soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 25 (2021) / Rubrik „Sozialarbeitswissenschaft“ / Standort Wien
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/view/719/1328.pdf


Mira Liepold:

Drei Jahre Alkoholkonsumverbot am Praterstern in Wien

Die Wahrnehmungen marginalisierter Menschen in Hinblick auf das Verbot


„Der ‚Hotspot‘ ist eine mediale Erfindung. Er ist der Versuch, die Phantasie eines reinen, sauberen, letztendlich kleinbürgerlich-konservativen Modells von Stadt durchzusetzen. Der öffentliche Raum gehört aber allen!“ (Reinhard Kreissl zum AUGUSTIN, in: Mackinger 2018: 10)

Der Praterstern liegt im Herzen des zweiten Wiener Gemeindebezirks und ist ein über die Stadtgrenzen hinweg bekannter Bahnhof und innerstädtischer Verkehrsknotenpunkt, an dem sich diverse neoliberale Stadtentwicklungsprojekte manifestieren.1 Hier laufen verschiedene öffentliche Verkehrsmittel zusammen, was den Praterstern zu einem wichtigen Transitort macht. Für viele Menschen ist der Praterstern ein historisch gewachsener sozialer Treffpunkt. Im Zuge der sogenannten „Bahnhofsoffensive“ (vgl. Diebäcker 2019: 147) im Jahr 2008 wurde der Praterstern bereits einmal umgebaut und stärker kommerzialisiert. Seit dem Jahr 2020 wird der Praterstern wieder baulich umgestaltet, unter anderem entstehen dabei ein weiterer Gastgarten und eine neue Polizeistation direkt am Bahnhofsvorplatz. Die Stadt Wien möchte mit diesen Maßnahmen das „subjektive Sicherheitsgefühl“ der „Öffi-Nutzer*innen“ steigern und den Platz „attraktiver“ machen (vgl. Stadt Wien o.J.). Medial wird der Praterstern häufig als ‚Brennpunkt‘ und ‚Hotspot‘ bezeichnet. Im Zuge dessen wird die Existenz bestimmter Nutzungsformen vor Ort problematisiert. Vor allem der Eigenschaft des Pratersterns als Aufenthaltsort für marginalisierte Menschen wird viel mediale und politische Aufmerksamkeit geschenkt. ‚Personen ohne Beförderungsabsicht,‘ wie die Zielgruppe des Alkoholkonsumverbots von der Wiener Verkehrsstadträtin Ulli Sima genannt wurde (vgl. Krutzler 2018), halten sich überdurchschnittlich häufig und lange am Praterstern auf. Das liegt unter anderem daran, dass sie auf öffentliche Orte angewiesen sind – sowohl aufgrund ihrer dort vorhandenen sozialen Netzwerke als auch aufgrund der infrastrukturellen Angebote. Zudem ist es für manche Menschen schlicht alternativlos, sich im öffentlichen Raum aufzuhalten, weil sie wohnungs- oder obdachlos sind.

Im Diskurs um den ‚Hotspot‘ Praterstern werden Bedürfnisse der mittleren und höheren Klassen (vgl. Diebäcker 2019: 144) artikuliert. Deren Beklagen fehlender subjektiver Sicherheit und Aufenthaltsqualität wurde am 27. April 2018 von der rot-grünen Wiener Stadtregierung als Argument herangezogen, um am Praterstern ein Alkoholkonsumverbot zu legitimieren. Es gehe darum, eine „Musterunterbrechung“ im Aufenthalt der marginalisierten Gruppen zu erzielen und dadurch das allgemeine subjektive Sicherheitsempfinden zu stärken (vgl. Magistratsdirektion Organisation und Sicherheit 2019: 3f.). Vor diesem Hintergrund analysiert dieser Artikel die Wahrnehmungsmuster marginalisierter Menschen. Wie sehen sie die Einführung des Alkoholkonsumverbots? Welche Einschätzungen haben sie von der Situation vor Ort? Dass diese Fragen mit wenigen Ausnahmen an jene Gruppen gar nicht erst herangetragen werden, stellt eine Lücke in der Auseinandersetzung mit dem Praterstern dar. Vor diesem Hintergrund und der Annahme, dass die Perspektiven dieser Menschen von Relevanz in der Beurteilung der Lage vor Ort sind, ist es das Ziel dieses Artikels, die Wahrnehmungen und Deutungen marginalisierter Menschen in Hinblick auf das Alkoholkonsumverbot zu untersuchen.


1. Sozialräumliche Marginalisierung und Exklusion

Dieser Artikel geht mit Bezug auf Martin Kronauer, Ilker Ataç, Sieglinde Rosenberger und Imke Schmincke von theoretischen Konzepten der Marginalisierung und Exklusion aus. Dabei geht es darum, ökonomische, soziale und politische Ausschließungsprozesse als „Ausgrenzung in der Gesellschaft“ (Kronauer 2013: 23) zu verstehen. Wichtig ist, dass es sich dabei um gesellschaftlich hergestellte Ein- und Ausgrenzungen handelt, die das „relative Außen im Innen erst produzieren“ (vgl. Ataç/Rosenberger 2013: 36). Dabei kann es auch zu Teilinklusion oder -exklusion kommen, demnach werden auch Ausschließungsfragmente sichtbar. Ein solches Verständnis schafft die Möglichkeit, Inklusion und Exklusion als komplexen, wechselwirkenden Prozess zu begreifen und somit seine nahezu unüberwindbare Natur zu entlarven (vgl. Ataç/Rosenberger 2013: 36). Im Kontext der Wechselwirkung von Exklusion und Inklusion weist Schmincke auf den Begriff Marginalisierung hin, der wie Exklusion verstanden werden kann und ebenfalls Menschen in den Verhältnissen, die sie ausschließen, verortet und analysiert (Schmincke 2009: 38). Schmincke zufolge helfen die Begriffe Exklusion und Marginalisierung sozialräumliche Dimensionen des Ausschlusses zu verstehen. Marginalisierung ist ein Phänomen, das eine starke sozialräumliche Komponente aufweist, indem sich Ausschließungsprozesse auf räumlicher Ebene manifestieren. Ein Beispiel dafür ist das Alkoholkonsumverbot am Praterstern. Deshalb erscheint es sinnvoll, die Begriffe Exklusion und Marginalisierung im Weiteren zur Beschreibung der vor Ort stattfindenden Prozesse heranzuziehen sowie davon betroffene Menschen als marginalisiert zu bezeichnen (vgl. Liepold 2020).


1.1 Kriminalisierung von „Devianz“2

Sozialräumliche Marginalisierung geht häufig mit der Kriminalisierung von Lebensstilen einher. Dadurch sollen jene Verhaltensweisen, die als besonders irritierend gesehen werden, verbannt werden. Jenes ‚deviante‘ Verhalten wird häufig von marginalisierten Menschen aufgrund von Sucht oder anderen Erkrankungen, Wohnungslosigkeit oder Armut hervorgebracht. Angaben der Stadt Wien zufolge zielt das Alkoholkonsumverbot auf eine „Musterunterbrechung“ im „Alkoholmilieu“ (vgl. Magistratsdirektion Organisation und Sicherheit 2019: 4) ab. Der Evaluierung des Verbots durch die Stadt Wien zufolge scheint das ein Jahr später auch gelungen zu sein:

„Das Alkoholkonsumverbot am Praterstern hat ferner dazu geführt, dass AlkoholkonsumentInnen ihre Gewohnheiten verändern und sich in geringerem Umfang am Praterstern aufhalten. Laut Polizei haben sich die anfänglichen Verlagerungen im näheren Umfeld aufgelöst bzw. über einen längeren Zeitraum nicht manifestiert.“ (Magistratsdirektion Organisation und Sicherheit 2019: 3).

Auf die Konsequenzen der sozialräumlichen Verdrängung von Menschen vom Praterstern wurde bereits vor der Einführung des Verbots hingewiesen (vgl. Stoik 2018; reflektive 2018). Es wurde darauf aufmerksam gemacht, dass ein Verbot nicht zur Problemlösung taugt, sondern den Aufenthalt marginalisierter Menschen an andere Orte mit schlechteren Bedingungen und weniger Ressourcen verschiebt. Unter anderem verlieren die Menschen dadurch den Zugang zu wichtiger, durch jahrelange Arbeit etablierte sozialarbeiterische Infrastruktur und zu ihrem Beziehungsnetzwerk am Praterstern (vgl. Liepold 2020; Stoik 2018).


1.2 Fehlende Nutzer*innenperspektive

Noch weniger als die sozialarbeiterische Expertise werden die Positionen jener gehört, die von dem Verbot besonders betroffen sind, da sie auf den öffentlichen Raum als (lebens)notwendige Ressource angewiesen sind (vgl. Liepold 2020).

Menschen, die von Marginalisierung betroffen und häufig aufgrund von Suchterkrankungen, Wohnungslosigkeit, Armut oder anderen sozialen Problemlagen Adressat*innen der Sozialen Arbeit sind oder werden, stellen zum einen eine besonders vulnerable Gruppe dar. Zum anderen ist es schwierig, sie aufgrund von sprachlicher, kultureller und sozialer Barrieren in Forschungstätigkeiten einzubeziehen, die ihren Anliegen Gehör verschaffen könnten. Es braucht daher Methoden, die diese Barrieren berücksichtigen. Konkret wurden mobile Sozialarbeiter*innen als Vermittler*innen in der Kontaktaufnahme herangezogen. Während der Interviews war es wichtig die Fragen sprachlich an die Interviewpartner anzupassen und eine Gesprächssituation möglichst auf Augenhöhe zu kreieren. Eine andere praktische Hürde ist die schwierige Erreichbarkeit der Personen. Sie sind oft nur im persönlichen Aufeinandertreffen erreichbar und müssen für die Kontaktaufnahme physisch aufgesucht werden. Außerdem können soziale Problemlagen und physische und psychische Erkrankungen dazu führen, dass Vereinbarungen nicht eingehalten werden und Gespräche nur ad hoc stattfinden können.

Im vorherrschenden Diskurs wird viel eher über marginalisierte Menschen als mit ihnen gesprochen. Sie werden zu einem Objekt der Forschung, wo sie doch auch als Subjekte angesprochen werden müssten. Dem kann die Soziale Arbeit Abhilfe leisten: Sie gibt einem nicht nur die Werkzeuge an die Hand, um Kontakte aufzunehmen oder Gespräche mit marginalisierten Menschen zu führen. Es ist auch ihre wissenschaftliche Aufgabe, diese Forschungslücke zu füllen.


2. Marginalisierte Perspektiven auf das Alkoholkonsumverbot

Die Grundannahme des Artikels, dass marginalisierte Menschen stärker auf den öffentlichen Raum angewiesen sind als andere, führt zu folgender Fragestellung: Wie nehmen marginalisierte Menschen das Alkoholkonsumverbot am Praterstern wahr?

Zur Beantwortung der Fragestellung wurden drei qualitative ethnografische Interviews mit Personen vor Ort geführt, die alle männlich und zwischen 30 und 50 Jahre alt waren.3 Ethnografische Interviews (vgl. Spradley 1979) zeichnen sich dadurch aus, dass sie an die Forschungssituation angepasst sind. Ausgangspunkt stellt ein informelles Gespräche dar, in dem die Teilnehmer*innen über das Ziel des Projektes informiert werden und die Rolle der Forscherin klar gemacht wird. Wichtig war es die Menschen in ihrer Lebenswelt zu erreichen und sie so zu Expert*innen für eben diese zu machen. Den Marginalisierten wurde eine Sprecher*innenposition zugewiesen, der kein Herrschaftswissen (z.B. der Polizei oder Stadtpolitik) gegenüber gestellt wurde. Während des Interviews bietet das Einsetzen von wiederholenden Fragen die Möglichkeit, zu einem vertieften Verständnis der Einstellungen der Befragten zu gelangen. Die Interviews fanden direkt vor Ort am Praterstern statt, um in der Lebenswelt der Gesprächspartner zu bleiben. Anschließend wurden die Interviews nach der Grounded Theory (vgl. Strauss/Corbin 1996) ausgewertet und Wahrnehmungsmuster herausgearbeitet. Bei der Auswertung nach der Grounded Theory werden in einem iterativen Interpretationsprozess Aussagen zu Kategorien zusammengefasst. Die Kategorien geben Aufschluss über die dominanten Wahrnehmungsmuster der Befragten hinsichtlich des Forschungsgegenstandes (vgl. Strauss/Corbin 1996: 40). Die Ergebnisse bieten einen Einblick in die Perspektive von (potentiellen) Adressat*innen der Sozialen Arbeit auf das Alkoholkonsumverbot. Aufgrund der oben beschriebenen Herausforderungen in der Forschungsarbeit mit marginalisierten Menschen und aufgrund der Corona-Pandemie war es bis dato nicht möglich, weitere Interviews zu führen. Daher bietet die Befragung keine finalen Ergebnisse, sondern eine Theorieskizze, auf deren Basis weitere Forschung betrieben werden kann (vgl. Liepold 2020).


3. Wahrnehmungsmuster marginalisierter Menschen auf das Verbot

Die Kategorien, die sich durch die Auswertung ergeben haben, sollen nun vorgestellt werden. Sie zeigen die Dimensionen der Bedeutung des Alkoholkonsumverbots für die Befragten. Diese gehen von einer sozialen Komponente bis hin zur Reproduktion von Stigmata gegenüber marginalisierten Menschen und empfundener Handlungsohnmacht.


3.1 Ein Ort von historischer Bedeutung und gesellschaftlicher Teilhabe

Wie wichtig der Praterstern als Sozialraum für die Befragten ist, wird deutlich, wenn der Zusammenhalt untereinander beschrieben wird. Ein Befragter formuliert das so: „Wir sind immer zusammen wie eine Familie“ (I4: 89). Es geht am Praterstern also darum, andere Menschen zu treffen, sich auszutauschen und miteinander Zeit zu verbringen. Die soziale Funktion, die der Praterstern für manche hat, ist nicht zu unterschätzen, und wird deutlich, wenn diese mit der Familien-Metapher beschrieben wird. Die Beziehung der Menschen am Praterstern scheint von gegenseitigem Vertrauen gekennzeichnet zu sein. Innerhalb der Gruppe der Marginalisierten dürften enge und langjährige Verhältnisse bestehen, die den Menschen ein Gefühl von Zugehörigkeit geben. Der soziale Zusammenhalt hat aber auch eine Schutzfunktion, denn die Konflikte und Diskriminierungen finden an einem stark frequentierten Ort, nicht in Isolation, sondern vor den Augen anderer statt. Hinzu kommen die baulichen Gegebenheiten, die den Menschen ein temporäres Dach über dem Kopf und einen Rückzugsort vor Nässe, Kälte und Hitze gewähren. Eine weitere Ressource stellt die sozialarbeiterische Infrastruktur vor Ort dar, die auch jenen Unterstützung oder Beratung ermöglicht, die aufgrund von Limitationen wie Immobilität oder fehlender Niederschwelligkeit der Einrichtungen keine sozialarbeiterischen Angebote in der Umgebung aufsuchen können. Außerdem ist der Praterstern gut mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar und es besteht die Möglichkeit, sich dort durch betteln ein kleines Einkommen zu verdienen (vgl. Liepold 2020: 76). Die Befragten machen deutlich, dass sie sich täglich einige Stunden am Praterstern aufhalten, die Einführung des Verbots und die damit einhergehenden verstärkten Polizeikontrollen den Aufenthalt aber zunehmend mit Stress behaften und unattraktiv machen.

Der Praterstern hat historische Bedeutung für die Befragten, da alle regelmäßig und teilweise bereits seit vielen Jahren und Jahrzehnten zum Praterstern kommen. Er ist ein Ort, der den Befragten ein Stück gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht. Gleichzeitig können die Gruppen unter sich bleiben und müssen sich anderen Nutzer*innengruppen, von denen Stigmatisierungen ausgehen könnten, nicht ausliefern (vgl. Liepold 2020: 76).


3.2 Willkür der Polizeikontrollen

Auch die polizeilichen Kontrollen, die am Praterstern an der Tagesordnung stehen, sind für die Befragten Thema. Sie erscheinen ihnen häufig willkürlich und nicht nachvollziehbar. Es kommt sowohl zu positiven als auch negativen Erfahrungen mit den Beamt*innen. Denn, so die Vermutung eines Befragten, der Verlauf einer Kontrolle und das Ausmaß der Strafe hängt davon ab, wer der oder die Beamt*in ist und in welcher Stimmung er oder sie sich zum Zeitpunkt der Amtshandlung befindet (vgl. I3: 13). Kontrollen gehören zum Alltag der Befragten: Sie erzählen, dass sie diese gewöhnlich gelassen hinnehmen. Das Problem sind weniger die Geldstrafen, die auch in Ersatzfreiheitsstrafen enden können, sondern das Ausleeren der alkoholischen Getränke: „Ausleeren, Strafe 150 Euro, aber Strafe ist egal, das Problem ist das Ausleeren, zwei Euro kostet eine Flasche“ (I5: 21), sagte etwa ein Interviewpartner. Daraus könnte abgeleitet werden, dass ihm die Strafe deshalb egal ist, weil er sie nicht bezahlen kann und sie demnach keine Konsequenzen birgt. Das gelassene Hinnehmen der Strafandrohung könnte aber auch bedeuten, dass es zu gar keiner Geldstrafe kommt und es bei dem Ausleeren der Getränke bleibt. Das ist laut dem Interviewten ohnehin die schwerwiegendste Konsequenz, denn das Geld, um sich ein Getränk kaufen zu können, wurde in der Regel hart verdient. Neben den in Ausmaß und Umsetzung nicht einheitlichen Polizeikontrollen spielt auch soziale Kontrolle, die ebenfalls disziplinierenden Charakter hat, für die Befragten eine Rolle und äußert sich in verschiedenen Formen (vgl. Liepold 2020: 77).


3.3 Stigmabewusstsein und Identitätsabgrenzung

Von hoher Bedeutung ist das Stigmabewusstsein der Befragten, also die Einschätzung der eigenen gesellschaftlichen Positionierung als marginalisiert und stigmatisiert. Die Befragten scheinen zu verstehen, dass in der gesellschaftlichen Wahrnehmung ihr Aufenthalt am Praterstern auf besondere Weise konnotiert ist. Das wird beim Versuch deutlich, dieses Stigma gewissermaßen zu ‚managen‘ und Vorurteile abzufangen, bevor sie mit ihnen konfrontiert werden. Ein Befragter erläutert in dem Interview ausführlich seine Körperhygiene und macht darauf aufmerksam, dass ihm ein gepflegtes Äußeres sehr wichtig sei. Er versichert sich mit der Nachfrage bei der Interviewerin, ob er stinke (vgl. I4: 67). Das Stigma und die Scham, mit denen Wohnungslosigkeit und Sucht verbunden sind, scheinen bei den Befragten deutlich verankert zu sein. Durch mehrmaliges betonen, ‚normale Menschen‘ zu sein, wird deutlich, wie wichtig zwei der Befragten soziales Passing, also der Versuch ist, nicht aufzufallen. (vgl. I4: 15). Sie versuchen in den Interviews, der Norm angepasst zu sprechen und nicht als ‚deviant‘ aufzufallen, wenn sie beispielsweise betonen, ‚normal‘ zu sein, und den Wunsch nach geregelten Arbeits- und Familienverhältnissen äußern. Ein Befragter erzählte in diesem Zusammenhang, wie wichtig ihm seine Rolle als Vater zweier in Polen lebender Kinder sei. Diese würden aber nichts von seinem temporären Zustand der Wohnungslosigkeit und Suchterkrankung wissen. Er wolle so bald wie möglich wieder arbeiten, um seine Kinder finanziell unterstützen zu können. Gleichzeitig betonte er, dass jeder Mensch im Laufe seines Lebens Krisen erfahre und krank werden könne, dass das also keine Verfehlung seinerseits sei und er es – wie andere – wieder „nach oben“ schaffen würde (vgl. I4: Seitenzahl).

Der Versuch, gelingendes soziales Passing zu betreiben, wird außerdem durch die permanente Identitätsabgrenzung zwischen der eigenen Gruppe und anderen Marginalisierten deutlich. Während der Interviews wurde immer wieder betont, dass es sehr wohl Gruppen vor Ort gäbe, die störend seien, man selber aber nicht zu diesen gehöre und gehören wolle. Hinter diesen Differenzierungsbemühungen scheint der Wunsch nach einem legitimen Aufenthalt am Praterstern sowie möglicherweise Bestrebungen des eigenen Statuserhalts zu stehen. Die Befragten schreiben damit die Dichotomie von ‚devianten‘ und ‚nicht-devianten‘ Verhaltensweisen fort, ziehen allerdings die Grenze an einer anderen Stelle als das hegemoniale Narrativ (vgl. Liepold 2020: 79). Ein Interviewpartner betont: „[S]olange die Leute normal sind, nicht streiten und es keine Probleme gibt, denke ich, dass man da schon ein bisschen wegschauen könnte.“ (I3: 33). Der Wunsch nach Kulanz gegenüber den eigenen Nutzungsformen und nach Anerkennung der Legitimität des eigenen Aufenthalts kann abgeleitet werden.


3.4 Reaktionsweisen auf das Verbot

Kulanz gegenüber ihren Nutzungsformen und Lebensführungen scheinen marginalisierte Menschen am Praterstern jedoch selten zu erleben. Vielmehr schildern sie Stress, der aus den permanenten Polizeikontrollen resultiert. In diesem Zusammenhang dürften unterschiedliche Reaktionen auf das Verbot entstanden sein, die die Befragten beschreiben. Viele scheinen das Verbot zu befolgen, indem sie abwandern, um sich den täglichen Kontrollen zu entziehen. Sie suchen sich neue Aufenthaltsorte im öffentlichen Raum. Ob weiterhin am Praterstern Zeit verbracht werden kann, hängt häufig davon ab, ob für einen gewissen Zeitraum auf Alkohol verzichtet werden kann. Ist temporäre Abstinenz nicht möglich, dann wird der Aufenthalt am Praterstern prekär: „Weil sie trinken wollen und da nicht können, sind sie zu einem anderen Platz gegangen“ (I3), erzählt ein Interviewpartner über eine andere Gruppe.

Im Gegensatz dazu betont er, dass er selbst weiterhin am Praterstern Alkohol trinke, aber versteckt und nur punktuell: „Ja, ein kleines Stamperl, das sehen die [die Polizist*innen, Anm. ML] oft nicht, man kann es auch leicht und schnell weghauen“ (I3). Diese Aussage beschreibt soziales Anpassungsverhalten an die neue Norm des Alkoholkonsumverbots. Er unterwirft sich im Rahmen seiner Möglichkeiten dem Verbot, auch wenn er – aufgrund seiner Alkoholsucht – trotzdem Alkohol konsumieren muss. Ein anderer Interviewter (I5) gibt an, mehr zu trinken, seitdem es das Alkoholkonsumverbot gibt. Er scheint sich seiner provokativen Haltung bewusst zu sein, sagt aber auch, sich nicht an einer Nacht im Polizeianhaltezentrum zu stoßen. Er sei sogar froh über das Dach über dem Kopf und komme nach der Entlassung direkt wieder an den Praterstern und trinke weiter. Neben den Themen Abwanderung, Provokation und Gleichgültigkeit gibt der Befragte (I5) an, keine Veränderung am Praterstern durch das Verbot bemerkt zu haben. Er gibt auch an, sich keinen Problematiken bewusst zu sein. Das könnte im Zusammenhang mit seiner Abhängigkeit vom Praterstern und einem Mangel an anderen Aufenthaltsorten stehen. Der existenzielle Charakter der Aufenthaltslegitimität am Praterstern könnte in diesem Verhalten seinen Ausdruck finden. Möglicherweise ist es für den Befragten zu riskant, den Auswirkungen des Verbots ins Auge zu blicken, weil diese weit mehr mit sich bringen, als auf den ersten Blick ersichtlich ist. Der Befragte könnte sich sowohl vor einer empfundenen Re-Stigmatisierung zu schützen versuchen als auch vor dem Bewusstsein, in einem Dilemma zu stecken, nämlich unerwünscht und trotzdem da zu sein.

Dennoch betonen alle Befragten, sich den Schwierigkeiten vor Ort bewusst zu sein und kein Interesse an Konflikten zu haben. Zudem betonen sie auch in diesem Kontext die Wichtigkeit, nicht als störend auffallen zu wollen (vgl. Liepold 2020: 80f.).


3.5 Sozialräumliche Verdrängung

Maßnahmen wie das Alkoholkonsumverbot führen marginalisierten Menschen regelmäßig vor Augen, dass ihr Aufenthalt im öffentlichen Raum nicht gewünscht ist. Die Verdrängung vom Sozialraum Praterstern ist nicht die erste Erfahrung dieser Art, die die Befragten machen. Insbesondere ein Gesprächspartner erzählt detailliert von einem ähnlichen Prozess vor 10 Jahren an einem anderen innerstädtischen Knotenpunkt in Wien. Der Befragte schildert, wie die Schaffung einer sogenannten Schutzzone am Platz Grundlage zur Vertreibung der ansässigen Szene der Drogenkonsument*innen wurde.4 Vor diesem Erfahrungshintergrund prophezeit er für den Praterstern, dass sich die Szene neue Orte suchen wird, und beschreibt die sicherheitspolizeilichen Verdrängungspolitiken als „Herumschieberei“ gewisser Gruppen (I3: 27). Der Befragte beschreibt damit eine Tradition der räumlichen Verdrängung, die Mobilisierung der Szenen sowie das Niederlassen an neuen Orten nach sich zieht. Anhand der Interviews wird deutlich, dass es Menschen gibt, die bereits vor dem Phänomen Praterstern Marginalisierung im öffentlichen Raum in Form von Verdrängungsmaßnahmen erlebt haben.


3.6 Hierarchisierte Handlungsmöglichkeiten

Auf die Frage, wie die Befragten selbst auf Problemlagen wie Nutzungskonflikte im stark frequentierten öffentlichen Raum reagieren würden, antworten sie, gleichwohl sie sie anerkennen, mit Resignation. Dabei wird deutlich, dass sich die Befragten den ungleichen Machtverhältnissen in Hinblick auf die Gestaltung von öffentlichem Raum ebenso bewusst sind wie über ihre gesellschaftliche Positionierung. Die Antwort eines Befragten lautet: „Die sitzen am längeren Ast.“ (I3: 33). Gemeint sind wohl verschiedene Akteur*innen, die sich in den Augen der Befragten in Machtpositionen befinden. Es könnte sich um Teile der Bevölkerung handeln, deren subjektives Sicherheitsgefühl und Wohlbefinden im öffentlichen Raum bei politischen Akteur*innen Gehör findet. Ebenfalls könnten ganz generell Bewohner*innen, Geschäftstreibende, Passant*innen, Wahlberechtigte oder Polizist*innen gemeint sein. Ebenso scheinen die Befragten die politischen Akteur*innen zu meinen. Den Befragten ist klar, dass diese ‚anderen‘ jene sind, die in der Gestaltung von öffentlichem Raum zumindest teilweise einbezogen werden. Im Gegensatz dazu wird nicht nur nicht im Interesse der marginalisierten Menschen gehandelt, sondern auch ihre Meinung nicht eingeholt und ihre Stimmen in partizipativen Beteiligungsprojekten zur Gestaltung von Quartieren nicht eingebunden.

Die damit zusammenhängenden hierarchisierten Handlungsmöglichkeiten sind exemplarisch für die Exklusions- und Marginalisierungsprozesse am Praterstern. Wenn ein Interviewpartner mehrmals betont, man fühle sich „wie entmündigt“ (I3: 5), dann formuliert er das Gefühl, nicht dazuzugehören, das Diebäcker wie folgt begründet:

„Denn höhere oder mittlere Klassenmilieus fühlen sich durch Wohn- und Freiraumprojekte durchaus angesprochen, werden möglicherweise partizipativ beteiligt und treffen auf ihnen bekannte, präferierte Nutzungsweisen in öffentlichen Räumen. Es sind vielmehr die weniger beachteten oder problematisierten Gruppen, ihre differenten und meist weniger geschätzten Lebensstile und Verhaltensweisen, die direkt oder indirekt bzw. ‚schleichend‘, z.B. im Gefühl ‚nicht gemeint zu sein‘ oder ‚nicht dazuzugehören‘, ausgegrenzt werden.“ (Diebäcker 2019: 144).

Entlang der Linien politischer, ökonomischer und sozialer Rechte sowie der Frage nach Aufenthaltssicherheit und Staatsbürger*innenschaft verlaufen Dimensionen von Teilinklusion und -exklusion (vgl. Ataç/Rosenberger 2013: 39), aus denen auch Handlungsmöglichkeiten resultieren (vgl. Liepold 2020: 87). Aus- und Einschlüsse können gleichzeitig stattfinden und Handlungsmöglichkeiten eröffnen oder limitieren. In Hinblick auf die Befragten bedeutet das, dass manche teilinkludiert sein können (z.B. indem sie eine österreichische Staatsbürger*innenschaft haben), aber dennoch Exklusionen ausgesetzt sind. Wie ermächtigt sich Menschen fühlen, sich gegen Exklusion zur Wehr zu setzen, hängt häufig von ihrer gesellschaftlichen Positionierung und ihren Ressourcen ab.


4. Lust auf Normalität

Die Interviews zeigen, dass der „gelebte öffentliche Raum“ (Diebäcker 2019: 142) ein umkämpfter Sozialraum ist, der für Menschen, die verstärkt auf den öffentlichen Raum angewiesen sind, eine lebensgeschichtliche Bedeutung hat. Das zeigt sich unter anderem an der Regelmäßigkeit des Aufenthalts der Befragten. Grund dafür ist die hohe Attraktivität des Pratersterns für marginalisierte Menschen wegen seiner guten Infrastruktur und der Tatsache, dass Devianz am Praterstern lange Zeit von Seiten der Wiener Stadtregierung stärker toleriert wurde als anderswo (vgl. Diebäcker 2019: 147).


4.1 Spiegel der Gesellschaft

Der Praterstern ist Spiegel der Gesellschaft, an dem sich soziale, ökonomische und politische Machtverhältnisse zeigen (vgl. Diebäcker 2019: 142). Sie sind so tief verankert, dass sie auch von jenen, die unter ihnen am meisten leiden, reproduziert werden. Das wird in der Lust auf Normalität deutlich, auf die alle Befragten verweisen. Die marginalisierten Menschen wissen zwar, wo sie in der gesellschaftlichen Rangordnung und Wahrnehmung stehen. Sie wissen aber auch, wohin sie möchten, und betonen den Wunsch, als ‘normale‘ Menschen wahrgenommen zu werden (I4: 35) und nicht auf Problemlagen wie (Sucht-)Krankheiten oder Wohnungslosigkeit reduziert zu werden. Die Möglichkeiten, nicht als ‚deviant‘ wahrgenommen zu werden, hänge neben physischer und psychischer Gesundheit stark von Faktoren wie Sprache, Aussehen, Herkunft und ökonomischen Bedingungen ab. Je mehr Benachteiligungen sich überschneiden, desto eher werden Menschen als ‚deviant‘ problematisiert (vgl. Liepold 2020).

Soziale Ungleichheiten entlang von Staatsbürger*innenschaft und ökonomischen Verhältnissen können Ursachen für soziale Problemlagen sein (vgl. Diebäcker 2012: 172). Die strukturellen Bedingungen von sozialer (Un-)Sicherheit werden aber gesellschaftlich weitgehend nicht thematisiert, was zur Reduktion sozialer Ungleichheit auf ihren sichtbaren Status führt (vgl. Diebäcker 2012: 173). Dadurch werden „sicherheits- und ordnungspolitische Problematisierungen als Bedrohung für die personale Sicherheit umcodiert.“ (Diebäcker 2012: 173). Das kann in der Kriminalisierung bestimmter Gruppen oder Verhaltensweisen münden.

Die Befragten machen das Bedürfnis stark, als Menschen und nicht Probleme wahrgenommen zu werden. Sie versuchen sich auch von den in ihren Augen ‚Devianten‘ abzugrenzen, indem sie betonen, dass sie nicht an der Produktion von Konflikten und Gesetzesbrüchen interessiert sind (vgl. Liepold 2020: 85). Im Wissen, selber als ‚deviant‘ zu gelten, war es allen Interviewten wichtig, sich von den ihrer Wahrnehmung nach wirklich ‚Devianten‘ abzugrenzen. Im Zuge der Interviews wurde deutlich, dass niemand – unabhängig der eigenen gesellschaftlichen Position – vor der Übernahme gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse gefeit ist. So reproduzierten die Befragten teilweise das hegemoniale Narrativ der Unterscheidung zwischen ‚devianten‘ und ‚nicht-devianten‘ Verhaltensweisen (vgl. Liepold 2020: 85). Indem sie die Grenze zwar an anderer Stelle ziehen, aber nicht gänzlich verwerfen, führen sie den Ausgrenzungsprozess fort. Teilweise gehen die Versuche, selbst als ‚nicht-deviant‘ codiert zu werden, so weit, dass sie das Agieren der Polizei gegen die eigene Gruppe als notwendig oder richtig beurteilen. Ein Befragter verbündet sich auch ab und zu mit der Polizei, indem er ihnen Übersetzungsleistungen anbietet (vgl. Liepold 2020: 85).


4.2 Schauplatz von Gentrifizierungsprozessen

Der Praterstern kann als Schauplatz von Gentrifizierungsprozessen (vgl. Diebäcker 2014: 149) charakterisiert werden, an dem sich räumliche Segregation (Reinprecht 2013: 56) abspielt. Die „gefährlichen Klassen“ werden aus den Augen der „glücklichen Klassen“ verbannt (Reinprecht 2013: 56). Diese Segregationsbestrebungen werden im Fall des Pratersterns durch Kontroll- und Sanktionsmaßnahmen im Zusammenhang mit dem Alkoholkonsumverbot unterstützt. All jene, denen es nicht möglich ist, sich an die neuen Regeln (in diesem Fall den Verzicht auf Alkoholkonsum) zu halten (etwa aufgrund einer Suchterkrankung), werden gezwungen, sich den Sanktionen auszusetzen oder sich neue Aufenthaltsorte zu suchen (vgl. Liepold 2020: 86).

Vor diesem Hintergrund bedeutet das Alkoholkonsumverbot die Fortschreibung von Vertreibung und Kriminalisierung der Menschen in prekären Lebenslagen im öffentlichen Raum (vgl. Diebäcker 2019: 149). Die Befragten schildern eindrücklich ihre Wahrnehmungen, die durch Resignation geprägt sind. Der Praterstern ist nur ein Ort von vielen, an dem man das Zusammenspiel von ökonomischer Aufwertung und Sicherheits- sowie Ordnungspolitiken beobachten kann. Das gleiche gilt etwa für den Wiener Karlsplatz oder den Münchner Hauptbahnhof (vgl. Diebäcker 2019: 141). Die Ergebnisse dieser Arbeit zeigen am Beispiel des Alkoholkonsumverbots am Praterstern und aus der Perspektive marginalisierter Menschen, dass Aufwertungslogiken, Sicherheitspolitiken und Verdrängungsmaßnahmen von problematisierten Gruppen ineinandergreifen (vgl. Diebäcker 2019: 142). Worauf eine so geartete Entwicklung hinausläuft: Sie treibt die Prekarisierung und Stigmatisierung marginalisierter Menschen weiter voran (vgl. Liepold 2020: 89).


5. Perspektiven für die (sozialräumliche) Soziale Arbeit

Für die (sozialräumliche) Soziale Arbeit wird deutlich, wie wichtig die Ressource öffentlicher Raum für ihre Adressat*innen ist. Am Praterstern wird sichtbar, wie wertvoll eine gut ausgebaute sozialarbeiterische Infrastruktur im öffentlichen Raum ist. Hinsichtlich der sozialräumlichen Machtverhältnisse muss für eine emanzipatorische Soziale Arbeit plädiert werden, die nicht nur kritisch-parteilich arbeitet, sondern auch Freiräume für Marginalisierte schafft (vgl. Liepold 2020: 89f.).

Doch wie kann ein solcher Zugang in der Praxis aussehen? Die im Rahmen dieses Artikels beschriebene Nutzer*innenperspektive und ihre Implikationen können insbesondere für die Beziehungsarbeit in der aufsuchenden, niederschwelligen oder gemeinwesenorientierten Sozialen Arbeit von Bedeutung sein. Der Blick für die Lebenswelten kann in den Beratungs- und Vermittlungspraxen eine Rolle spielen. Vor allem dann, wenn sich diese sozialarbeiterischen Praxen – wie am Beispiel Praterstern – selbst im öffentlichen Raum und im Kontext sicherheits- und ordnungspolitischer Vereinnahmung befinden. Aber auch für das klassische Spannungsfeld von Hilfe und Kontrolle könnten die Ergebnisse aufschlussreich sein. Damit meine ich, dass ein Zugang, der die Perspektive der Nutzer*innen in den Fokus stellt und sie sozialräumlich in Herrschaftsverhältnissen verortet, die Möglichkeit bietet, emanzipatorisch und weniger disziplinierend zu arbeiten. Der – leider oft berechtigten – Kritik, Soziale Arbeit würde lediglich zur weiteren Disziplinierung und Normierung bereits marginalisierter Lebensformen beitragen, könnte mit kritischem Bewusstsein etwas entgegen gesetzt werden. Dabei könnte eine sozialräumliche Herangehensweise helfen, da sie analytisch vorgeht und Individuen und ihre Interessen sowie Handlungsweisen im Kontext von Herrschaftsverhältnissen versteht. Beispielsweise gilt das für die – im sozialräumlichen Kontext beliebten – Beteiligungsprojekte. Ohne eine Analyse der hegemonialen, sozialen Konstellationen im materiellen Raum werden ausschließlich die gesellschaftlich akzeptierten Perspektiven Gehör finden. Aber auch für die Frage, wie eine Fachkraft im Spannungsfeld zwischen Selbst- und anwaltschaftlicher Vertretung der Adressat*innen vorgehen soll, kann ein solcher Blick gewinnbringend sein. Die genuine Aufgabe der Sozialen Arbeit sollte im Anspruch lieben, Lebensverhältnisse bestmöglich zu gestalten – immer in Absprache mit den betroffenen Individuen und Gruppen und einem Verständnis für gesellschaftliche Normen. Sie darf nicht davor zurück schrecken, die Wünsche und Interessen ihrer Adressat*innen zu vertreten sowie diese dabei zu unterstützen, selbst ihre Interessen zu vertreten. Ein grundsätzliches Verständnis der Herrschaftslogiken ist dabei genauso relevant wie ein kritisches Bewusstsein der Professionist*innen. Dieser Artikel zeigt, inwiefern Adressat*innen diversen Praktiken zur Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung unterliegen. Die Konsequenz dessen darf nicht das Bündnis der Sozialen Arbeit mit sicherheits(-polizeilichen) Organen sein.

Das Ziel sozialräumlicher Sozialer Arbeit muss es sein, neoliberalen und exkludierenden Interventionen im öffentlichen Raum entgegenzuwirken. Zukünftig wird eine professionsinterne Debatte, wie mit Entwicklungen wie dem Alkoholkonsumverbot umgegangen werden soll, verstärkt notwendig sein. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass sich politische Akteur*innen selten auf die kritische Expertise von Sozialarbeiter*innen stützen, wenn es um Fragen der Sicherheit im öffentlichen Raum und dessen Aufwertung geht. Zur Anregung dieser Auseinandersetzung wird es notwendig sein, verstärkt mit Ansätzen zu forschen, die ein Einbeziehen der Adressat*innen ermöglichen. Das wäre nicht nur im Sinne der marginalisierten Menschen, sondern auch der Sozialen Arbeit. Denn Maßnahmen wie das Alkoholkonsumverbot unterlaufen auch sozialarbeiterische Arbeit, indem sie jahrelange Beziehungsarbeit zerstören und es notwendig machen, Arbeitsweisen- und gebiete neu zu definieren (vgl. Liepold 2020: 89–90).


Verweise
1 Auf Dimensionen von neoliberaler Stadtentwicklungspolitik weist unter anderem Manfred Rolfes hin. Er verweist auf fünf Merkmale neoliberaler Stadtpolitik als Ausdruck kommunaler Sicherheitspolitik: (1) Governance und Gouvernementalität, (2) Liberalisierung und Privatisierung, (3) Imageprofilierung, Festivalisierung, (4) Dezentralisierung und Individualisierung und (5) Territoriale Kontroll- und Sicherheitsstrategien (vgl. Rolfes 2015: Seitenzahl). Für jedes Merkmal lassen sich Beispiele am und im Quartier um den Praterstern finden, bspw. die ‚Wiener Wies’n‘, ein jährliches Oktoberfest im Prater.
2 Devianz bedeutet nach Klaus Kraimer: „Der aus dem Angelsächsischen stammende Begriff der ‚Devianz‘ (sic!) wird in der wissenschaftlichen Verwendung vielfach als gleichbedeutend (synonym) für den Sammelbegriff ‚Abweichendes Verhalten‘ oder ‚soziale Auffälligkeit‘ verwendet. ‚Devianz‘ verweist auf tatsächliche oder vermeintliche Verstöße gegen soziale Normen, die im Verbund mit Prozessen der sozialen Aberkennung zur Randständigkeit von Menschen führen, die an die Marginalien – die Ränder der Gesellschaft – gedrängt werden.“ (Kraimer 2004: 1). In diesem Artikel wird der Begriff mit Anführungszeichen geschrieben, um auf die gesellschaftliche Konstruktion von Devianz hinzuweisen. Diese soll nicht unkritisch reproduziert werden, allerdings ist eine Bezugnahme auf das Konzept notwendig, um den Sachverhalt beschreiben zu können.
3 An dieser Stelle ist anzumerken, dass die Auswahl der Befragten nicht repräsentativ für die am Praterstern aufhältigen Menschen ist. V.a. darin, dass in den Interviews keine Frauen zu Wort gekommen sind, besteht ein Mangel. Allerdings ist es aufgrund der Vergeschlechtlichung des öffentlichen Raums, also der strukturellen Verdrängung von Frauen und Mädchen aus dem öffentlich Raum, und der höheren Gefährdungslage für eben diese im öffentlichen Raum weitaus schwieriger, nicht-männliche GesprächspartnerInnen anzutreffen (vgl. Magistratsabteilung 57 o.J.). Für anschließende Forschungen müssten Überlegungen angestellt werden, wie auch diese in die Interviews einbezogen werden können. Beispielsweise durch das Aufsuchen eines Tageszentrums, was auch für diese Arbeit geplant war, allerdings aufgrund des ersten Lockdowns zur Bekämpfung von Covid-19 im Frühjahr 2020 nicht möglich war.
4 Der Wiener Karlsplatz war seit den 1990er Jahren und dem damals beginnenden Bevölkerungswachstum in Wien ein Treffpunkt für die städtische Drogenszene. Im Zuge politischer Entwicklungen im Zusammenhang der Aufwertung des Platzes kam es 2005 zu einer Schutzzone, die erste polizeilich-präventive Verdrängungen möglich machte. Im Zuge der Wiener Landtagswahl 2010 wurde diese Gruppe auf Beschluss der sozialdemokratischen Stadtregierung durch permanenten Polizeieinsatz und unter Protest der Sozialen Arbeit vertrieben (vgl. Diebäcker 2019: 143).


Literatur

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Benkel, Thorsten (2010): Die Sichtbarkeiten des Frankfurter Bahnhofsviertels. Ein soziologischer Rundgang. In: Benkel, Thorsten (Hg.): Das Frankfurter Bahnhofsviertel. Devianz im öffentlichen Raum. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S. 15–100.

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Haverkamp, Rita/Hennen, Ina/Hohendorf, Ines/Lukas, Tim/Quel, Moritz (2018): Sicherheit im Bahnhofsviertel (SiBa). Verbundprojekt zur Weiterentwicklung kriminalpräventiver und städtebaulicher Maßnahmen. In: forum kriminalprävention Nr. 3, S. 24–27.

Kessel, Fabian/Reutlinger, Christian (2010): Sozialraum. Eine Einführung. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.

Kraimer, Klaus (2004): Devianz und Marginalität. Konzepte und Begriffe. (o.A.).

Kronauer, Martin (2013): Inklusion/Exklusion. Kategorien einer kritischen Gesellschaftsanalyse der Gegenwart. In: Ataç, Ilker/Rosenberger, Sieglinde (Hg.): Politik der Inklusion und Exklusion. Göttingen: V & R unipress, S. 21–33.

Krutzler, David (2018): Alkoholverbot gilt bereits ab Freitag für Praterstern und Venediger Au. https://www.derstandard.at/story/2000078466492/alkoholverbot-gilt-bereits-ab-freitag-fuer-praterstern-und-venediger-au (22. April 2020).

Liepold, Mira (2020): Zwei Jahre Alkoholkonsumverbot am Praterstern in Wien. Die Wahrnehmungen marginalisierter Gruppen in Hinblick auf das Verbot. FH Campus Wien: Masterarbeit.

Mackinger, Christof (2018): Der Praterstern ist das Wohnzimmer für Leute die keines haben. In: Die erste österreichische Boulevardzeitung der AUGUSTIN, Nr. 469, 24.10.–6.11.2018, S. 10.

Magistratsabteilung 57 (o.J.): Mädchen im öffentlichen Raum. Stadt Wien, https://www.wien.gv.at/menschen/frauen/stichwort/wohnen/maedchen.html (22. April 2020).

Magistratsdirektion Organisation und Sicherheit – Gruppe Leitungsinstrumente (Hg.) (2019): Evaluierung Alkoholkonsumationsverbot am Praterstern. Ergebnisbericht Vers. 1.0. Wien: Stadt Wien.

Reflektive (2018): 5 1/2 Gründe, warum ein Alkoholverbot am Praterstern kein einziges Problem löst. https://www.reflektive.at/51-2-gruende-warum-ein-alkoholverbot-am-praterstern-kein-einziges-problem-loest/ (29.12.2020).

Reinprecht, Christoph (2013): Ausgrenzung durch sozialräumliche Segregation. Soziologische Betrachtungen zur Verräumlichung sozialer Ungleichheiten. In: Ataç, Ilker/Rosenberger, Sieglinde (Hg.): Politik der Inklusion und Exklusion. Göttingen: V & R unipress, S. 53–70.

Rolfes, Manfred (2015): Kriminalität, Sicherheit und Raum. Humangeografische Perspektiven der Sicherheits- und Kriminalitätsforschung. Stuttgart: Franz Steiner Verlag.

Schmincke, Imke (2009): Gefährliche Körper an gefährlichen Orten. Eine Studie zum Verhältnis von Körper, Raum und Marginalisierung. Bielefeld: transcript Verlag.

Spradley, J.P. (1979): The ethnographic interview. New York: Holt, Rinehart & Winston.

Stadt Wien (o.J.): Praterstern bekommt neue Polizeistation. https://www.wien.gv.at/menschen/sicherheit/polizeistation-praterstern.html (09.02.2021).

Strauss, Anselm/Corbin, Juliet (1996): Grounded Theory. Grundlagen Qualitativer Sozialforschung. Weinheim: Beltz.

Stoik, Christoph (2018): Alkoholverbot im öffentlichen Raum gegen ausgegrenzte Menschen führt zur Verdrängung. 06. Mai 2018. https://sozialerraum.wordpress.com/2018/05/06/alkoholverbot-im-oeffentlichen-raum-gegen-ausgegrenzte-menschen-fuehrt-zur-verdraengung/ (29.12.2020).


Interviewverzeichnis

I3: Adressat der Sozialen; Arbeit/Drogenkonsument; männlich; Deutsche Erstsprache; 30.10.2019

I4: Adressat der Sozialen; Arbeit/Wohnungsloser; männlich; Polnische Erstsprache; 30.10.2019

I5: Adressat der Sozialen; Arbeit/Wohnungsloser; männlich; Nicht Deutsche Erstsprache; 30.10.2019


Über die Autorin


Mira Liepold, BA MA
mira.liepold@univie.ac.at

ist Absolventin des Studiengangs Sozialraumorientierte Soziale Arbeit an der FH Campus Wien sowie Studentin und Mitarbeiterin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien.