soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 25 (2021) / Rubrik „Thema“ / Standort Graz
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/view/713/1322.pdf
Elisabeth Zehetner, Marcel Reiner, Gerlinde Janschitz & Karina Fernandez:
1. Hintergrund
Bildung stellt eine zentrale Ressource für die individuellen Lebenschancen einer Person dar. Von einem guten Qualifikationsniveau hängen die Chancen auf beruflichen Erfolg, Lebensstandard, soziale Sicherheit und Gesundheit ebenso ab, wie die Chancen auf Selbstbestimmung und Freiheit. Gleiche Bildungschancen gehören daher zu den Fundamenten von Chancengleichheit. Aus vielfältigen Gründen, wie den unterschiedlichen Ressourcen der Herkunftsfamilie und den Strukturen des österreichischen Bildungssystems, die ungleiche Startbedingungen nur mangelhaft ausgleichen können, muss Chancengleichheit im österreichischen Bildungssystem allerdings nach wie vor als Illusion bezeichnet werden (vgl. Bruneforth et al. 2016).
Vor diesem Hintergrund traf im Frühjahr 2020 die Covid-19-Krise auf die österreichische Schullandschaft und stellte Österreichs Schulen vor eine Ausnahmesituation. Die Schulen wurden von heute auf morgen geschlossen, der Unterricht ausgesetzt und Home-Schooling mithilfe der Unterstützung digitaler Medien eingeführt. Danach folgte eine Phase der langsamen Wiederöffnung der Schulen mit Unterricht in geteilten Gruppen, ein anfänglich beinahe „normal“ anmutender Wiedereinstieg im Herbst und bald danach wieder Home-Schooling, zunächst für Oberstufenschüler*innen, später für alle. Eine der zentralsten Fragen, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist jene nach den bereits bestehenden sozialen Ungleichheiten im Bildungsbereich und wie sich diese unter dem Covid-bedingten Home-Schooling entwickeln. Erste Studien zu den Schulschließungen in Österreich (vgl. Huber/Helm 2020; Schober/Lüftenegger/Spiel 2020, Steiner/Köpping/Leitner/Pessl 2020) legen einen Schereneffekt nahe, sowohl innerhalb der Schüler*innenschaft als auch hinsichtlich des familiären Umfelds und in Bezug auf die variierende Qualität der besuchten Schulen (vgl. Huber/Günther/Schneider/Helm/Schwander/Schneider/Pruitt 2020: 7).
Insbesondere eine am IHS durchgeführte Studie fokussiert auf diese Ungleichheitsstrukturen und ihre Auswirkungen im Zuge der Schulschließungen. In dieser Studie zeigt sich, dass die Unterstützungsleistungen für Schüler*innen wie externe Lernhilfe, Schulsozialarbeit und Schulpsychologie eingebrochen waren (vgl. Steiner et al. 2020: 14). Diesen kommt im Schulsystem gemeinhin die Aufgabe zu, die Teilhabechancen benachteiligter Kinder zu verbessern und Ausgrenzungsdynamiken zu verhindern (vgl. Spies 2018: 133). Die Forscher*innen am IHS konnten zeigen, dass sowohl der von den Lehrpersonen erwartete Kompetenzverlust der Schüler*innen als auch das Ausmaß sozialer Ungleichheit maßgeblich vom Defizit im sozialen Unterstützungssystem während der Covid-19-Krise beeinflusst werden. Eine notwendige Maßnahme, um die Folgen der Covid-bedingten Home-Schooling-Phase vor allem auf ohnehin benachteiligte Schüler*innen abfedern zu können, sei daher ein Ausbau des Unterstützungssystems (vgl. Steiner et al. 2020: 16).
Wie jene Berufsgruppen, die Teil dieses Unterstützungssystems sind, durch die Krise kommen, wird jedoch kaum in Schulstudien oder im öffentlichen Diskurs adressiert. Publikationen zu den Auswirkungen der Krise auf die Soziale Arbeit als Ganzes legen nahe, dass im Zuge der Pandemie Veränderungen in zentralen Bereichen der Sozialen Arbeit stattfinden, wobei insbesondere Methoden und Medien des professionellen Handelns betroffen sind (vgl. Buschle/Meyer 2020: 163–167). Kritisch wird hierbei vor allem diskutiert, dass sich dieser Wandel nicht auf der Basis von Wissen der Profession der Sozialen Arbeit vollzieht, sondern aufgrund des Drucks aus anderen Bereichen wie der Medizin oder Ökonomie (vgl. Meyer/Buschle 2020: 21). Für die Schulsozialarbeit in Deutschland zeigt Hettler eine große Bandbreite an Tätigkeitsschwerpunkten während der Pandemie und den damit verbundenen Schulschließungen, die regional sehr unterschiedlich ausgestaltet sind. Auch er sieht professionstheoretische Grundsatzfragen durch die Krise berührt und bekräftigt Parteilichkeit und Lebensweltorientierung der Profession auch in Krisenzeiten (vgl. Hettler 2021: 66).
Welche Verschiebungen sich im Bereich der unterschiedlichen Berufsgruppen im psychosozialen Unterstützungssystem des österreichischen Bildungswesens ergeben, ist unseres Wissens nach bisher nicht detailliert untersucht worden. Dieser Beitrag geht daher folgenden Fragen nach:
2. Methodik
Die hier präsentierten Ergebnisse beruhen auf einer Interviewstudie mit insgesamt 24 qualitativen, leitfadengestützten Interviews.1 Dabei wurde versucht, möglichst umfangreich verschiedene Domänen der psychosozialen Unterstützung und der Betreuung von Kindern im Bildungsbereich zu berücksichtigen. Neben der Schulsozialarbeit, die mit sechs Interviewten einen Schwerpunkt darstellt, wurden folgende weitere Bereiche erfasst: Schulpsychologie, Schulärzt*innen, Schulassistenz, Jugendcoaching und Beratungslehrer*innen; aus dem eher pädagogischen Bereich wurden Lernhilfen (Caritas Lerncafés und Lernbars) und Mitarbeiter*innen der Freizeitpädagogik berücksichtigt. Zudem wurden auch einzelne Akteur*innen aus anderen Bereichen der Sozialen Arbeit – flexible Hilfen und Behindertenhilfe mit einem Arbeitsverhältnis zur Schule – interviewt. Manche der Interviewpartner*innen sind Verantwortliche in koordinativer Funktion, andere sind Mitarbeiter*innen im Feld, die direkt mit den Kindern und Jugendlichen arbeiten. Zudem wurde darauf Wert gelegt, Interviewpartner*innen aus allen Regionen der ganzen Steiermark zu gewinnen. Die Interviews wurden transkribiert und inhaltsanalytisch ausgewertet (vgl. Kuckartz 2012). Das Codesystem dafür wurde schrittweise aus dem Material selbst gewonnen und in mehreren Reflexionsstufen überarbeitet. In der Folge wird bei wörtlichen Zitaten auf die Interviews in Form von kurzen Siglen (z.B. „Schulsozialarbeit_01“) verwiesen.
3. Ergebnisse
Im Folgenden werden die zentralen Ergebnisse der Interviewstudie dargestellt. Der gesamte Ergebnisteil beruht dabei auf den Aussagen der Interviewten, die verdichtet dargestellt werden. Wo sich im Material divergierende Meinungen zeigen, wurden diese auch im Ergebnisteil angeführt.
3.1 Lockdown und Anforderungen an die psychosozialen Unterstützungssysteme
Der erste Lockdown in Österreich und die damit verbundene Umstellung auf Home-Schooling in den Schulen bedeutete auch für die psychosozialen Unterstützungssysteme eine Umstellung ihrer Arbeitsweisen. Während im „Normalbetrieb“ Angebote der unterschiedlichen Berufsgruppen vor allem auf einen niederschwelligen und informellen Zugang setzen, fiel mit den Schulschließungen und den verordneten Kontaktbeschränkungen diese Niederschwelligkeit weg. Die Herausforderungen waren nun, den Kontakt zu den Kindern und Jugendlichen aufrechtzuerhalten bzw. ihn überhaupt aufzubauen. Neben dem Erreichen der Zielgruppen stellten auch die verschiedentlich verwendeten Kommunikationstechnologien der Schulen, auf die sich die psychosozialen Unterstützungssysteme einzustellen hatten, eine Herausforderung dar. Diese Gemengelage erforderte Eigeninitiative, Aktivität und Kreativität bei der Kontaktgestaltung vonseiten der psychosozialen Unterstützungssysteme. Die Herausforderungen in der Kommunikation können nach drei Seiten hin unterschieden werden: in Bezug auf die Schulen, die Schüler*innen und die Eltern.
3.1.1 Die Schulen
Im ersten Lockdown arbeiteten verschiedene Schulen auch mit verschiedenen Kommunikationsformen bzw. Lehr- und Lernplattformen:
„In den MSen [Mittelschulen] gab’s halt wirklich eine Vielzahl an Lehrern, eine Vielzahl an unterschiedlichen Plattformen – ein Lehrer hat etwa Padlet verwendet, einer schickte Aufgaben per Mail, einer wollte Microsoft Teams verwenden […]; manche schickten Aufgaben zum Ausdrucken, bei anderen hätte man einen Link gleich online bearbeiten müssen usw.“ (Lernhilfe_01)
Das bedeutete für die Tätigen der psychosozialen Unterstützungssysteme, sich einerseits für jede einzelne dieser Plattformen die Software bzw. die Zugänge dazu zu beschaffen, andererseits waren viele dieser von den Schulen verwendeten Plattformen nicht für die Tätigkeit der psychosozialen Unterstützungssysteme ausgelegt. Die Kommunikation zu den Schulen auf einer eher informellen Ebene wird dennoch als gut beschrieben – es wird von einer Vielzahl an Rücksprachen und Abstimmungen mit den Schulleiter*innen und Lehrer*innen berichtet.
„Also in meinem Fall war es ganz wesentlich, mit allen Klassenvorständen und auch mit der Direktion regelmäßig in Kontakt zu sein. Weil über die Klassenvorstände hab ich dann erfahren, welche Dinge es gibt.“ (Schulsozialarbeit_04)
Dieser Austausch ermöglichte es den Mitarbeiter*innen der Unterstützungssysteme einerseits also zu erfahren, welche Schüler*innen Beratung oder Unterstützung nötig hätten. Auf der anderen Seite war es auch vielfach ihre Aufgabe, den Kontakt zu Schüler*innen herzustellen, die sich bei den Schulen nicht mehr meldeten. Dies konnte auf informellem Weg stattfinden – in Fällen, wo die Schulen die Kinder und Jugendlichen nicht erreichen konnten, hatten die Mitarbeiter*innen etwa der Schulsozialarbeit hier mehr Kontaktmöglichkeit und Zugang. Es wurde aber auch von einzelnen Fällen berichtet, bei denen es stärkeren Drucks bedurfte, um die Schüler*innen bzw. deren Eltern zu motivieren, sich am Home-Schooling zu beteiligen. Im äußersten Falle konnte das nur erreicht werden, indem die Jugendhilfe oder gar die Polizei hinzugezogen wurde.
3.1.2 Die Schüler*innen
Die zentrale Frage, die sich den Mitarbeiter*innen der psychosozialen Unterstützungssysteme vor allem im Zuge der ersten Schulschließung stellte, war, wie die Schüler*innen erreicht werden können. Hier galt es vor allem, die virtuellen Kanäle zu identifizieren, in denen sie sich aufhielten. Waren die psychosozialen Unterstützungssysteme auf diversen Social-Media-Kanälen wie Facebook und Instagram nicht ohnehin schon präsent, wurden Profile angelegt sowie Freundschaftsanfragen an die Kinder und Jugendlichen ausgesandt. Es wurden Stories gepostet, die sich mit im Zuge der Pandemie auftauchenden Themen befassten, wie beispielsweise Langeweile, Einsamkeit oder ähnliches. Die Präsenz auf den sozialen Medien erwies sich insofern als wichtig, als dadurch der niederschwellige Zugang zum Teil wieder zurückerlangt werden konnte: Man konnte durch das Posten einer Story, durch einfaches Chatten oder das Veranstalten von Online-Spieletreffs mit den Kindern und Jugendlichen wieder in einen ungezwungenen Kontakt treten. Dieser stellte vielfach die Basis für spätere Beratungsgespräche über spezifische Themen dar, die die Kinder und Jugendlichen in dieser Zeit belasteten. Diese späteren Beratungsgespräche wurden in der Regel nicht online, sondern telefonisch oder – soweit möglich – in Präsenzform abgehalten. Dabei wurde von den Mitarbeiter*innen der psychosozialen Unterstützungssysteme vielfach bemerkt, dass Kinder und Jugendliche in der Zeit des ersten Lockdowns eine Art Hemmschwelle empfanden, von sich aus über Telefon die Angebote der Beratung in Anspruch zu nehmen. Aus dieser Sicht war somit die proaktive Tätigkeitsgestaltung besonders wichtig.
„[W]enn wir über Instagram einfach ins Schreiben gekommen sind und dann nachgefragt haben: wie es ihnen geht, wie es mit dem Home-Schooling läuft und dann eben gezielt auf unsere Stories – wir haben eben auch Stories zum Thema Cyber-Mobbing gemacht, mit Abstimmung: bist du betroffen oder nicht, da haben Schüler auch auf ‚ja‘ geklickt und das war für uns ein Einstieg gezielt nachzufragen: Ist das jetzt, war das früher? Und daraus haben sich auch Beratungsgespräche ergeben.“ (Schulsozialarbeit_05)
Bei den Möglichkeiten der Beratung ‚über Distanz‘ ist aber auch eine inhaltliche Differenzierung nötig, da bestimmte Themen – von den „mittleren und kleinen Sorgen, wo es einfach eine Präsenz braucht, wo man sonst einfach sehr weit weg ist“ (Schulsozialarbeit_04) bis hin zu heiklen Themen wie Sexualität, Mobbing oder Gewalt – online nur schwer bearbeitbar sind.
„Kommt, je nach Thema, darauf an. Wenn es darum geht: ‚mah, mir ist so langweilig, was kann ich in meiner Freizeit machen?‘, kann ich das online oder per Telefonat machen, das geht ganz gut […]. Wenn es aber um Themen geht – da war ein Fall, wo auf WhatsApp wirklich Cybermobbing entstanden ist, dann lässt sich sowas nicht mehr wirklich online besprechen, da braucht es den Kontakt an der Schule […].“ (Schulsozialarbeit_05)
Umgekehrt kann die neu ermöglichte Kontaktaufnahme über soziale Medien in manchen Fällen auch Barrieren abbauen. Wer sich nicht so leicht tut, persönlich etwa auf Schulsozialarbeiter*innen zuzugehen oder aus verschiedenen Gründen Scheu hat, von den Mitschüler*innen dabei beobachtet zu werden, schafft das in manchen Fällen eher über digitale Kommunikation. Auch die zeitliche und örtliche Flexibilität von sozialen Medien kann ein Vorteil sein – etwa im ländlichen Raum, wo die Schüler*innen nach Schulschluss nach Hause fahren müssen und keine Gelegenheit mehr für eine Beratung vor Ort hätten.
3.1.3 Die Eltern
Auch in Bezug auf die Kommunikation mit den Eltern war vonseiten der Mitarbeiter*innen der psychosozialen Unterstützungssysteme vieles an Aktivität und Kreativität gefragt, um Eltern, die in dieser Zeit ebenso mit einem erhöhten Maß an Unsicherheit und damit verbundenen Fragen konfrontiert waren, in den Schulbetrieb einzubinden. In Absprache mit den Schulen, aber auch auf Eigeninitiative wurde hier viel an Informationsmaterial aufbereitet (beispielsweise Elternbriefe mit Themenschwerpunkten wie etwa zur Strukturierung des Lernalltags oder zu kinder- und jugendgerechten Spielangeboten) und auf diversen sozialen Medien bzw. direkt über die Schulen verbreitet.
Die Kontaktaufnahme verlief hier jedoch nicht immer problemlos. Dies betraf vor allem Eltern, die zum Teil Deutsch als Alltagssprache nur unzureichend beherrschen, was die Kommunikation über die Distanz – also über schriftliche Medien, aber auch über Telefon oder Videokonferenzen – äußerst schwierig, wenn nicht gar unmöglich machte. Hier bündeln sich generell verschiedene Ungleichheitsbedingungen, die in der Pandemie – und noch einmal stärker in Zeiten des Lockdown – wie durch ein „Brennglas“ (Schulassistenz_02) hervorgehoben werden: geringe Schulbildung und kulturelles Kapital der Eltern, sprachliche Schwierigkeiten, dazu noch fehlende technische Ressourcen, prekäre Wohnsituationen und schwierige Lernbedingungen zuhause machten die Doppelrolle als Elternteil und Lehrer*in, die man ihnen im Zuge des Home-Schoolings zusprach, zusätzlich schwierig.
3.2 „Angepasst“ und „beschleunigt“: Unterstützungsleistungen im Covid-19-Schulbetrieb
Nach dem ersten großen ‚Einbruch‘ der Pandemie und dem sechswöchigen Lockdown im Frühjahr begann Anfang Mai die Phase der Schulöffnungen. Wieder war die Arbeit der psychosozialen Unterstützungssysteme laufend gefordert, die neuen und sich immer wieder ändernden Rahmenbedingungen aufzugreifen.
3.2.1 (Langsamer) Beginn im Frühjahr…
Die große, übereinstimmende Beschreibung der interviewten Personen zur Schulöffnung nach dem Lockdown lautet, dass alle froh waren, wieder in die Schule kommen zu können – und zwar sowohl Schüler*innen als auch Lehrer*innen und Mitarbeiter*innen der Unterstützungssysteme. Schule gibt, so wird übereinstimmend festgehalten, die Möglichkeit eines geregelten Alltags; Struktur, Halt und Normalität gerade in unsicheren Zeiten: „Und Schule, da ist es klar: die Schule beginnt um 7:45 Uhr, jeden Tag, egal was ist, die Lehrerin steht da, jeden Tag, egal was ist. Das gibt so viel Sicherheit“ (Schulsozialarbeit_03). Andererseits ist Schule eben nicht nur ein Ort der Wissensvermittlung, sondern auch ein sozialer Ort. Es ist ein Ort des sozialen Lernens, wie man mit anderen umgeht und wie das Miteinander funktionieren kann, und es ist natürlich der Ort, um Gleichaltrige und Freund*innen zu treffen. Auch wenn die Kinder und Jugendlichen es sich vielleicht vorher nicht gedacht hätten – Schule war „endlich richtig positiv besetzt“ (Flexible Hilfen_01).
Dennoch wurde die Zeit der Schulöffnungen nach dem ersten Lockdown von vielen Befragten auch als merkwürdig wahrgenommen: Das Verhalten der Kinder wird in den Interviews als ruhig, vorsichtig und zögernd beschrieben, die Stimmung als geradezu „gespenstisch“. Diese Zurückhaltung hatte auch Auswirkungen auf die Arbeit der Unterstützungssysteme, die erst langsam wieder in die Gänge kam:
„Wo wir gemerkt haben, und das über alle Schulen hindurch, […] es ist nicht so locker wie sonst, dass man einfach in ein Gespräch kommt. Sie [die Schüler*innen] sind uns am Anfang zum Teil distanzierter vorgekommen.“ (Schulsozialarbeit_05)
Von einzelnen Interviewten wurde die Schulöffnung allerdings auch ganz anders wahrgenommen: Eine Schulpsychologin hält fest, dass aus ihrer Sicht der „Betrieb von 0 auf 100 [ging], als ob es Corona nie gegeben hätte“, das sei „zu schnell, zu abrupt“ gewesen (Schulpsychologie_02).
Ganz zu Beginn stand für alle Mitarbeiter*innen der Unterstützungssysteme die Aufarbeitung des Lockdowns im Mittelpunkt – wobei auch von großer Bereitschaft der Schulen berichtet wird, dies zu ermöglichen: „Unsere Schulen – da bin ich unbeschreiblich dankbar – haben das als absolute Priorität gesehen. Die haben zwar wahnsinnig viel Stoff nicht durchgemacht, aber denen war klar, das Psychische muss jetzt Vorrang haben“ (Schulsozialarbeit_02). Auch zeigten sich durch den Schichtbetrieb im Unterricht positive Veränderungen. So sei das Arbeitsklima zwischen Schüler*innen und Lehrer*innen angenehmer und ruhiger gewesen und auch eher zurückhaltende Kinder hätten sich häufiger zu Wort melden können.
3.2.2 …und beschleunigter Betrieb im Herbst
Unter etwas anderen Vorzeichen stand der Schulbeginn im Herbst. Während die Stimmung im Frühjahr als ruhig beschrieben wird, der Umgang mit den Covid-Maßnahmen gewissermaßen geübt werden musste und auch die Aufarbeitung der Erfahrungen des Lockdowns im Zentrum stand, schien das große Motto im Herbst zu sein: So viel wie möglich, so lange es noch geht.
Zwar war das politisch prolongierte Stichwort zu Schulbeginn „normaler Schulbetrieb“, aber zugleich herrschte von Anfang an auch Stress, den Stoff aufzuholen und „möglichst viel durchzubringen, bevor vielleicht wieder irgendeine Änderung ist“ (Lernhilfe_01). Auch die Arbeit der Mitarbeiter*innen der Unterstützungssysteme startete gewissermaßen ohne Abwarten und ohne Aufwärmphase.
„Also das war definitiv anders als in anderen Jahren, wo man so gesagt hat: ‚Na, schauen wir mal, wie es sich entwickelt und setzen wir dann die Initiativen‘. Das hat man jetzt alles vorgezogen. Man hat gesagt: ‚Wer weiß, wann, wie lange wir so relativ normal tun können.‘“ (Beratungslehrer_01)
Im Hintergrund aller Tätigkeit stand also die „Unsicherheit: wann passiert wieder was“ (Jugendcoaching_02) und „normal“ war es nur „nach außen hin. […] Schulintern war allen klar, das geht nicht so weiter. Da wird was kommen“ (Beratungslehrer_01).
3.2.3 Eine „angepasste“ Tätigkeit
Wie sieht nun die Tätigkeit der Mitarbeiter*innen der psychosozialen Unterstützungssysteme vor dem Hintergrund dieser – einerseits neuen und ungewohnten, andererseits sich ständig wandelnden und von immer wieder neuer Unsicherheit begleiteter – Situation aus?
Im Vordergrund standen die Hygienemaßnahmen wie das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes oder das Abstand-Halten. Mit steigenden Infektionszahlen strukturierten diese Maßnahmen den schulischen Alltag immer stärker, da beispielsweise Gruppen geteilt werden mussten und die Kinder keine Kontakte zu Kindern aus anderen Gruppen mehr haben durften. Die Mitarbeiter*innen der Unterstützungssysteme mussten ihre Tätigkeiten an diese Bedingungen anpassen. Gerade bei den Methoden der Schulsozialarbeit, die für gewöhnlich stark auf die Durchmischung von Kindern und auch körperbetonte Übungen setzt, mussten die Verantwortlichen „ständig neu evaluieren, ständig neu schauen, wie kann man das machen“ (Schulsozialarbeit_02). Klassische Methoden wie Team-Building, gruppendynamische Spiele und erlebnispädagogische Methoden waren nicht mehr möglich oder konnten höchstens klassenintern stattfinden. Auch durften sehr bald keine externen Personen mehr das Schulgebäude betreten, wodurch auf Angebote wie Workshops etwa im Bereich von Gewalt, Rassismus oder Sexualpädagogik ganz verzichtet werden musste. Mit voranschreitendem Infektionsgeschehen zeigte sich, dass verschiedene Schulen abhängig vom Schultyp, der Schulgröße und/oder der Persönlichkeit der Schulleitung die politischen Vorgaben sehr unterschiedlich interpretierten. Für die Mitarbeiter*innen der psychosozialen Unterstützungssysteme bedeutete das, „sich individuell auf die Schule einzustellen, gemeinsam mit der Schulleitung ein System [zu] entwickeln, wie das funktionieren kann“ (Schulsozialarbeit_01).
Trotz aller Einschränkungen berichten die Befragten überwiegend, dass die Betreuung und Beratung im neuen Schuljahr prinzipiell gut funktioniert hat: Gerade die Kinder und Jugendlichen könnten prinzipiell sehr gut mit den unterschiedlichen Maßnahmen umgehen: „[W]eil oft heißt’s, die armen Kinder und so weiter – aber die Kinder können total gut damit umgehen, finde ich, für die ist das jetzt halt Alltag“ (Lernhilfe_01). Dennoch gab es vielfältige Belastungen und Konfliktpotenziale, die vom Mangel am unbeschwerten Spielen in Pausen und am Nachmittag über Diskussionen über die Notwendigkeit von Hygienemaßnahmen bis hin zur Maskenverweigerung und Konflikten mit Eltern, die die Maßnahmen gar nicht mittragen wollen, reichen. Auch wird von psychischen Problemen wie Stress, Angst und Sorgen berichtet. Die anhaltende Anspannung und der fehlende Körperkontakt führten bei einem Teil der Schüler*innen zu Auffälligkeiten und erhöhtem Aggressionspotenzial, wobei dies mitunter auch Kinder und Jugendliche betrifft, die bisher nie auffällig waren. Und gerade bei Kindern und Jugendlichen, die ohnehin psychische Probleme haben oder hatten, scheinen diese erneut aufzutauchen oder sich zu verstärken.
3.3 Zweiter Lockdown: Aus der Krise gelernt?
Nach knappen zwei Monaten „normalem“ Schulbetrieb wurde ab 3. November den Schüler*innen der Oberstufe und ab 17. November wieder allen Schüler*innen Home-Schooling verordnet. In diese Zeit fiel auch unsere Erhebung. Dies bedeutet, dass wir nur einen Teil der Interviewten zum zweiten Lockdown befragen konnten. Alle vor dem zweiten Lockdown interviewten Personen äußerten den einhelligen Wunsch, die Schulen mögen nicht schließen. Anhand der Interviewdaten jener, die den Beginn der zweiten Schulschließung miterlebten, soll noch ein Blick auf die Frage geworfen werden, inwiefern in den Schulen und den Unterstützungssystemen aus den Erfahrungen der Monate davor gelernt wurde.
Allgemein lässt sich sagen, dass die Kommunikation vonseiten der Regierung, was die Implementierung von Maßnahmen wie Schulschließungen und Ähnliches betrifft, von den Mitarbeiter*innen der psychosozialen Unterstützungssysteme auch beim zweiten Lockdown als sehr kurzfristig empfunden wurde, was wiederum hohe Flexibilität und Resilienz aufseiten aller schulischer Akteur*innen verlangte. Zugute kamen dem System die Erfahrungen, die während der Schulschließungen im Frühjahr gemacht wurden. Alle Akteur*innen hatten bereits Erfahrung mit den digitalen Formaten, was in Bezug auf die Arbeit der Mitarbeiter*innen der psychosozialen Unterstützungssysteme eine schnelle Umstellung auf digitale oder hybride Betreuung möglich machte.
Woran nun gezielter gearbeitet werden konnte, war insbesondere der Abbau diverser Hemmschwellen und konkreter Benachteiligungen. Im Gegensatz zum ersten Lockdown sank im zweiten die Zurückhaltung bei den Kindern und Jugendlichen, auch bei belastenden Themen von sich aus die diversen Beratungs- und Betreuungsangebote zu nutzen.
„Das nehmen wir schon wahr, dass jetzt stärker die Beratung in Anspruch genommen wird als im ersten Lockdown. Also das ist auch ein Unterschied, den wir jetzt wahrnehmen: von sich aus, also von Schüler*innen, Eltern, Lehrer*innen. Damals war alles für alle neu und fordernd oder auch überfordernd, von der Situation her. Jetzt: man weiß, man hat das schon mal ähnlich durchlebt und sie sind jetzt auch schneller bei uns angedockt als damals. Damals hat es stärker gebraucht, dass wir von uns aus versuchen, den Kontakt herzustellen.“ (Schulsozialarbeit_05)
War im ersten Lockdown der politische und soziale Druck, Kinder jedenfalls zuhause zu beschulen und nur in Ausnahmefällen an der Schule betreuen zu lassen, auf die Eltern wie auch die Schulen sehr hoch, kam es im zweiten Lockdown zu einem geänderten Umgang. Im Nachhall des ersten Lockdowns zeigte sich sowohl in Einzelerfahrung von Schulleitungen, Lehrkräften und Mitarbeiter*innen als auch in systematischen wissenschaftlichen Untersuchungen (vgl. Huber/Helm 2020; Holtgrewe/Lindorfer/Siller/Vana 2020; Schober et al. 2020; Steiner et al. 2020), dass verschiedene Gruppen von Kindern und Jugendlichen durch das Home-Schooling massive Nachteile erfahren hatten. In den Interviews wird von großen Wissenslücken und von Rückschritten bei den Sprachkenntnissen bei Kindern mit anderer Erstsprache berichtet, aber auch von sozialen Problemen. So seien einige Kinder und Jugendliche in Isolation geraten, weil die Eltern aufgrund von großen Sorgen – gerade bei Kindern mit Behinderung – oder falschen Informationen über Infektionswege – wie sie aus einigen migrantischen Communities berichtet wurden – die Kinder gar nicht mehr aus der Wohnung ließen:
„Worüber wir alle sehr schockiert waren –, wie dann die Möglichkeit war, dass die ersten Kinder zurück an die Schule durften, […] dass das auch Kinder mit Migrationshintergrund waren, die dann wirklich Sachen zum Direktor gesagt haben: ‚mein Gott, jetzt kann ich endlich wieder im Schulhof durchatmen‘. […] Und wir haben auch wirklich Kinder […] die nicht hinausgegangen sind über viele Wochen. Die in diesen kleinen Wohnungen – von ihren Eltern gut gemeint – eingesperrt waren.“ (Schulärzte_02)
Aus solchen Erfahrungen heraus und ermöglicht durch einen Beschluss des Bildungsministeriums, auch Kinder an die Schule zu holen, bei denen die Schulen aufgrund der Gegebenheiten in den Familien einen Bedarf an außerhäuslicher Betreuung erkennen (vgl. BMBWF 2020: 1, 3), wurden im Herbst weitaus mehr Schüler*innen in die Schulen zur Betreuung geholt. Besonders benachteiligte Kinder und Jugendliche waren nun stark an der Schule vertreten. Die Frage, inwiefern diese Veränderungen im Vergleich zum ersten Lockdown auch tatsächlich dazu führten, dass die mit den Schulschließungen verbundenen Probleme zurückgehalten werden konnten, kann freilich aus unseren bisherigen Daten nicht beantwortet werden.
3.4 Digitalisierung im Zeichen von Covid-19
Ein zentraler Aspekt, der im Zuge der Covid-19-Krise besondere Relevanz bekommen hat und der vermutlich auch längerfristige Veränderungen im Bereich der Arbeit der psychosozialen Unterstützungssysteme nach sich ziehen wird, ist die Digitalisierung. Verschiedene Aspekte wurden bereits berichtet, an dieser Stelle sollen die Erfahrungen und Einschätzungen der interviewten Personen nochmals gebündelt und in drei Bereichen dargestellt werden.
3.4.1 Kontakt und Kommunikation
Zentral waren die eingangs beschriebenen Strategien, um Kontakt zu den Kindern und Jugendlichen, aber auch zu anderen Akteur*innen im System Schule herzustellen. Allgemein lässt sich festhalten, dass die stärkere Nutzung von sozialen Medien und Formen des digitalen Austauschs von Akteur*innen aus diesem Bereich durchaus als Bereicherung und als spannend wahrgenommen wurde: „Das Angebotsspektrum der Schulsozialarbeit hat sich da einfach bei uns erweitert und wurde bereichert“ (Schulsozialarbeit_05). Die breitere Aufstellung und die Möglichkeit, für alle – also für Schüler*innen, Eltern und Lehrer*innen – auf mehreren Kanälen erreichbar zu sein, ist hier für die meisten Akteur*innen mittlerweile zentral. Entscheidend dafür, wie die Kontakte mit Eltern und Kindern/Jugendlichen über die verschiedenen Phasen der Pandemie hinweg gehalten werden konnten, war jedenfalls die aktive Beziehungsgestaltung vonseiten der Mitarbeiter*innen über verschiedene Kanäle, aber auch die Qualität der bereits vor der Pandemie etablierten Beziehungen.
Die verstärkte Nutzung digitaler Angebote ging aber auch mit datenschutzrechtlichen Problemen einher, mit denen sich die Mitarbeiter*innen der psychosozialen Unterstützungssysteme beschäftigen mussten: Dürfen Messenger-Dienste wie WhatsApp überhaupt genutzt werden oder ist dies aufgrund der geltenden Bestimmungen nicht möglich, auch wenn dies oftmals als einzige Möglichkeit scheint, mit der Zielgruppe in Kontakt zu kommen? Die Antworten auf diese Frage fielen im Feld unterschiedlich aus – vom Nutzungsverbot bestimmter Dienste bis hin zur Feststellung, dies seien Probleme, um die man sich nach der Pandemie kümmern müsse. Schließlich gibt es zwar durchaus Wahrnehmungen, dass im Bereich der Unterstützungssysteme nach wie vor wenig Gebrauch von digitalen Möglichkeiten gemacht werde, dass zu wenige Ideen entwickelt und ‚Pionierarbeit geleistet werde. Generell betrachtet scheint es jedoch einen Professionalisierungsschub im Bereich der digitalen Angebote zu geben. Wo zu Beginn einzelne Internet-Auftritte und ein oft als chaotisch wahrgenommenes Nebeneinander von verschiedenen Kommunikationsformen zwischen den schulischen Akteur*innen stand, hat sich ein dichteres Netz an Online-Auftritten entwickelt. Zudem etablierte sich auch eine strukturiertere Handhabung von Lernplattformen durch viele Schulen, mit denen mittlerweile nicht nur die Lehrer*innen, sondern teilweise auch die Mitarbeiter*innen der Unterstützungssysteme arbeiten können.
3.4.2 Die technische Ausstattung
Allein aufgrund der Ressourcen der Herkunftsfamilien war es anfangs für viele Schüler*innen schwer, den Anforderungen des Home-Schoolings gerecht zu werden: Zugang zu einem PC, Drucker oder auch nur einer stabile Internetverbindung konnten keineswegs überall vorausgesetzt werden. Dort, wo aufgrund der ökonomischen Lage die technische Ausstattung in den Familien völlig fehlte, wurden in vielen Fällen Mitarbeiter*innen der psychosozialen Unterstützungssysteme aktiv und riefen zu Spenden auf oder halfen bei der Zusammenarbeit mit den Behörden, um Leihgeräte verfügbar zu machen. Aber auch dort, wo in den Familien prinzipiell Geräte vorhanden waren, konnten sich Probleme ergeben, wenn beispielsweise mehrere Geschwister die Geräte gemeinsam nutzen mussten.
Diese auf materielle Gegebenheiten zurückzuführenden Schwierigkeiten stellen die Kinder und Jugendlichen bzw. die ganzen Familien laufend vor große Herausforderungen bei der Bewältigung und Strukturierung ihres Alltags. Auch hier lässt sich im längeren Verlauf der Krise aber eine (vorsichtig) positive Entwicklung ausmachen: Zum einen besteht mittlerweile ein erhöhtes Bewusstsein, dass eine gute technische Ausstattung eben nicht vorausgesetzt werden darf. Zum anderen wird aktiver darauf geachtet, benachteiligten Jugendlichen zumindest grundlegende technische Mittel zur Verfügung zu stellen. Dennoch sind die Bedingungen, unter denen Schüler*innen zuhause lernen, nach wie vor in vielen Fällen prekär.
3.4.3 Kompetenzen
Hier machten viele Mitarbeiter*innen der psychosozialen Unterstützungssysteme die Erfahrung, dass Kindern und Jugendlichen viele grundlegende Kenntnisse fehlen, um den Arbeitsanforderungen des Home-Schoolings nachzukommen – auch wenn sie sonst als Digital Natives scheinbar selbstverständlich mit der digitalen Welt umgehen:
„[W]eil wir einfach gemerkt haben, alle Jugendlichen haben zwar ein Handy, ein Smartphone, sind eigentlich gut ausgestattet, aber können damit nicht umgehen. […] Teilweise wissen sie nicht, dass sie das anders auch nutzen können als für WhatsApp oder Snapchat.“ (Jugendcoaching_02)
Hier geht es um Dinge wie den Umgang mit MS Office oder auch nur das Versenden einer E-Mail mit Anhang, an dem Jugendliche im Jugendcoaching – also am Ende der Pflichtschulzeit – scheitern. Nach den Erfahrungen im ersten Lockdown wurde hier in vielen Schulen versucht, den Jugendlichen diese Grundkenntnisse aktiv zu vermitteln. Auch Organisationen des psychosozialen Unterstützungssystems setzten teilweise gezielt auf Kompetenzerwerb bzw. versuchten, eine digitale ‚Kommunikationskultur‘ aktiv zu fördern.
Insgesamt kann festgehalten werden, dass sich durch die Pandemie die Einstellungen und Handlungsmuster gegenüber der digitalen Kommunikation gewandelt haben. Dies gilt zunächst einmal innerhalb der einzelnen Organisationen. Mitarbeiter*innen bildeten sich im Bereich Digitalisierung fort und erlernten selbstständig den Umgang mit neuen Kommunikationsmitteln. Auch werden beispielsweise Beratungen und Besprechungen, die online durchgeführt werden, nicht mehr allein als Belastung gesehen, sondern auch als ressourcensparendes Tool, das gut funktionieren kann. Aber auch für die Schulen generell kann ein Einstellungswandel hin zu einer stärkeren Betonung der Eigenverantwortlichkeit der Schüler*innen konstatiert werden:
„[Zu Beginn der Covid-Krise war] der Umgang mit distance learning nicht wirklich eingeübt […], [wurde] auch vielfach nicht ernst genommen, auch mental gar nicht als erwünscht und sinnvoll erachtet […] – da hat es ja angefangen, das war ja auch eine Haltungsfrage. Jetzt sieht man aber auch, dass man mit den neuen Medien auch sehr viel pädagogisch machen kann. Das ist vielleicht der einzige Vorteil der Situation: dass es auch zu einer Änderung des Lehrverhaltens führt, dass die Eigenverantwortlichkeit viel wichtiger genommen wird.“ (Schulpsychologie_01)
Insgesamt wird hier die Covid-19-Krise durchaus als Motor für Veränderungen wahrgenommen, nicht allein im Bereich der Digitalisierung. Sowohl für Lehr- und Lernformen an der Schule als auch für die Beratung und Kommunikation der psychosozialen Unterstützungssysteme kann somit die Covid-19-Krise auch als „Innovationskick“ (Schulsozialarbeit_01) gelten.
4. Zusammenfassung und Ausblick
Welche Strategien wurden also von den Mitarbeiter*innen der psychosozialen Unterstützungssysteme angewandt, um ihre Arbeit unter den Bedingungen der Pandemie fortzuführen? Und welche längerfristigen Auswirkungen hat die Covid-19-Krise?
Zunächst kann festgehalten werden, dass die Reaktionen aus dem Bereich der psychosozialen Unterstützungssysteme im Bildungsbereich durch einen pragmatischen und flexiblen Umgang gekennzeichnet sind. Dadurch gelingt es auch während der Pandemie, niederschwelligen Kontakt zu den Kindern und Jugendlichen aufrecht zu erhalten. Eine zentrale Rolle spielt hier der Einsatz von Online-Angeboten und neuen Medien. In diesem Bereich kommt es wohl zu einer Beschleunigung der bereits vor der Pandemie beobachtbaren digitalen Transformation im Bereich der Sozialen Arbeit (vgl. Beranek/Hil/Sagebiel 2019).
Auch in den Phasen der Schulöffnung, die durch anhaltende Unsicherheiten und dynamische Entwicklungen gekennzeichnet sind, geht es darum, kurzfristig und situationsspezifisch die Tätigkeiten anzupassen. Spätesten seit dem zweiten Lockdown können die Akteur*innen allerdings stärker auf bereits etablierte und eingeübte Handlungsstrategien zurückgreifen, auch wird potentiellen Ungleichheitsbedingungen proaktiver begegnet. Inwiefern jedoch diese Versuche die massiven Auswirkungen in Hinblick auf Bildungsungleichheit tatsächlich einzubremsen vermögen, muss einstweilen eine offene Frage bleiben.
In Hinblick auf längerfristige Auswirkungen lassen sich unterschiedliche Aspekte ausmachen. Die in der Literatur diskutierten Verschiebungen von Standards der Sozialen Arbeit unter dem Druck der Pandemie wurden in den Interviews kaum thematisiert bzw. von einigen Interviewpartner*innen sogar verneint. Diese meinen, es habe keine Unterschiede in den Beziehungen zu den Jugendlichen gegeben. Zwar hätten sich Methoden geändert, nicht jedoch die Standards der Arbeit. Es scheint jedoch in einigen Phasen der Pandemie durchaus eine Verschiebung hin zu einer stärkeren Akzentuierung von Kontrolle stattzufinden, insbesondere in der ersten Phase des Home-Schoolings, als zu einigen Kindern kein Kontakt hergestellt werden konnte und Teile des psychosozialen Unterstützungssystems damit betraut wurden, die Eltern auch mittels Drohungen zur Kooperation zu zwingen. Im Gegensatz dazu berichten freilich andere Akteur*innen, dass sie gerade aufgrund ihres niederschwelligen, informellen Zugangs zu den Kindern und Jugendlichen in der Lage waren, ohne die Anwendung von Druck wieder einen Kontakt zwischen ihnen und den Schulen herzustellen. Solche Auswirkungen erweisen sich also nicht zuletzt als abhängig von der Position der Akteur*innen im Beziehungs- und Organisationssystem zwischen Behörde, Schule und Schüler*innen.
Insgesamt bleibt für die Interviewpartner*innen aus den psychosozialen Unterstützungssystemen die Hoffnung, dass durch die Krise, die wie ein Brennglas wirke und schon zuvor bestehende Ungleichheiten deutlich sichtbar mache, Gesellschaft und Politik erkennen, „wie wichtig Schulsozialarbeit und Unterstützungssysteme sind und dass sie eindeutig noch ausgebaut werden sollten“ (Schulsozialarbeit_01).
Verweis
1 Die Interviewstudie ist Teil des Projektes „Schule nach Corona“, das das Ausmaß und die Erscheinungsformen untersucht, welche die Covid-19-Krise auf eine Verschärfung sozialer Ungleichheiten im steirischen Bildungsbereich hat. Das Projekt wird seit Herbst 2020 an der Pädagogischen Hochschule Steiermark in Kooperation mit dem Studiengang Soziale Arbeit an der FH JOANNEUM durchgeführt.
Literatur
Beranek, Angelika/Hil, Burkhard/Sagebiel, Juliane (2019): Digitalisierung und Soziale Arbeit – ein Diskursüberblick. Wiesbaden: Springer.
BMBWF – Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung (2020): Schulbetrieb ab dem 17. November 2020. Beilage zum Erlass des BMBWF GZ 2020-0.748.656. https://www.bmbwf.gv.at/dam/jcr:819bba49-e44a-4067-baa6-ba606b62f867/schulbetrieb_20201117_erlass_beilage.pdf (18.01.2021).
Bruneforth, Michael/Eder, Ferdinand/Krainer, Konrad/Schreiner, Claudia/Seel, Andrea/Spiel, Christiane (2016): Nationaler Bildungsbericht Österreich 2015. Fokussierte Analysen bildungspolitischer Schwerpunktthemen. Bd. 2. Graz: Leykam.
Buschle, Christina/Meyer, Nikolaus (2020): Soziale Arbeit im Ausnahmezustand?! Professionstheoretische Forschungsnotizen zur Corona-Pandemie. In: Soziale Passagen, 12, S. 155–170.
Hettler, Ingo (2021): Schulsozialarbeit in der „neuen Normalität“. Über neue und alte Herausforderungen in der Schulsozialarbeit, Entwicklungsmöglichkeiten und Chancen. In: Sozial Extra, 45, S. 65–69.
Holtgrewe, Ursula/Lindorfer, Martina/Siller, Carmen/Vana, Irina (2020): Lernen im Ausnahmezustand – Chancen und Risiken. Erste Ergebnisse der Schüler_innenbefragung. https://www.zsi.at/object/news/5574/attach/Erste_Ergebnisse_Lernen_im_Ausnahmezustand_Schueler_innenbefragung.pdf (18.01.2021).
Huber, Stephan G./Günther, Paula/Schneider, Nadine/Helm, Christoph/Schwander, Marius/Schneider, Julia A./Pruitt, Jane (2020): COVID-19 und aktuelle Herausforderungen in Schule und Bildung. Erste Befunde des Schul-Barometers in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Münster/New York: Waxmann.
Huber, Stephan G./Helm, Christoph (2020): COVID-19 and schooling. Evaluation, assessment and accountability in times of crises – reacting quickly to explore key issues for policy, practice and research with the school barometer. In: Educational Assessment, Evaluation and Accountability, 32, S. 237–270.
Kuckartz, Udo (2012): Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung. Weinheim/Basel: Beltz Juventa.
Meyer, Nikolaus/Buschle, Christina (2020). Soziale Arbeit in der Corona-Pandemie: Zwischen Überforderung und Marginalisierung. Empirische Trends und professionstheoretische Analysen zur Arbeitssituation im Lockdown. Erfurt: IUBH Internationale Hochschule.
Schober, Barbara/Lüftenegger, Marko/Spiel, Christiane (2020): Was hat sich während der Zeit des Home-Learning verändert? Erste Ergebnisse der zweiten Erhebung bei Schüler*innen. https://lernencovid19.univie.ac.at/ergebnisse/schuelerinnen/ (18.01.2021).
Spies, Anke (2018): Schule und Soziale Arbeit. In: Graßhoff, Gunther/Renker, Anna/Schröer, Wolfgang (Hg.): Soziale Arbeit - Eine elementare Einführung. Wiesbaden: Springer VS, S. 133–150.
Steiner, Mario/Köpping, Maria/Leitner, Andrea/Pessl, Gabriele (2020): COVID19 und Home-Schooling. Folgt aus der Gesundheits- nun eine Bildungskrise? https://www.ihs.ac.at/fileadmin/public/2016_Files/Photos/Veranstaltungen/2020/Leben_mit_Corona/Praesentationen/S5_Steiner.pdf (18.01.2021).
Über die Autor_innen
Elisabeth Zehetner, MA MA
elisabeth_zehetner@phst.at
Studium der Germanistik und Soziologie, ist derzeit als Projektmitarbeiterin an der Pädagogischen Hochschule Steiermark tätig.
Marcel Reiner, BA
marcel_reiner@phst.at
Studium der Soziologie, ist derzeit wissenschaftlicher Projektmitarbeiter an der Pädagogische Hochschule Steiermark und an der Universität Graz.
Gerlinde Janschitz, BA MA
gerlinde.janschitz@uni-graz.at
Studium der Soziologie, arbeitet als Projektmitarbeiterin am Institut für Wirtschaftspädagogik der Universität Graz und lehrt an der Pädagogischen Hochschule Steiermark im Bereich der schulischen Qualitätssicherung.
Mag. Dr. Karina Fernandez
karina.fernandez@phst.at
Studium der Soziologie und Erziehungswissenschaft, ist Hochschulprofessorin für Bildungssoziologie und Qualitätsmanagement an der Pädagogischen Hochschule Steiermark.