soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 25 (2021) / Rubrik „Sozialarbeitswissenschaft“ / Standort Feldkirchen
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/view/718/1326.pdf


Hubert Höllmüller:

Kritik des reinen Konstruktivismus in der Sozialen Arbeit


1. Einleitung

Jede Wissenschaft hat ihre erkenntnistheoretischen Grundlagen, ob nun ausdrücklich formuliert oder implizit wirksam. Für die Soziale Arbeit gilt eher Zweiteres: auch wenn Erkenntnistheorie im Ausbildungskanon formuliert ist,1 erkenntnistheoretische Diskurse, die sich auch als solche definieren, sind wenig auffindbar.2 Allerdings hat eines der zentralen erkenntnistheoretischen Paradigmen über mehrere Methodendebatten Einzug in die Soziale Arbeit gehalten: der Konstruktivismus und damit verbunden „das Systemische“. Dieser Sammelbegriff hat seine Ursprünge in professionellen Handlungskonzepten:

„Die systemische Psychotherapie, die systemische Beratung und die systemische Supervision bauen auf modernen Konzepten systemtheoretischer Wissenschaft auf, die mittlerweile Eingang in alle Disziplinen der Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften gefunden haben.“ (Rotthaus 2001)

Rotthaus konstatierte schon vor zwei Jahrzehnten, dass dieses zentrale Paradigma, das er mit Systemtheorien verknüpft, nicht nur in der Sozialen Arbeit aufgenommen wurde, sondern für die gesamte Wissenschaft Bedeutung erlangt hat.

Konstruktivismus und die Systemtheorien, unter anderen die von Niklas Luhmann, sind in der Sozialen Arbeit nicht dominant oder gar allein bestimmend, aber durch die enge Anbindung an methodische Konzepte gut verankert. Dabei geht es um das Lösen von psychosozialen Problemen beziehungsweise um Linderung von Leid und Belastungen, wobei die Frage nach der Sichtweise der Betroffenen als Beobachter_innen in den Blick gerät. Als entstehende Wissenschaft mit sehr starkem Professionsbezug hat sich in der Sozialen Arbeit das Systemische so etabliert:

„Systemisch als Begriff bedeutet, […] [d]ass wir es sind, die sich für bestimmte Sicht- und Betrachtungsweisen entscheiden, dass wir die Perspektiven, mit denen wir uns und unsere Umwelt beschreiben und erklären, selbst wählen und somit wir für sie verantwortlich sind – und dass wir uns nicht auf objektive Wahrheiten verlassen können […]. Dass wir verantwortlich sind dafür, wie wir die Welt und unsere Umwelt, einschließlich der beteiligten Menschen und ihrer Situationen, sehen.“ (Herwig-Lempp 2012: 62f.)

Wo Betroffene Schwierigkeiten haben, Auswege und Lösungen zu sehen, bedeutet psychosoziale Unterstützung, dass eben diese Auswege und Lösungen im Zentrum stehen. Wie ist es möglich, etwas da sein zu lassen, das für die Betroffene (noch) nicht da ist? Durch gezielte Fragetechniken sollen Personen dazu gebracht werden, für sich etwas zu sehen, das vorher noch nicht da war (simples Beispiel: Eine Krise als Chance).

Im Fall der Sozialen Arbeit – wie wissenschaftstheoretisch vermutlich bei fast allen Disziplinen – war die Profession vor der wissenschaftlichen Disziplin da, wobei letztere die üblichen Behauptungs- und Legitimationsprozeduren durch das Wissenschaftssystem gerade durchläuft. Soziale Arbeit hatte sich als Profession mehrheitlich der Lösung sozialer Probleme verschrieben und kommt damit in Auftragskonflikte durch ein mehrfaches Mandat. Der Demokratisierungsanspruch der letzten Jahrzehnte fordert gegenüber diesen Mandaten ein klares Bekenntnis zu einer Art von Problemlösung, die vor allem die Sicht der Betroffenen miteinbezieht.

Demokratisierungsanspruch bedeutet nicht Demokratisierung, aber er reicht aus, um bevormundende, hierarchische beziehungsweise autoritäre Strukturen zu hinterfragen. Hinterfragen heißt allerdings nicht schon per se, etwas zu ändern. Doch der diskursive Demokratisierungsanspruch fördert die Selbstreflexion. Diese vermehrte Reflexion wiederum brachte die Profession auf erkenntnistheoretische Fragestellungen. So wurde das Paradigma des Konstruktivismus in die Soziale Arbeit eingeführt. Hauptsächlich erweiterte es den methodischen Spielraum des professionellen Handelns im psychosozialen Feld. Eine grundlegende Debatte, wie zum Beispiel in der Soziologie zwischen David Bloor und Bruno Latour, hat es in der Sozialen Arbeit zum Konstruktivismus nicht gegeben.3 Zwar wurde der Gegensatz zwischen Realismus und Konstruktivismus diskutiert, aber nicht in der Form einer Debatte mit ausgewiesenen Positionen, vorgelegten Argumentationsketten und konkreten Ableitungen, was die jeweiligen Begriffe für ein Handeln in der Profession Soziale Arbeit bedeuten würden. Durch das Fehlen einer solchen Auseinandersetzung bleibt zwar der Konstruktivismus relativ unwidersprochen, aber zugleich bleibt das dominante, meist implizite erkenntnistheoretische Paradigma der Sozialen Arbeit – der Realismus – in allen seinen Variationen bestehen. Dieser Realismus behindert die Reflexion der Profession und die Ausdifferenzierung der Disziplin Soziale Arbeit.


2. Die zwei Widersprüche des Konstruktivismus

Der Konstruktivismus hat fast ausschließlich Einfluss auf der Methodenebene, weil er auf der Ebene des Theoretisierens einfach in Widersprüche zu bringen ist. Der erste – pragmatische – Widerspruch ist, dass der Konstruktivismus aufgrund seiner eigenen Annahmen schnell in die Beliebigkeit führen kann. Wenn eine Krise auch eine Chance sein kann, dann kann sie auch eine Katastrophe sein. Der dem Konstruktivismus eigenen Lösungsorientierung entsprechend, wäre es besser, einer Krise etwas Positives abzugewinnen, aber es wäre genauso konstruktivistisch, in der Krise etwas noch negativeres zu sehen.

Heinz von Förster verwendet als Beispiel für die realitätsschaffende Kraft des Konstruktivismus die Veränderung vom DSM3 zum DSM4 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders – ein Klassifikationssystem der Psychiatrie), wo im Ersteren Homosexualität als Krankheit klassifiziert wurde und im Letzteren nicht mehr: „Und mit dieser Entscheidung wurden Millionen von Menschen auf einen Schlag geheilt.“ (von Förster/Pörksen 2003: 76) Daran anknüpfend gab es eine Veränderung vom DSM4 zum DSM5, wo wiederum neue Krankheiten aufgenommen wurden, unter anderem schwere Trauer, die länger als zwei Wochen dauert. Von Förster würde diese neue Krankschreibung von schwerer Trauer sicherlich nicht befürworten, aber sie ließe sich im Sinne des Konstruktivismus jedenfalls rechtfertigen.

Auf der Homepage zur systemischen Sozialarbeit ist zu lesen, dass es in einer Entscheidungssituation immer mindestens sieben Wahl- und Handlungsmöglichkeiten gibt, wodurch das Handlungsspektrum massiv erweitert erscheint (vgl. Systeme Sozialarbeit o.J.). Dazu muss aber eine der sieben Möglichkeiten ausgewählt und damit Realität werden. Der Möglichkeitsraum wäre damit geschlossen. Die Alternative wäre, nicht zu entscheiden, dann ließe sich der Möglichkeitsraum beliebig erweitern oder einschränken. Aber es geht in der systemischen Perspektive nicht darum, nicht zu entscheiden, sondern anders zu entscheiden.

Der zweite – selbstreferentielle – Widerspruch ist ein logischer und liegt darin, dass sich der Konstruktivismus nicht auf sich selbst anwenden lässt, ohne sich damit aufzuheben. Der Konstruktivismus argumentiert in einer realistischen Sprache. Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners (2003), formulieren Heinz von Förster und Bernhard Pörksen in ihrem Buchtitel provokant und realistisch. „Ist“ lässt keine andere Möglichkeit zu, und „Lügner“ ebenfalls nicht. Alle Positionen des Konstruktivismus werden als Realismus vertreten. In der Handlungsorientierung der Sozialen Arbeit mag das nicht besonders auffallen, weil es hier darum geht, im Sinne der Problemlösung oder anderer Ziele eine „bessere“ Realität zu schaffen. Der Konstruktivismus ist dabei ein nötiges Intermezzo, um „schlechtere“ Realitäten aufzubrechen, aber Ziele sollen ja erreicht werden und das ist konstruktivistisch nicht möglich.


3. Erkenntnistheoretische Grundfrage

Das Theoretisieren von Erkenntnis beinhaltet die Frage danach, wie der Prozess des Erkennens abläuft. Dazu braucht es ein Erkenntnissubjekt, also eine erkennende Perspektive (das kann auch ein System sein), und ein Erkenntnisobjekt (oder eine Systemumwelt), die es zu erkennen gilt. In einer Metapher formuliert, geht es darum, wie ein Ich den Zugang zur Welt bekommt. Das bedeutet für ein Ich, das sich als abgegrenzt von der Welt beschreibt, die Frage, wie es die eigene Grenze zur Welt überschreiten kann.

Auf eben diese Frage gibt es zwei Antworten (mit jeweils sehr vielen Variationen): Ja, das Ich kann seine Grenze zur Welt überschreiten und so die Welt wahrnehmen, oder nein, das ist nicht möglich und das Ich muss sich die äußere Welt innerhalb seiner Grenze vorstellen. Beide Positionen korrespondieren mit einer je anderen Vorstellung von Wahrnehmung: Wahrnehmung als Transfer oder Wahrnehmung als Konstruktion. Die erste Antwort begründet eine Vielzahl realistischer Modelle, die zweite Antwort relativistische bis konstruktivistische.

Abbildung 1
Abbildung 1: Erkenntnistheoretische Grundfrage (Sorgo 2015)


Die erkenntnistheoretische Frage lautet also, ob ein erkennendes Subjekt/System in der Lage ist, die eigenen Subjekt-/Systemgrenzen zu überschreiten, und somit die das Subjekt/System umschließende Realität mit seinen Sinnen zu erfassen. Oder ob es – nach dem Bild der soziologischen Systemtheorie – als operational geschlossenes System nicht im Stande ist, die eigenen Grenzen zu überschreiten und deshalb veranlasst ist, die umschließende Realität durch innere Konstruktion zu vollziehen bzw. nachzuvollziehen. „Nach“ impliziert hier auch einen zeitlichen Aspekt, dass nämlich die Systemumwelt immer schon vor dem System da war und Eigenschaften besitzt, die einerseits die Systembildung erst ermöglichen, aber andererseits das System auch einschränken (vgl. Luhmann 1987: 242ff.). Jahrtausende der Erkenntnisgeschichte haben uns gezeigt, wie sehr wir uns in Bezug auf Realität irren können, wie sehr wir uns mit Wahr-nehmungen täuschen, wie sehr die Perspektive bestimmt, was wir wie erfassen, sehen, begreifen und verstehen. Trotzdem sind unsere Alltagstheorien meist realistisch fundiert. Das macht im Alltag auch sehr viel Sinn – zumindest solange die Routinen funktionieren oder, wenn sie nicht funktionieren, sich aufrechterhalten lassen.


4. Die soziologische Systemtheorie von Niklas Luhmann

Eine der Systemtheorien, auf die die Soziale Arbeit Bezug nimmt, ist die soziologische Systemtheorie von Niklas Luhmann. Diese ist verkürzt in der Disziplin und Profession Sozialer Arbeit angekommen. „Systemisch“ ist eine zentrale Formel im Bereich von Handlungskonzepten: Systeme werden aufgestellt, auf Brettern dargestellt und – statt kausal beeinflusst – irritiert oder, sanfter, von außen angeregt. Das Schlagwort systemisch scheint dabei besser einem handlungsbezogenen Verständnis zu entsprechen als dem Begriff systemtheoretisch.

Es ist die kommunikationstheoretische Dimension der soziologischen Systemtheorie, die neben Paul Watzlawick und von Förster Luhmann für die Soziale Arbeit attraktiv macht. Häufig wird der Systembegriff allerdings nur verwendet, um das generelle Verständnis auszudrücken, dass soziale Beziehungen und Zusammenhänge eben zusammenhängen und nicht losgelöst voneinander gesehen werden können. Damit verbunden wird die Annahme, dass bei zwischenmenschlichen Problemen sowie bei Problemen der Selbstwahrnehmung eine realistische und damit objektive Wirklichkeit wenig förderlich ist für Lösungen im Sinne der Betroffenen: „Objektivität ist die Selbsttäuschung eines Subjekts, dass es Beobachten ohne ein Subjekt geben könnte. Die Berufung auf Objektivität ist die Verweigerung der Verantwortung – daher auch ihre Beliebtheit.“ (von Glasersfeld 1998: 242)

Im Gegensatz zu objektivistischen Ansätzen entwickelte sich die Vorstellung, dass Missverstehen und Irrtümer keine „Unfälle“ der Wahrnehmung sind, sondern Konstruktionen, die auch anders möglich sind. Zusätzlich etablierte sich die ethische Perspektive, dass Objektivität Verantwortung obsolet macht. Das reichte und reicht aus, um mit paradoxen, imaginativen und anderen Methoden Bewegung in zwischenmenschliche Fronten zu bringen und Betroffene Umstände neu sehen zu lassen. Der Verweis auf die Konstruktion von Realität blieb dabei Großteils ohne erkenntnistheoretische Grundlegung. Ohne diese bleibt die Theoriebildung Sozialer Arbeit allerdings in einem teils impliziten, teils expliziten Realismus stecken und kann sich so auf einer theoretischen Ebene gegenüber Nachbardisziplinen wie Psychologie und Medizin nicht als eigenständig behaupten.

Luhmann legt als Basis für seine Systemtheorie fest: „Es gibt Systeme“, und das ohne „erkenntnistheoretische Zweifel“ (Luhmann 1984: 30). Gleichzeitig verknüpft er den Systembegriff mit dem Begriff der Systemumwelt, denn diese ist Entstehungs- und Existenzbedingung jedes Systems. Die Systeme sind operational geschlossen, ihre Operationen entstehen und existieren nur innerhalb der Systemgrenzen.

Typische Phänomene aller psychosozialen und pädagogischen Berufsfelder waren und sind Kommunikationsprobleme, Missverständnisse, gute Absichten, die zu schlechten Ergebnissen führen, Auflösungstendenzen psychiatrischer Krankheitskonzepte und Desorganisationsphänomene generell. Wenn diese entsprechend reflektiert werden, können sie die Grenzen eines realistischen Weltbildes aufzeigen. Probleme sind dann nicht mehr objektive Tatsachen, sondern können als von den Beteiligten mitgestaltete Prozesse verstanden werden.4 Wenn bei Konflikten nicht einer recht und der andere unrecht hat (bzw. eine die Macht und eine die Ohnmacht hat), wenn jemand nicht mehr krank, dumm oder exkludiert ist, sondern dazu gemacht wird, dann kann dies ein realistisches Verständnis von Problemen sprengen. Wenn verschiedene Realismen das jeweilige Problem begründen, ist eine nachhaltige Lösung nicht darin zu finden, eine dieser Realitäten zur Wahrheit zu erklären.5 Dies ließe sich mit Macht und Autorität schon eine Zeit lang bewerkstelligen, aber eine zielführende – im Sinne einer problemlösenden – Alternative ist, sich auf Kommunikation einzulassen.

Beziehungsprobleme, die bei den Betroffenen massives Leiden verursachen, lassen sich kommunikativ anders bearbeiten. Genauso wie Sichtweisen von sich selbst, die handlungsunfähig machen. Das Arbeiten mit Sprache, mit dem Begriff „Beratung“ zum Kernprozess Sozialer Arbeit gemacht, ermöglicht neue Interventionsperspektiven. Dort, wo nicht mehr auf Autorität und Gewalt gesetzt wird, fächert Kommunikation die Realität auf und macht sie mit jeder Kommunikation komplexer. Darauf lässt sich mit Problematisierung der Erkenntnis reagieren.

„Erkenntnistheoretische Reflexionen, zumal wenn sie konstruktivistischen Zuschnitts sind, haben das Potential, Praktiker auf viele bisher kaum bewusste Grundannahmen hinzuweisen, welche die unmittelbare Arbeit keineswegs nur am Rande tangieren.“ (Kleve 2009: 15)

„Kaum bewusste Grundannahmen“ ergeben Handlungsstrategien, die oft nicht zum Ziel führen. Das lässt sich nicht immer ausblenden. Wenn also systematische erkenntnistheoretische Reflexionen angestellt werden, kann das zum Konstruktivismus führen, der dann für die Soziale Arbeit eine bedeutendere Rolle spielt. Für Kleve, als einem der Hauptvertreter eines konstruktivistisch-systemtheoretischen Konzepts, hat die gesteigerte Rezeption erkenntnistheoretischer Reflexionen konstruktivistischen Zuschnitts zwei Gründe: der Diskurs des radikalen Konstruktivismus (allerdings fand dieser nicht in der Sozialen Arbeit statt) und die Globalisierung, die zu einer Relativierung unser aller Lebensentwürfe und Lebensvollzüge geführt hat:

„Im Strudel dieser Globalisierung der Lebenswelten wird deutlich, dass die Sichtweisen von der Wirklichkeit vielfältig sein können, dass es einen Möglichkeitsreichtum an Weltwahrnehmung und -kommunikation gibt. Demnach ist die Vorstellung, dass wir es in der Welt mit einer Wirklichkeit zu tun haben, nicht haltbar.“ (Kleve 2009: 11)

Kleve versucht sich an einer „an modernen systemtheoretischen Konzepten ausgerichteten konstruktivistischen Epistemologie“ (ebd.: 15), also einer konstruktivistischen Erkenntnistheorie. Die Frage ist allerdings, ob sich diese modernen systemtheoretischen Konzepte selbst an einer konstruktivistischen Epistemologie ausrichten bzw. ausrichten lassen. Kleve jedenfalls macht dies, um dann folgerichtig festzustellen, dass die moderne Systemtheorie „dem hier referierten Konstruktivismus zugrunde liegt“ (Kleve 2009: 16).

Die moderne Systemtheorie in der Ausformulierung Luhmanns, auf die Kleve abstellen will, vertritt keinen Konstruktivismus. Auch wenn er Selbstreferenzialität als Kern (seines) konstruktivistischen Denkens ansieht, erfasst er damit das Systemkonzept von Luhmann nur teilweise:

„Weil wir uns als lebende und psychische Systeme ausschließlich auf unsere eigenen Zustände (z.B. Sinneswahrnehmungen, Beobachtungen oder Beschreibungen) beziehen können, ist alles, was wir wahrnehmen und für objektiv gegeben halten, eine durch uns konstituierte Wirklichkeit.“ (Kleve 2009: 17–18)

Für Luhmann dagegen ist zentral, dass seine Unterscheidung von System und Umwelt im System als re-entry (vgl. Spencer-Brown 1997: 60ff.) wieder vorkommt und dass das System in jeder seiner Operationen entweder einen Selbstbezug oder einen Fremdbezug vornimmt. Fremdbezug bedeutet, das System ordnet etwas der inneren Umwelt zu, die es als äußere Umwelt betrachtet. Im Vollzug dieser Operation ist die innere (Um-)Welt die äußere (Um-)Welt (vgl. Luhmann 1999: 45f.).

Abbildung 2
Abbildung 2: Selbst- oder Fremdbezug als Perspektive jeder Systemoperation (Sorgo 2015)


Was sich mit systemtheoretischem Denken ebenfalls schwer vereinbaren lässt, ist der von Kleve zentral gesetzte Begriff der Strukturdeterminiertheit, also die Festgelegtheit eines Systems durch seine innere Struktur. Das besagt weit mehr als der Sinnbegriff bei Luhmann. Der Wechsel von Selbstbezug und Fremdbezug des Bewusstseins und damit die innere Erschaffung einer Innenwelt und einer Außenwelt, läuft nicht deterministisch ab. Determinismus impliziert Kausalität, und die ist in einem sich selbst erzeugenden System nicht zu haben. Das heißt nicht, dass das System keine Strukturen ausbildet. Aber Strukturdeterminiertheit vernachlässigt die Zeitdimension, also die Frage, wo und wie diese Struktur im System existiert, während es von einer aktuellen Operation zur nächsten Operation prozessiert. Als Gedächtnis des Bewusstseins müsste es in den neuronalen Netzwerken des Gehirns vorhanden sein, aber das ist ein anderes System. Wie sollte es also möglich sein, sich an etwas zu erinnern, das außerhalb des Systems Bewusstsein existiert? Die Figur der strukturellen Kopplung sagt nur, dass wir aufgrund äußerer Störungen innere Strukturen ausbilden (können).6

Also müsste das Gedächtnis eine innere Struktur sein. Aber wo ist sie, wenn das System nur aktuell in seiner Operation existiert? Hier ist die Antwort von Luhmann folgende: Die Struktur ist Sinn, der bei jeder Systemoperation mitgeführt werden muss und der neben dem Aktuellen immer das Mögliche mitführt, damit es nicht verschwindet. In Anschluss daran kann Determiniertheit nicht mehr der adäquate Begriff sein. Der Begriff der Anschlussfähigkeit beschreibt die Verengung genauer, die uns Sinn beschert: Die Folgeoperation ist nicht durch die aktuelle Operation determiniert, also festgelegt, sondern der Möglichkeitsraum, in dem etwas Sinn macht, ist durch den aktuellen Sinn festgelegt (vgl. Luhmann 1999: 44ff.).

Abbildung 3
Abbildung 3: Sinn (Sorgo 2015)


Aufgrund der zentralen Bedeutung des Begriffs der Strukturdeterminiertheit von Systemen bei Kleve bleibt unklar, welchen Realitätsstatus diese Systemstrukturen haben können. Wo manifestieren sich diese Strukturen und wie können sie über die Gegenwart hinaus existieren? Hier sitzt das traditionelle Systemmodell mit der Vorstellung einer existenten (und nicht kontingenten) Struktur dem eigenen Realismus auf. Luhmann löst sich davon, indem er stärker auf den jeweils aktuellen Systemprozess abstellt und seinen Realismus auf den gegenwärtigen Moment reduziert: Das System existiert nur mehr im aktuellen Moment und dieser muss die gesamte Systemrealität zum anschließenden Moment mitführen. Schließlich ist eine materielle Speicherung oder Zwischenlagerung konstruktivistisch nicht argumentierbar – was Konstruktivist_innen nicht daran hindert, sie realistisch zu behaupten. Gedächtnis ist kein materielles Gedankenlager, sondern eine von Moment zu Moment weitergereichte Struktur von aktuell Realem und potentiell Möglichem.

Luhmanns Grundposition der operationalen Geschlossenheit von Bewusstsein und Kommunikation ist zwar erkenntnistheoretischer Konstruktivismus. Aber diese operationale Geschlossenheit benötigt die realistische Sichtweise. Statt der Unterscheidung Subjekt/Welt wählt Luhmann die Unterscheidung System/Umwelt – das Verhältnis bleibt dasselbe. Wenn ein Bewusstseinssystem nun eine Beschreibung von sich selbst anfertigt, dann liegt die Fähigkeit zu dieser Selbstbeschreibung in der operationalen Abschließung von seiner Umwelt. Diese Selbstbeschreibung ist aber nur aufgrund der Einführung der Grundunterscheidung Subjekt/Welt bzw. System/Umwelt möglich. Es handelt sich dabei um einen Fall von Zirkularität. Es wird eine Grundunterscheidung eingeführt und zugleich eine der beiden Seiten verwendet. Statt der klassischen Subjektvorstellung (das Ich ist losgelöst von der Welt) heißt es dann nicht „Ich und nichts Anderes“, sondern „Ich oder etwas Anderes“.

Die Unterscheidung funktioniert derart, dass die aktuell verwendete Seite die andere Seite immer mitführt, ohne diese zu sein. Dadurch entsteht die Möglichkeit, dass sich viele Unterscheidungen so ineinander verschachteln, dass sie nicht mehr als einzelne beobachtbar werden. Gegenwärtig kann dann immer etwas Bestimmtes „sein“, ohne dass all das aktuell nicht Bestimmte, aber Bestimmbare verschwinden muss. Diese Unterscheidungskaskaden eröffnen die Sinnhorizonte, die uns erlauben Realität festzustellen, ohne dass die mögliche Realität verschwindet. Doch das System kann sich nur selbst beschreiben, indem es sich als unterschieden von einer (Um-)Welt beschreibt. Aber diese Selbstbeschreibung findet im System statt. Fuchs formuliert das so:

„Wir wohnen im Haus des Sinns. Und: Es ist ein unverlassbares Haus. […] Wir erreichen die Primärprozesse nicht, durch die der uns mögliche Sinn konstelliert wurde. In gewisser Weise verdeckt Sinn die Selektivität seiner Selektivität, weil er in Betrieb ist.“ (Fuchs 2011: 100)


5. Auswege aus der Realismus-Konstruktivismus-Kontroverse

Wenn bei Problemlagen oder Fragestellungen Handlungsoptionen nicht zielführend sind oder außerhalb der Möglichkeiten liegen, lässt sich fragen, ob die Realität nicht eine andere sein könnte. Das ist Reflexion. Aber die Frage ist nicht, ob es deshalb keine Realität gibt, sondern bloß, ob es eine andere gibt. Der Konstruktivismus wird nicht eingesetzt, um Realität zu negieren, sondern um von einer – wenig hilfreichen – Realität zu einer anderen – lösungsermöglichenden – Realität zu kommen. Für die Soziale Arbeit als Disziplin und Profession ist beides nötig: Die Realismus-Annahme, um handeln zu können, und konstruktivistische Zwischenschritte, um das Handlungsspektrum zu erweitern.

Wenn somit beide Positionen nur in Kombination Sinn machen, braucht es einen Ausweg aus dem Realismus-Konstruktivismus-Gegensatz. Die soziologische Systemtheorie beginnt mit dem Grundsatz: Es gibt Systeme. Auf meinen Zugang zur Kontroverse bezogen hieße dies: Es gibt Realismen und es gibt Konstruktivismen. Wie ist es möglich, dass es für uns Realismen und Konstruktivismen nebeneinander geben kann, ohne dass sich diese in einen logischen Widerspruch verkeilen (müssen) wie zwei Fahrzeuge bei einem Frontalzusammenstoß?


5.1 Bewusstsein als operational geschlossenes Sinn-prozessierendes System

Mit dem Konzept des operational geschlossenen Sinn-prozessierenden Systems ist es möglich, das Nebeneinander von Realismen und Konstruktivismen zu erklären. Für dieses Argument sind zwei Grundannahmen nötig.

Erste Grundannahme: Die Subjekt/Objekt-Unterscheidung muss zur System/Umwelt-Unterscheidung verschoben werden. Das klassische erkenntnistheoretische Grundmodell verwendet die Unterscheidung Subjekt/Objekt bzw. Subjekt/Welt. Diese Unterscheidung impliziert eine kategoriale Trennung von Subjekt und Objekt und eine gleichzeitige Existenz beider Seiten. Dadurch lassen sich sowohl Subjekt als auch Objekt losgelöst voneinander denken. Der Solipsismus als radikale gedankliche Abkopplung des Subjekts von der Welt bzw. den Objekten ist mit dieser Grundunterscheidung mitangelegt: sie ist tendenziell ahistorisch und blendet die Entstehungsbedingungen des Subjekts, die außerhalb seiner selbst liegen (müssen), aus.

Eine Alternative zu dieser Grundunterscheidung ist die von System und Umwelt. Auch wenn durch die Systemgrenze eine klare Unterscheidung markiert wird, verweist sie auf einen Zusammenhang zwischen Umwelt und System, der nicht auflösbar ist: Das System ist zwar abgegrenzt, aber nicht losgelöst von seiner Umwelt. Nachdem in seiner Umwelt die Entstehungsbedingungen für das System liegen, lässt dieses sich nicht losgelöst von seiner Umwelt denken. Das Subjekt als System wird so historisch: Gerade weil es in seinen Operationen strikt von seiner Umwelt abgegrenzt ist, ist das System ohne Umwelt nicht denkbar. Die operationale Geschlossenheit ist Existenzbedingung des Systems, dabei bleibt es durch seine Umwelt aber störbar und zerstörbar (vgl. Luhmann 1999: 60ff.).

Zweite Grundannahme: Psychische wie soziale Systeme sind Sinn-prozessierende Systeme, also Systeme, in denen jeder Prozess auf Sinn beruht. Für Sinn ist eine Selbstbeschreibung notwendig und dafür wiederum eine Innen-/Außen-Unterscheidung. Jede Selbstbeschreibung braucht die Annahme eines Außenbezugs, auch wenn dieser innerhalb des Systems stattfindet, also auf der Innenseite des Systems wiedereingeführt wird. Sinn wird so in einem Wechsel von Innen- und Außenbezügen konstituiert. Beide finden jedoch innerhalb des Systems statt, weil sonst das System aufbrechen und sich damit auflösen würde. Die durch die operationale Schließung ermöglichte Systembildung macht einen Außenbezug auf der Ebene der Systemoperationen unmöglich. Außenbezug auf der Ebene der Systemoperationen würde für ein Bewusstsein bedeuten, dass es Gedanken aus seiner Umwelt in sich aufnehmen kann. Umgangssprachlich ist die Rede von einem Gedankenaustausch zwar sehr beliebt, aber der Austausch ist hier nur metaphorisch verstehbar. Für die Sinnentwicklung ist aber ein Außenbezug innerhalb des Systems notwendig. Im Moment so eines Außenbezuges ist dieser für das System nicht als systemintern sichtbar, weil es sonst kein Außenbezug, sondern ein Innenbezug wäre. Im Nachhinein kann das widerrufen werden, aber nur auf der Basis eines anderen – in seinem Vollzugsmoment unwiderrufbaren – Außenbezugs. Realismus und Konstruktivismus sind daher notwendige Bezugsperspektiven eines operativ geschlossenen Systems, das mit Sinn prozessiert (vgl. Luhmann 1987: 92ff.; Luhmann 1999: 44ff.).


5.2 Der komplexe Zirkel

Auch für das Argument zur Begründung des Nebeneinanders von Realismus und Konstruktivismus sind zwei Grundannahmen nötig. Die erste Grundannahme kann Luhmann selbst entnommen werden:

„Als komplex wollen wir eine zusammenhängende Menge von Elementen bezeichnen, wenn auf Grund immanenter Beschränkungen der Verknüpfungskapazität der Elemente nicht mehr jedes Element jederzeit mit jedem anderen verknüpft werden kann.“ (Luhmann 1987: 46)

Luhmann setzt mit dieser Definition Komplexität in einen zeitlichen Kontext. Für jegliche Beobachtungsperspektive liegt Komplexität vor, wenn eine Elementmenge – ein System – mehr Verknüpfungsmöglichkeiten besitzt als zu einem bestimmten Zeitpunkt realisiert werden können. Das – komplexe – System hat zu einem anderen Zeitpunkt auch eine andere Verknüpfungsstruktur. Das gilt zuerst einmal für eine externe Beobachtungsperspektive. Wenn ein beobachtetes System für eine Beobachterin zu zwei unterschiedlichen Zeitpunkten auch unterschiedlich aussieht, dann ist es komplex.

Das gilt aber auch für die besondere Beobachtungsperspektive der Selbstbeobachtung. Ein System wird für sich selbst komplex, wenn es sich in seinem Zusammenhang nicht mehr als Ganzes vergegenwärtigen kann, wenn die Gegenwart des Systems nicht mehr das ganze System sein kann. Ein Grund dafür sind „immanente Beschränkungen der Verknüpfungskapazität der Elemente“, d.h. die Elemente schaffen nur eine bestimmte Anzahl von Verknüpfungen mit anderen Elementen und deshalb können aktual nicht alle mit allen auf alle möglichen Arten verknüpft sein. Wenn ein System sich selbst beobachtet, ist ein Teil von sich selbst nicht sichtbar. Es geht dabei nicht nur um den blinden Fleck jeder Beobachtung, der besagt: Um beobachten zu können, muss der Beobachtungspunkt selbst außerhalb der Beobachtung liegen. Im einfachsten Fall wird das System für sich selbst komplex, weil dadurch, dass ein System sich selbst sieht, es nicht gleichzeitig sein Sehen sehen kann. Mit der Selbstrealisierung durch Selbstbeobachtung wird der Akt der Selbstbeschreibung möglich. Dabei wird der blinde Fleck verdoppelt: Der Akt des Beschreibens (als systeminterner Prozess ein Element des Systems) bleibt in der aktualen Gegenwart unbeschrieben. Er kann zwar in der darauffolgenden Gegenwart beschrieben werden, dann allerdings wieder von einem aktual unbeschriebenen Systemteil. Diese selbstreferentielle Beschränkung ist nach der obigen Definition von Komplexität ein Argument für die Annahme, dass Systeme zumindest ab dem Zeitpunkt komplex sind, wo sie eine Selbstbeobachtung durchführen und darauf aufbauend eine Selbstbeschreibung von sich anfertigen.

Zweite Grundannahme: Der Bezug zwischen realistischen Perspektiven (R1-Rn) und konstruktivistischen (K1-Kn) ist zirkulär. Zirkulär bedeutet, dass sich konstruktivistische und realistische Zuschreibungen aufeinander beziehen. Auch der Bezug zwischen einer Beobachtungsperspektive B1 und einer Beobachtungsperspektive B2, die B1 beobachtet, ist zirkulär, sobald er komplex wird. Beide Zirkularitäten bedeuten im Sinne der nicht-trivialen Maschine von Heinz von Förster wiederum das Ausbilden von Eigenwerten, also scheinbaren Stabilitäten.

Der komplexe Zirkel zeigt, dass sich in den Operationsketten von Systemen durchaus realistische und konstruktivistische Positionen abwechseln können, ohne automatisch Widersprüche zu produzieren, die jede weitere Operation stoppen würden. Durch die Komplexität des Systems wird der komplexe Zirkel nicht als Zirkel sichtbar und damit auch nicht sichtbar, wo überall in der Geschichte der Operationen Konstruktivismen und wo Realismen liegen. Das Aufdecken vom einen oder anderen verdeckt zugleich viele andere. So ist es möglich, realistische und konstruktivistische Zuschreibungen sinnvoll nebeneinander stehen zu lassen.

In der Praxis zeigt sich dies beispielsweise, wenn Eltern in einem Beratungssetting dazu gelangen, dass ihre Tochter nicht deshalb auffällig ist, weil ihr die Beziehung zu ihren Eltern nichts mehr bedeutet, sondern weil sie mehr Aufmerksamkeit von ihnen möchte. Und wenn diese Eltern ihr dann auch vermehrte Aufmerksamkeit entgegenbringen wollen, dann will die (systemische) Soziale Arbeit, dass das so bleibt und dass der Trick, durch einen Perspektivenwechsel zu einem Realitätswechsel zu kommen, nicht als Trick angesehen wird.


Verweise
1 Exemplarisch dafür das Kerncurriculum Soziale Arbeit der DGSA, unter „fachwissenschaftliche Grundlagen“: „Erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Fragen (in) der Sozialen Arbeit“ (DGSA o.J.: 5).
2 Vielleicht ändert sich das durch die bevorstehende Veröffentlichung von Erkenntnistheorie der Sozialen Arbeit von Hundek/Mürel bei Beltz/Juventa im April diesen Jahres.
3 Eine prägnante Zusammenfassung findet sich bei Javier de Riviera in David Bloor’s „Anti-Latour“ and the discussion (2013).
4 Dazu als ausführliche Gegenposition: „Dass ein konkreter Rückbezug auf wissenschafts- und erkenntnistheoretische Grundlagen für die Wissenschaften Sozialer Arbeit durchaus fruchtbar sein kann, beweisen u.a. die auf der Basis des wissenschaftlichen Realismus basierenden, sozialarbeitswissenschaftlichen Positionsbestimmungen der Zürcher Schule (vgl. u.a. Staub-Bernasconi 2009a; Obrecht 2009a) oder das Konzept, Soziale Arbeit mit Hilfe des ‚kritischen Realismus‘ als Wissenschaft Grund zu legen (vgl. Röh 2009). Auch die Phänomenologie, die Hermeneutik und die Kritische Theorie als unterschiedliche Erkenntnismodelle zur Begründung des Wissenschaftsanspruchs der Sozialen Arbeit sind in den Wissenschaften Sozialer Arbeit bis dato gut etabliert; sie sind jedoch noch weitaus stärker als bisher in den Rahmen der wissenschaftlichen Theorieentwicklung in Sozialer Arbeit einzubetten, um die Theoriediskurse und die vielfältigen Theorieangebote auf ihre wissenschafts- und erkenntnistheoretische Begründbarkeit und Legitimation zu überprüfen.“ (Birgmeier 2012)
5 Das betrifft nicht den Bereich materieller Notlagen und Ungleichheiten, wo zwar der Konstruktivismus theoretisch keinen Unterschied machen würde, die Soziale Arbeit aber sehr wohl: Gesellschaftliche Solidarität mit Armut und anderer materieller Exklusion ist ein Grundsatz und entsprechende Realitäten sind weder in der Profession noch in der Disziplin verhandelbar. Diese als Konstruktionen zu bezeichnen, würde die ethischen Grundlagen der Sozialen Arbeit aufheben.
6 Die Figur der strukturellen Kopplung übernimmt Luhmann von Maturana und meint damit, dass sich wegen der Geschlossenheit der Systeme jeweils systemintern an ihren Grenzen aufgrund gegenseitiger Störungen Strukturen ausbilden können, die dann gegenseitige Entsprechungen ermöglichen: Ein bestimmter Zisch- und Grunz-Laut eines Körpers, der an ein Bewusstseinssystem gekoppelt ist, wird dann für das „hörende“ Bewusstseinssystem zu einem sinnhaften Wort.


Literatur

Birgmeier, Bernd (2012): Zur Notwendigkeit der Wissenschafts- und Erkenntnistheorie in der Wissenschaft Soziale Arbeit – ein Preview. In: Ders. (Hg.): Soziale Arbeit als Wissenschaft. Bd. 1. Wiesbaden: Springer VS, S. 180–181.

de Riviere, Javier (2013): David Bloor’s “Anti-Latour“ and the discussion. http://javierderivera.net/2013/11/14/bloors-anti-latour-and-the-discussion/ (13.1.2021).

DGSA – Deutsche Gesellschaft für Soziale Arbeit (o.J.): Kerncurriculum Soziale Arbeit. https://www.dgsa.de/ueber-uns/kerncurriculum-soziale-arbeit/ (13.1.2021).

Fuchs, Peter (2011): Die Verwaltung der vagen Dinge. Heidelberg: Carl-Auer.

Herwig-Lempp, Johannes (2012): Ressourcenorientierte Teamarbeit. Systemische Praxis der kollegialen Beratung. Göttingen: Vandenhoeck + Ruprecht.

Kleve, Heiko (2009): Konstruktivismus und Soziale Arbeit. Wiesbaden: VS Verlag.

Luhmann, Niklas (1999): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Bd. 1 und 2. Frankfurt/Main: Suhrkamp.

Luhmann, Niklas (1992): Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt/Main: Suhrkamp.

Luhmann, Niklas (1987): Soziale Systeme, Frankfurt/Main: Suhrkamp.

Rotthaus, Wilhelm (2001): Was heißt systemisch? Systemische Sozialarbeit. https://www.systemische-sozialarbeit.de/soziale-arbeit/zitate/ (13.01.2021).

Sorgo, Florian (2015): Luhmanndiagramme. Unveröffentlicht.

Spencer-Brown (1997): Laws of Form. Leipzig: Bohmeier.

Systeme Sozialarbeit (o.J.): https://www.systemische-sozialarbeit.de/ (13.01.2021).

von Förster, Heinz/Pörksen, Bernhard (2003): Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Heidelberg: Carl-Auer.

von Glasersfeld, Ernst (1998): Erklärung der American Society for Cybernetics. In: Ders. (Hg.): Radikaler Konstruktivismus. Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 238–244.


Über den Autor


FH-Prof. Mag. Dr. Hubert Höllmüller
h.hoellmueller@fh-kaernten.at

Professur am Studiengang Soziale Arbeit der FH Kärnten, Schwerpunkt Kindheit/Jugend, internationaler Koordinator, Forschungen zur Kinder- und Jugendhilfe in Österreich, zu Slowenien und zum Westsaharakonflikt. Doktoratsstudium der Philosophie an der Carl-Franzens-Universität Graz mit Schwerpunkt Erkenntnistheorie und Wissenschaftstheorie.
Aktuelle Publikationen: Niederschwelligkeit in der Sozialen Arbeit (Hg. mit Helmut Arnold) Juventa 2017, Erasmus goes Westsahara (Hg. mit Lisa Bebek und Franziska Syme) Drava Verlag 2019.