfügen, die den anderen zu fehlen scheinen (vgl. Bierhoff 2010: 188–209).
Hilfe aufzudrängen, wenn die Zielperson keine Hilfe wünscht oder dieses Bedürfnis nicht verspürt, kann zu negativen Reaktionen, vor allem zu negativen Gefühlen führen. Wird von sich aus um Hilfe gebeten, so könnte dies vermuten lassen, dass die Wahlfreiheit gegeben ist und dadurch die Hilfeleistung positiv konnotiert wird. Doch auch diese Bitte ist nicht unproblematisch, da sie mit dem Eingestehen der eigenen Notlage einhergeht. Als hilfreich wird jenes Hilfeangebot verstanden, das angeboten wird, jedoch nicht zwingend genutzt werden muss und dessen Inanspruchnahme gesellschaftlich (external) anerkannt ist. Ob Hilfe als hilfreich oder sogar bedrohlich erlebt wird, hängt von dem subjektiv erlebten Grad der Selbstunterstützung ab. Die Freiheit des Handelns darf nicht bedroht werden und es darf kein Gefühl des Kontrolliert-Werdens entstehen. Hilfreich wird Hilfe dann erlebt, wenn der Nutzen erkennbar ist, wenn die Unterstützung durch das soziale Umfeld erfolgt und wenn eine persönliche Anerkennung zum Ausdruck kommt. Als negativ wird Hilfe gesehen, wenn Gefühle der Schwäche durch Vergleichsprozesse gesteigert werden, wenn es zu Einschränkungen von Freiheit kommt sowie ein Erwartungsdruck aufgebaut wird (vgl. Bierhoff 2010: 188–209).
4.1 Psychosoziale Akutunterstützung als ein niederschwelliges Angebot
Wird psychosoziale Akutbetreuung meist aus Sicht der Psychologie betrachtet, so lassen sich auch Methoden aus der Sozialen Arbeit ableiten. Ich wage zu behaupten, dass diese Aspekte bisher noch wenig Beachtung fanden, da sich im Besonderen die Notfallpsychologie und Trauma-spezifische Psychotherapie in den letzten 30 Jahren entwickelten und die Sozialarbeit zwar im Feld der Krisenintervention tätig ist, jedoch bisher kaum explizite Äußerungen zur Intervention in akuten Krisen eingebracht hat.
Galuske (2013: 138–140) beschreibt die Unterschiede der Sozialen Arbeit zur Psychotherapie im Spannungsfeld zwischen alltagsnahen und alltagsfernen Interventionen und unterstellt der Psychotherapie eine Konzentration auf Schlüsselprobleme und eine Reduktion der Lebensweltkomplexität. Dem gegenüber steht die Soziale Arbeit, die sich auf diese Komplexität mit ihren Widersprüchlichkeiten, Problemen und Krisen einlässt. Soziale Arbeit findet nicht selten bei KlientInnen zu Hause statt und muss daher auf ein flexibles Spektrum von Interaktions- und Problembearbeitungsmustern zurückgreifen können und Interventionen möglichst alltagsorientiert realisieren. Therapeutischer Hilfe wird, trotz der Berücksichtigung von Beziehungen in Primärgruppen, eine gewisse Alltagsferne aufgrund konstruierter Zusammenhänge zugeschrieben. Sozialarbeit versteht sich als aufsuchende und auf die Menschen zugehende Profession und versucht dadurch die Hindernisse, Hilfe in Anspruch zu nehmen, so gering wie möglich zu halten (vgl. Kähler/Gregusch 2015: 31).
Im Zusammenhang mit der aufsuchenden Sozialarbeit (vgl. Galuske 2013: 146; 292) wird der Begriff der Niederschwelligkeit verwendet. Niederschwellige Soziale Arbeit stellt das Gewinnen eines Zugangs zu Hilfsangeboten und ein stabiles Beziehungsangebot in den Vordergrund, hält Erwartungen an die Klientel niedrig, um nicht zu überfordern, und hat „die Funktion der Humanisierung und Personalisierung von Beistand und Hilfe“ (Mayrhofer 2012: 153). Ziel der niederschwelligen Sozialen Arbeit ist es, Optionen zur Bearbeitung individueller Probleme der Lebensführung zu finden und eine Anschlussfähigkeit an Angebote der Sozialen Hilfe für Menschen in prekären Lebenssituation zu ermöglichen (vgl. Mayrhofer 2012: 151–156).
Diese Aspekte finden sich auch in der psychosozialen Akutintervention, im „nur“ Dasein als Intervention, im gemeinsamen (Er-)tragen von Trauer, im Begleiten, um zu überleben, oder in der Unterstützung bei lebenspraktischen Tätigkeiten. Veränderungs-, Entwicklungs- und Problembearbeitungsprozesse stehen nicht im Vordergrund.
4.2 Vier Umsetzungsdimensionen der niederschwelligen Sozialen Arbeit
4.2.1 Zeitliche Dimension
Niederschwelligkeit wird zeitbezogen realisiert, wenn ein Angebot rund um die Uhr zur Verfügung steht und wenn keine Termine vereinbart werden müssen. Weitere Aspekte der zeitlichen Dimension bestehen in der flexiblen Gestaltung der Dauer des Angebotes, das sich an den Bedürfnissen und Anforderungen einzelner KlientInnen orientiert sowie im fehlenden Zeit- und Ergebnisdruck (vgl. Mayrhofer 2012: 159–161). Hier sind viele Parallelen zur psychosozialen Akutintervention zu finden. Die MitarbeiterInnen stehen rund um die Uhr in Bereitschaft. Es müssen keine Termine vereinbart werden. Ohne Zeitdruck in den Einsatz zu gehen, ist ein Grundprinzip der Akutintervention.
4.2.2 Räumliche Dimension
Ziel ist es, räumliche Nähe herzustellen, um in Interaktion mit den betroffenen Menschen zu kommen. Dies kann an öffentlichen Orten oder im privaten Wohnbereich sein. Angebote, die im gewohnten Lebensumfeld der KlientInnen stattfinden, gelten als besonders niederschwellig. Zu beachten ist dabei, dass in diesem Setting die Schwelle von den MitarbeiterInnen und nicht von den KlientInnen überschritten wird und diese als Gast eventuell auch weniger geschützt sind (vgl. Mayrhofer 2012: 164–166).
4.2.3 Inhaltliche bzw. sachliche Dimension
Niederschwelligkeit in inhaltlicher Hinsicht zeigt auf, dass sich Problemlagen nicht einschränken lassen können, sondern dass es das Ziel ist, dass sich Menschen mit allen Anliegen und Problemen an eine Stelle wenden können. Eine weitere Offenheit besteht darin, dass die persönliche Verfassung der KlientInnen kein Ausschließungsgrund für eine Kontaktaufnahme darstellt. Dieser Zugang ist auch für Betroffene in akuten Notsituationen ableitbar. Die Reaktionen sind sehr unterschiedlich. So kann es z.B. vorkommen, dass jemand in einer Ecke hockt, ohne ein Wort zu sagen oder einen Blickkontakt herzustellen. In der niederschwelligen Sozialen Arbeit besteht nur zum Teil eine Zielgruppenoffenheit. Es wird davon ausgegangen, dass vor allem jene niederschwellige Unterstützung erhalten, die keinen Zugang zu institutionalisierten Hilfsangeboten haben.
Die psychosoziale Akutintervention richtet sich an jene Menschen, die ein bestimmtes Ereignis erlebten. Die Herausforderung liegt darin auf Kinder und Jugendliche nicht zu vergessen, getrennt lebende Elternteile zu informieren und auch älteren und kranken Menschen zuzutrauen, dass sie die Wahrheit erfahren usw. In Bezug auf die Erreichung von Zielen zeichnet sich der niederschwellige Zugang durch niedrige Erwartungen und Anforderungen aus. Das trifft auch im Akuteinsatz zu. Ziel ist es, die Situation zu überleben und die nächsten kleinen Schritte zu gehen (vgl. Mayrhofer 2012: 166–170).
4.2.4 Soziale Dimension
Die soziale Dimension umfasst die Faktoren der Beziehungsgestaltung. Die Anonymität wird häufig, aber nicht immer als wesentlichstes Merkmal definiert. Sie wird durch Vorgehensweisen sicher gestellt, die sich auch mit denen in der Akutintervention decken, so z.B. durch das Fehlen einer personenbezogenen Dokumentation und Aktenführung. Diese beschränkte Adressierbarkeit ermöglicht ein großes Maß an Unverbindlichkeit. Gelingt es, das notwendige Vertrauen herzustellen, so tritt der Faktor der Anonymität in den Hintergrund.
Niederschwellige Sozialarbeit impliziert ein Maß an Freiwilligkeit und die Entscheidungsermächtigung der KlientInnen. Der proaktive Zugang der niederschwelligen Tätigkeit eröffnet das Spannungsfeld im Hinblick auf die Freiwilligkeit. Wesentlich ist, den AdressatInnen das Recht zuzuerkennen das Angebot ablehnen zu dürfen und darauf mit einem entsprechenden Rückzug zu reagieren. Ein Aufzwingen muss jedenfalls verhindert werden, außer es handelt sich um eine Situation, in der das Leben in Gefahr ist und jeder Mensch gefordert ist, Erste Hilfe zu leisten (vgl. Mayrhofer 2012: 170–175).
Für die Akutbetreuung lassen sich hier Grundsätze ableiten, die vor allem aufgrund der involvierten Drittmelder (z.B. Alarmierung durch die Polizei) noch verstärkt werden. Die grundlegende Problematik ist, dass die psychosoziale Notwendigkeit einer Unterstützung durch Dritte eingeschätzt wird. Analog zu den Einsatzkräften ist auch hier grundsätzlich vom Ereignis auszugehen und die Einschätzung der jeweils zuständigen Hilfe-Einheit zu überlassen. Wird zum Beispiel die Feuerwehr wegen eines Brandes alarmiert, so begibt sich diese vor Ort, um die Lage zu erkunden, und lässt sich nicht „abbestellen“. So lautet auch der Grundsatz der Akutbetreuung: besser einmal zu oft reagieren, um festzustellen, dass ein soziales Netz vorhanden ist und sich die Betroffenen gegenseitig stützen können, als einmal zu wenig. Denn die Beobachtung, dass „eh die Familie schon da ist“ – diese Aussage hören wir oft –, ist kein Indiz dafür, dass dieses Netz auch trägt, wenn es sich bei dem Ereignis z.B. um den vierten Suizid in der dritten Generation handelt.
Das Ziel, durch die Unverbindlichkeit eine längerfristige Verbindung anzustreben, ist in der aufsuchenden Sozialarbeit gegeben, in der Akutintervention nur zum Teil. Grundsätzlich gehen wir davon aus, dass sich AkuthelferInnen im System wieder überflüssig machen – die Hilfe zur Selbsthilfe und die Stärkung der gegenseitigen Hilfeleistung im sozialen System stehen im Vordergrund. Zusätzlich vertrauen wir auch auf die „Selbstheilungskräfte“ (Stein 2020: 162) der Betroffenen. Bei komplexen Betreuungslagen (z.B. die Amokfahrt von 2015) oder wenn Risikofaktoren bestehen, kann die Hilfeleistung länger andauern. Wir sprechen dann von Interventionen in der Übergangsphase, die je nach Bedarf von AkutbetreuerInnen oder psychosozialen Fachkräften durchgeführt werden (vgl. KIT-Land Steiermark 2013: 11 & 23–24).
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die psychosoziale Akutintervention vielfältige Merkmale eines niederschwelligen Angebotes aufweist. Und dennoch müssen einige Schwellen überschritten werden. Die erste besteht in der Notwendigkeit, dass Einsatzkräfte vor Ort die erste Einschätzung treffen, die zweite Schwelle tut sich auf, sobald die KIT-MitarbeiterInnen vor Ort ein Kontaktangebot tätigen, und die dritte Schwelle besteht man oftmals hinsichtlich der Vernetzungsarbeit.
4.3 Kontakte und Begegnungen
Durch die Akutintervention wird den Menschen vermittelt, dass sie nicht alleine sind. Das Hilfsangebot ist als Kontaktangebot zu verstehen, dass sich nach Rahm (zit.n. Schäfter 2010: 23) durch eine kurze Dauer und eine geringe emotionale Intensität auszeichnet. Wiese (1966) beschreibt den Kontakt als „soziale Berührung“, der über den Schritt der Duldung und des Kompromisses zur Annäherung und Anpassung führt. Kontakte werden zu Begegnungen mit Menschen, wenn die Dauer gering bleibt, jedoch eine hohe emotionale Intensität entsteht. Beziehung hingegen ist gekennzeichnet durch die Dauerhaftigkeit in unterschiedlicher emotionaler Intensität und Nähe (vgl. Schäfter 2010: 24).
Steins (2020) kritische Bemerkung zum Aktivismus der AkuthelferInnen, die Unterstützungsangebote aufdrängen und die Selbstheilungskräfte der betroffenen Menschen unterschätzen, durchbrechen Sonneck und Kapusta mit ihren Ausführungen zum Erstkontakt, wenn wir bemerken, dass jemand verstört oder verweint ist. Sie fordern auf: „Sprechen wir ihn einfach an“ (Sonneck/Kapusta 2016: 69). Sie kennzeichnen diese Kontaktaufnahme durch das Interesse und die Aufmerksamkeit als zunächst wichtigste Hilfe. Es braucht ein Gegenüber, das sich Zeit nimmt und eine Gelegenheit des Aussprechens und Angehört-Werdens schafft sowie Gefühle und Schwierigkeiten ernst nimmt (vgl. Sonneck/Kapusta 2016: 68).
Karl Heinz Ladenhauf, Theologe, Psychologe, Psychotherapeut und ehrenamtlicher Mitarbeiter des KIT-Land Steiermark unterstreicht Sonnecks Ausführungen:
„Oft sind die betroffenen Menschen überrascht, dass diese Unterstützung unaufgefordert und ohne Kosten erfolgt. Sie werden wertgeschätzt und die eigenen Fähigkeiten und Ressourcen, die die Familien und die Nachbarschaft einbringen können, werden unterstützt und aktiviert. […] Wir vermitteln: ‚Ich bin es wert, dass sich wer um mich kümmert mit meiner Lebenssituation‘.“ (Ladenhauf zit.n. Benko 2014: 207)
Sonneck und Kapusta (2016: 69) richten einen weiteren Appell an Helfende: „Ziehen wir uns nicht gleich zurück“. Manche Menschen sind es nicht mehr gewohnt, ernst gemeinte Anteilnahme zu erhalten und oftmals stehen die Betroffenen so unter Druck, dass zunächst die Emotion zum Ausdruck kommt. Ihr Hinweis „und versuchen es später wieder“ zeigt auf, dass ein proaktiver Zugang, das Zugehen auf Menschen in Not, gefordert ist.
In der psychosozialen Akutbetreuung werden wir über Dritte alarmiert. Dadurch entstehen fremdinitiierte Kontaktaufnahmen. Kähler & Gregusch (2015: 31) formulieren als wesentliche Faktoren dieser Erstkontakte: Information, Motivation und Vertrauensbildung. So gilt es in der Akutunterstützung, gleich zu Beginn den Anlass der Hilfeleistung mitzuteilen und die Hilfsbereitschaft und die Hilfemöglichkeiten auszusprechen. Äußerst wichtig ist es, darauf hinzuweisen, dass es sich um ein Angebot und keinen Zwang handelt (vgl. Sonneck/Kapusta 2016: 72). Konnte der Kontakt hergestellt werden, so orientiert sich das Angebot der psychosozialen Akutintervention an folgenden Wirkfaktoren.
4.4 Wirkfaktoren in der psychosozialen Akutintervention
Hausmann (2016) formuliert in Anlehnung an Hobfoll et al. (2007) fünf wesentliche Elemente positiv wirkender, psychosozialer Interventionen. Dazu gehören Sicherheit, Beruhigung, Selbstwirksamkeit, Verbundenheit sowie Zukunftsorientierung und stellvertretende Hoffnung.
Die (äußere) Sicherheit wird wiederhergestellt, indem Betroffene von der Gefahrenstelle weg an einen gesicherten Ort gebracht werden, eine medizinische Versorgung sichergestellt wird, Schutz vor MedienvertreterInnen oder Schaulustigen geboten wird u.a.m. Die Weitergabe von gesicherten Informationen und Informationen zu Abläufen, um Antworten auf sich aufdrängende Fragen zu erhalten, stärkt das Grundvertrauen.
Unter Beruhigung sind in der Akutphase die Stressreduktion sowie eine äußerliche und innerliche Distanzierung zu verstehen, um Abstand zum Ereignis zu gewinnen. Als hilfreich haben sich dabei Psychoedukation, Gespräche, die Förderung positiver Emotionen, gezieltes Spiel und Ablenkung bei Kindern, das Durchführen von Stressbewältigungstechniken wie z.B. Bewegung in der Natur oder Entspannungstechniken erwiesen.
Selbstwirksamkeit wird gefördert, indem Menschen angeleitet werden – und ihnen auch zugetraut wird –, selbst bei der Bewältigung des Notfalles mitzuwirken und sie so ins Handeln gebracht werden. Es ist wichtig, Betroffenen im überschaubaren Rahmen Entscheidungen zuzumuten und sich dadurch wieder selbst wirksam zu spüren. Handeln und Entscheiden sind das „Gegengift“ gegen Ohnmacht und Hilflosigkeit.
Unter Verbundenheit sind die rasche Aktivierung der sozialen Kontakte – Familienangehörige, FreundInnen und Betroffenen untereinander – sowie die Sicherstellung von sozialer Unterstützung zu verstehen.
Der Wirkfaktor der Zukunftsorientierung meint, dass erste kleine Schritte in die nahe Zukunft besprochen und vorbereitet werden, z.B. die Fragen, wer heute Abend die Kinder ins Bett bringt oder wie ein Abschiednehmen möglich ist. Dadurch werden sie bewältigbar. HelferInnen sind Symbole für die stellvertretende Hoffnung, da sie durch das Wissen über Abläufe und durch das positive Verstärken von beginnender Selbsthilfe vermitteln, dass es außerhalb der herausfordernden Situation noch ein „anderes“ Leben geben kann (vgl. Hausmann 2016: 150–153).
4.5 Grundprinzipien und Haltung
Zeigen die Wirkfaktoren auf, was zu tun ist, so wird im Folgenden erläutert, wie dies zu tun ist. An welchen Haltungen und Prinzipien orientieren sich AkutbetreuerInnen, um qualifiziert hilfreich zu sein?
Von Spiegel (2018: 82; 90–91) weist darauf hin, dass die berufliche Haltung neben dem Wissen und Können die dritte Dimension der Kompetenz darstellt. Das wertvollste Wissen und das beste Können reichen nicht aus, wenn die humanistische Grundhaltung fehlt, denn „unsere Haltung äußert sich im Verhalten“ (Ladenhauf 2020). Sich mit seinen persönlichen, beruflichen und den gesellschaftlichen Werten auseinander zu setzen, ist für ein professionelles Handeln in helfenden Settings unabdingbar. Zu den Standards der beruflichen Haltung gehören die Akzeptanz individueller Sinnkonstruktionen, die Achtung der Autonomie und Würde der AdressatInnen, die Ressourcenorientierung, die anerkennende Wertschätzung sowie die Partizipation.
Bezogen auf Maßnahmen der akuten Krisenintervention definieren Sonneck/Kapusta (2016: 32–38) und Stein (2020: 159) weitere Grundprinzipien: Helfende nehmen eine aktive, auf die Person zugehende Haltung ein. Im Mittelpunkt stehen Unterstützungsmaßnahmen, die im Moment den emotionalen Druck verringern. Die Umwelt und soziale Ressourcen werden miteinbezogen. KrisenhelferInnen stellen sich individuell auf das subjektive Krisenerleben der betroffenen Person, auf deren aktuelle Lebensumstände, ihre Persönlichkeit, ihre Ressourcen und Bewältigungsstrategien ein. Benko ergänzt den Grundsatz: „Jeder Einsatz ist ein erster Einsatz.“ (Benko 2020)
Wesentlich beim Finden von Bewältigungsstrategien ist, dass Betroffene diese aus sich selbst heraus entwickeln. Diese Grundhaltung stärkt das Selbstwirksamkeitserleben der Person in Not. In der Sozialen Arbeit sind diese Ansätze unter den Begriffen Hilfe zur Selbsthilfe, Empowerment und Lebensweltorientierung zu finden (vgl. Galuske 2013).
Helfende stehen aufgrund der unterschiedlichen Reaktionen und Bedarfe der Betroffenen im Spannungsfeld zwischen aktivem Intervenieren und der Förderung von Selbsthilfe. Die direktiveren Elemente sind dabei bei der Informationsweitergabe, der Strukturierung und der Vermittlung von Hilfsangeboten zu sehen. Besonders herausfordernde Situationen können sich in der Begleitung ergeben, wenn die Intervention „nur“ im Aushalten und Mittragen der Verzweiflung des Betroffenen besteht. Diese vermeintliche Passivität des Helfenden könnte missinterpretiert werden (vgl. Stein 2020: 158–162). Benko (2006: 190–191) prägt in diesem Zusammenhang den Begriff des „aktiven Nicht-Tuns“. Er beschreibt das Dasein, die volle Aufmerksamkeit und das Sich-zur-Verfügung-Stellen des Helfenden für das Gegenüber, ohne unmittelbar aktive Handlungen zu setzen.
AkutbetreuerInnen müssen weiters in der Lage sein, sich in komplexen Situationen zurecht zu finden. Hier wird die Anwendung der beiden Grundprinzipien Flexibilität und Struktur sichtbar. Die Einhaltung der Verschwiegenheitspflicht ist oberste Prämisse (vgl. Stein 2020: 158–162).
Abeld (2017: 206–209) hebt in seinen Ausführungen einen weiteren Aspekt in Bezug auf das Verstehen-Wollen von HelferInnen hervor. Dieses basiert auf den drei Grundhaltungen des Nicht-Verstehens, des Nicht-Wissens sowie der Nicht-Identität. Dabei beschreibt das Nichtidentische die Anforderung an die Professionalität, den eigenen Erlebens- und Deutungshorizont zugunsten einer mitfühlenden, verantwortlichen Zuwendung zum Anderen hin zu verlassen. Auch können HelferInnen dem Anspruch auf ein eindeutiges und allumfassendes Verstehen ohne Widersprüche niemals gänzlich gerecht werden. Um verstehen zu können, muss Toleranz gegenüber dem Nichtverstehbaren, dem anderen und fremden entwickelt und die Begrenztheit des Verstehens angenommen werden.
In anderen Worten formuliert dies Ladenhauf, indem er ausführt, dass Hilfe auch kränkend sein kann, wenn versucht wird den Betroffenen das Leid „wegzunehmen“. Menschen in Not finden eine wesentliche Stütze ihrer Integrität und Identität im Leid. Die Qualität des Beistandes besteht im Einlassen, ohne die Betroffenen oder auch sich selbst unter Druck zu setzen. Dies führt zur Erleichterung, da sie/er sich nicht verändern muss, eine Lösung nicht im Vordergrund steht: „[D]er Verzicht auf das Helfenwollen oder Helfenmüssen [stellt paradoxerweise] die entscheidende Hilfe dar, weil der Druck[,] etwas tun zu müssen, das einfache Dasein erschwert oder unmöglich macht.“ (Ladenhauf zit.n. Benko 2014: 208)
Alle genannten Grundprinzipien zeigen auf, dass Organisationen, die psychosoziale Akutbetreuung anbieten, Formen der Selbstreflexion zur Sicherung der hilfreichen Hilfe institutionalisieren müssen (vgl. Stein 2020: 159).
5. Vom Entweder-oder zum Sowohl-als-auch
Die Ausführungen verdeutlichen, dass vielfältige Faktoren zusammenspielen, die es Betroffenen erschweren sich in akuten Krisensituationen Hilfe zu holen. Stressreaktionen schränken eine freie Willensbekundung durch eine fehlende abgesicherte Entscheidungsfähigkeit enorm ein. Hinzu kommen die Umstände des Ereignisses, welches plötzlich und unerwartet eintritt und häufig mit Gefühlen der Ohnmacht und Hilflosigkeit einhergeht. Eine Einschätzung darüber, was mir in dieser Situation von Nutzen sein könnte und welche Optionen mir zur Verfügung stehen, ist nur bedingt zu treffen.
Eine differenzierte Betrachtung der Theorie zeigt, dass jegliche Entscheidung, egal, ob sie mit einem Ja oder einem Nein endet, in der Akutsituation als reflexartig einzustufen ist. Das Ja könnte nicht als Zustimmung gemeint sein und auch das Nein nicht als Ablehnung. Oftmals kann erst durch das direkte Erleben der Hilfeleistung, durch den Erhalt hilfreicher Informationen, durch das Wahrnehmen, dass es gut ist, wenn jemand da ist usw., eine Einschätzung des Nutzens erfolgen. Es liegt an den Helfenden und an deren Haltung achtsam Hilfe anzubieten und auch eine Ablehnung anzunehmen. Stellen wir in Rechnung, dass es Menschen leichter fällt, Hilfe anzunehmen, wenn sie ihnen angeboten wird und wenn ein Ablehnen möglich ist, dann sollte Menschen in Ausnahmesituationen ein fremdinitiierter Kontakt jedenfalls angeboten werden.
Deutlich wurde auch, dass es professionsspezifische Unterschiede in der Sichtweise der aufsuchenden Hilfe gibt und dass hier die Sozialarbeit durch bestehende Konzepte der niederschwelligen Arbeit einen methodischen Zugang anzubieten hat, der in anderen Professionen eventuell fehlt. Dieser niederschwellige Zugang impliziert, dass es professionelle Hilfeleistungen gibt, die sich als Kontakt- und vielleicht erst später als Beziehungsangebot darstellen und gut angenommen werden können, weil das Begleiten und nicht die Veränderung im Vordergrund steht. Obwohl das KIT-Land Steiermark an eine behördliche Struktur angegliedert ist, bietet es, eine schier unglaublich unbürokratische, niederschwellige Hilfeleistung zum psychischen Überleben der Menschen an. Auch wenn ich eine Verfechterin davon bin, dass nicht alles ins Ehrenamt ausgegliedert werden darf und Ehrenamt auch Hauptamt braucht, so scheint es doch, dass ein qualifiziertes Ehrenamt akut rasch und dennoch kompetent Strukturen zur Sicherung einer psychosozialen Akutintervention aufbauen kann. Die Corona-Krise (KIT-Land Steiermark stellte innerhalb von 24 Stunden eine psychosoziale Hotline auf die Beine), aber auch die Amokfahrt in Graz, die Tsunamikatastrophe u.v.a.m. haben gezeigt, dass es Organisationen braucht, die unmittelbar und ohne viel Vorlaufzeit auf Krisensituationen reagieren können.
Generell sollten Hilfsangebote für Menschen in Krisen – auch Lebensveränderungskrisen können akut werden (Hausmann 2016) – niederschwelliger gestaltet werden. Oftmals stellen Bürokratie, Datenschutzes und „Expertentums“ hier Hürden dar. Eine Chance des niederschwelligen Zugangs für Menschen in prekären Lebenslagen könnten z.B. die Primärversorgungszentren darstellen. Ein Krisentelefon in Kombination mit einem sozial-psychiatrischen Notdienst, mit dem Angebot, die Betroffenen in ihren Lebenswelten aufzusuchen, ist ein Modell, das seitens der Suizidprävention Austria gefordert und in einigen Bundesländern mit unterschiedlichen Konzepten bereits umgesetzt wird (vgl. SUPRA 2019).
Um Menschen in Krisen niederschwellig begleiten zu können, bedarf es finanzieller Ressourcen, die seitens der Politik erkannt und zur Verfügung gestellt werden müssen. Es ist kontraproduktiv, wenn ProfessionistInnen ihrem Berufsethos nicht folgen können, weil die Bedarfe aufgrund fehlender Rahmenbedingungen nicht gedeckt werden können. Und dennoch dürfen wir uns, die in Krisen tätig sind, nicht nur auf diese Defizite beziehen. Vielmehr gilt es, tagtäglich die eigenen Haltungen und Handlungen kritisch zu hinterfragen und darauf Einfluss zu nehmen, worauf Mann und Frau Einfluss nehmen kann. Kontaktangebote wären ein erster Schritt in die richtige Richtung!
Literatur
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Über die Autorin
Cornelia Forstner, MA MSc
cornelia.forstner@fh-joanneum.at
Sozialarbeiterin, Supervisorin und Coach; Leiterin der Koordinationsstelle Krisenintervention, KIT-Land Steiermark;
externe Lehrende an der FH-JOANNEUM im Studiengang Soziale Arbeit;
stellvertretende Vorsitzende des Österreichischen Berufsverbandes der Sozialen Arbeit.