soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 25 (2021) / Rubrik „Einwürfe/Positionen“ / Standort Linz
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/view/727/1330.pdf


Roland Urban:

For The Times They Are A-Changin’

Von Übergängen, Gemeinschaft und Kulturen des Gelingens


1. Veränderungskrisen

“Come gather round people
Wherever you roam
And admit that the waters
Around you have grown
And accept it that soon
You'll be drenched to the bone
If your time to you is worth savin'
Then you better start swimmin'
Or you'll sink like a stone
For the times they are a-changin'”
(Bob Dylan, “The Times They Are A-Changin”)


Wenn hier von ‚Krise‘ die Rede ist, dann weniger von traumatischen Krisen, sondern von gefährdenden, destabilisierenden Entwicklungen für das Kollektiv. Ich spreche von Zeiten gesellschaftlicher Gefährdung, die – gemäß des griechischen Wortursprungs krísi – Wendepunkte darstellen und Entscheidungen bedürfen – nicht nur, um einen akuten Kollaps abzuwenden, sondern auch und vor allem um künftigen Entwicklungen ähnlicher Art vorzubeugen bzw. uns darauf vorzubereiten. Das heißt, es geht um Veränderungskrisen (vgl. Lasogga/Gasch 2011: 19–23).

Die Covid-19-Pandemie wird dabei nicht der letzte Akt gewesen sein: Klimawandel, Wasserkrisen, Migrationskrisen, soziale und politische Krisen werden folgen. Aus einem größeren Zusammenhang heraus betrachtet, könnte man von einer einzigen Veränderungskrise sprechen, die seit Jahrzehnten (zumindest seit den 1950er Jahren) im Gange ist (vgl. Steffen/Broadgate/Deutsch/Gaffney/Ludwig 2015) und das Ende des Anthropozäns im klassischen Sinne markiert. (vgl. dazu etwa Laux/Henkel 2018) Es gilt, die (zumindest für einen Teil der globalen Bevölkerung, nämlich jenen der sogenannten westlichen Welt bestehenden) Errungenschaften des Zeitalters der Industrialisierung – Grundrechte, Sicherheit, Gesundheit, Wohlstand, Vielfalt – abzusichern und gleichzeitig neuartige Organisationsmodelle zu etablieren, die auf einem erweiterten Verständnis von Ökologie, Reziprozität (vgl. Weber 2018 63–69) und Nachhaltigkeit beruhen (Sommer/Welzer 2017: 15–27).

Um die anstehenden Herausforderungen möglichst unbeschadet bewältigen zu können, müssen wir ‚krisenfest‘ werden. Angesichts der Prognosen zur Erderwärmung oder des aktuellen Pandemie-Berichts der IPBES (Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services 2020), nach dem wir in eine ‚Ära der Pandemien‘ eintreten könnten, erscheint dies nicht nur als Gebot der Stunde, sondern im Hinblick auf die Verantwortung für zukünftige Generationen geradezu als unsere Verpflichtung. Wie das Paper des IPBES eindrücklich zeigt, ist die Beschränkung auf ein singuläres Phänomen (Klimawandel, Pandemien, etc.) nicht zielführend, da etwa aufgrund dramatisch sinkender Biodiversität und immer weiter reduzierter Habitate für Wildtiere deren Korridore zusehends enger und die Kontaktmöglichkeiten mit Menschen immer größer werden, wodurch das Risiko viraler Übertragungen zwangsläufig steigt. Eine Zunahme an Pandemien wäre eine erwartbare und fast logische Folge. Es bedarf also komplexer Entwürfe und eines fundamentalen Wandels – einer Transformation – unseres vorherrschenden Systems. Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung kommt das Stockholm Resilience Centre mit dem „Planetary Boundaries Framework“ (SRC 2020). Die kurz gefasste Botschaft: Wir haben in einigen Bereichen die roten Linien schon überschritten. Es ist Zeit zu handeln – ab sofort.


2. „One Health Approach“

Unsere Gesellschaft ist nach Jahrzehnten der vermeintlichen Sicherheit und des Wohlstands nicht für Systemkrisen oder tiefgreifende Wandlungsprozesse gerüstet. Nur wenige Staaten oder Regionen verfügen über umfassende Strategien zur raschen und nachhaltigen Bewältigung von anhaltenden Krisen, ganz zu schweigen von staatenübergreifend akkordiertem Vorgehen – wie die Covid-19-Pandemie zeigt. Reaktion und nationaler Eigennutz sind nach wie vor die dominierenden Handlungsprinzipien. Um faktisches Agieren zu ermöglichen, würde es extensiver Vorbereitung und transnationaler Kooperation bedürfen, die sich nicht nur auf einen Sektor (wie etwa das Gesundheitssystem) fokussieren, sondern – getragen und gesteuert durch die jeweiligen Regierungen und unter Beteiligung der Wissenschaft sowie praxisnaher NGOs – alle gesellschaftlichen Sektoren berücksichtigen.

Letztlich kann all dies nur Sinn machen, wenn nicht ausschließlich auf das Wohl des Menschen Bedacht genommen wird, sondern auch auf jenes der Tiere sowie des gesamten Ökosystems des Planeten Erde. Laut WHO Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus braucht es einen „One Health Approach“. Es gelte, in Vorbereitung zu investieren, nicht in Panik. (WHO 2020a) So wie Uganda, das 2019 mittels klarer Strategien und Abläufe rasch, gezielt und effektiv auf einen erneuten Ausbruch von Ebola reagieren konnte, und nach nur 5 Monaten sowie unter Einsatz erstaunlich geringer finanzieller Mittel das Ende der Epidemie deklarieren konnte (WHO 2020b). Ergo: Krisen sind nicht (nur) Phänomene, die uns ‚aus heiterem Himmel‘ und mit voller Wucht erwischen; wir können präventiv und pro-aktiv agieren, indem wir uns als Gesellschaften – wie auch als Gemeinschaften, Organisationen oder Individuen – darauf vorbereiten, anders ausgedrückt: resilienter werden (vgl. dazu Braden 2014: 137–174).


3. Krisen reframed – Von kurzfristigem Krisenmanagement zur Gestaltung von Übergängen

Die mit Krisen zusammenhängenden Erfahrungen sind oft so neu und so überwältigend, dass unser bisheriges Bewältigungsrepertoire nicht ausreicht, um die Dynamik unbeschadet zu überstehen. Je besser vorbereitet und je resilienter wir sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir nicht nur überleben, sondern auch lernen, wachsen und innovative Kraft freisetzen.

Begreift man Krisen nicht als von außen und plötzlich auf uns hereinbrechende Katastrophen, sondern als Ereignisse (im Sinne von Žižek 2016) mit einer Entwicklungsgeschichte,1 auf die man sich vorbereiten kann, dann erscheinen sie in einem gänzlich anderen Licht: Krisen, so gedacht, werden gestaltbar, stellen Übergänge und Vorbedingungen für potenziell progressive Entwicklungsschritte (vgl. Kraft 1995: 253) dar.

Nur wird von Krise als Übergang erstaunlich wenig gesprochen. Und dies, obwohl ein Blick auf die zyklische Struktur der natürlichen Welt genau dies nahelegen würde: Signifikante Zustandsänderungen deuten krisenhafte Entwicklungen an; das, was wir gemeinhin als eigentliche Krise bezeichnen, markiert letztlich den Wendepunkt. ‚Übergang‘ hingegen meint nicht nur diesen zeitlich sehr begrenzten Moment des Zenits, die Schwelle, sondern einen länger andauernden Prozess (d.h., mit einem Vor und einem Nach der Krise), der transformatorisches Potential besitzt.

Übergänge begleiten uns, sind Teil unseres Lebens, nicht zeitlich, aber im Zuge unserer Lebensspanne doch antizipierbar. Sie haben mit allgemeingültigen Prozessen zu tun, denen wir alle unterliegen, und markieren ‚Meilensteine‘ unseres Lebens: Geburt, den Übertritt ins Erwachsenenalter und in die Elternschaft bzw. in das Alter sowie das physische Sterben. So wie wir individuelle Übergänge gestalten und begleiten können, können wir dies auch mit allen anderen tun – mit paradigmatischen, organisatorischen, gesellschafts- oder epochen-bedingten. Wir müssen sie nur als solche erkennen.

Klassische, in der psychosozialen Literatur rezipierte Kriseninterventionsmodelle (siehe etwa Lasogga et al. 2011; Wempe 2019) greifen in dieser Hinsicht oft zu kurz, da sie meist auf einen eng definierten Zeitraum nach einer Krise oder einem Notfall Bezug nehmen und längerfristige Krisenbewältigung auf psychotherapeutische oder psychiatrische Angebote reduzieren. Dabei scheint gerade die Zeit nach der ersten Akutphase (dem ‚Peak-Phänomen‘) von äußerster gestalterischer Bedeutung zu sein: Man befindet sich in einem Zustand der Fragilität und Offenheit. D.h., Systemzustände, die bereits davor vorhanden waren und durch die krisenhafte Entwicklung (= verunsichernde Situation) aktualisiert wurden, treten mitunter klarer und drängender hervor als vor der Krise. Die Irritation des Systems aufgrund der erfahrenen Destabilisierung führt zu einer Form von Sensibilität, die de facto ein window of opportunity darstellt. Nutzt man dieses, können nachhaltige Veränderungsprozesse initiiert werden. Nutzt man es nicht, wird das System versuchen, zum Zustand vor der Krise zurückzukehren und diesen mittels hohem Kraftaufwand und konstanter Spannungsregulierung aufrechtzuerhalten. Eine Rechnung, die vorübergehend, aber nicht langfristig aufgeht: Dieselben Symptome werden zu anderen Anlässen erneut auftauchen und nach Lösung begehren.

Entsprechend ist einzufordern, Krisen in die jeweiligen Lebensgeschichten einzubetten und mittels ermächtigender Strategien Autonomie, Eigenkontrolle, Kompetenzentwicklung und Veränderungswille zu fördern. Beteiligende, salutogenetische, ressourcenorientierte oder lösungsfokussierte Ansätze sind gerade im Falle von (auch traumatischen) Krisen von äußerster Bedeutung (vgl. Perren-Klingler 2015: 41f.).

Übergänge stellen sensible Phasen dar. Diese professionell zu begleiten bedeutet, sie zu antizipieren, zu thematisieren, sichere Rahmenbedingungen und Stabilität zur Verfügung zu stellen, Risken und Gefahren zu minimieren, etwaige Ziele vorübergehend in den Hintergrund zu stellen, Beziehung nur im Sinne eines Angebotes zu formulieren, Präsenz zu entwickeln – und Raum zu geben. Ist der Übergang geglückt, gilt es, Innovation, neu erworbene Kompetenzen, Aufgaben und Verantwortlichkeiten sichtbar zu machen und den neuen Status zu feiern. Den Rest kann man getrost den betroffenen Menschen selbst überlassen.

Nach einer veritablen Krise ist nichts mehr so, wie es vorher war. Sonst wäre es keine Krise gewesen. Es gibt kein ‚Zurück zum Alten‘ und kein ‚Zurück zur Normalität‘. Aus Krisen können – je nach Umfeld und Intervention – veritabler Schaden oder Progression erwachsen. Was wir brauchen, ist nicht nur ein effizienter Umgang mit Werkzeugen der Krisenintervention und des Notfallmanagements, sondern auch ein erweitertes, reflexives Krisenverständnis (Bösch/Deitelhoff/ Kroll/Thiel 2020: 5).


4. Was hat das alles mit Sozialer Arbeit zu tun?

Angesichts der globalen Ausgangslage wird es auch für die Soziale Arbeit nicht genügen, punktuelle Änderungen herbeizuführen. Wir müssen Soziale Arbeit wohl neu denken, vor allem was die konkrete Organisation und Ausrichtung bzw. Schwerpunktsetzungen anbelangt. Die Erkenntnisse und Erfahrungswerte aus der gegenwärtigen Pandemie können diesbezüglich wichtige Ansatzpunkte zur Verfügung stellen.

Es sei vorausgeschickt, dass ich hier nicht vorgeben möchte, es besser zu wissen – dies wäre vermessen, anmaßend und töricht. Vielmehr gebührt der Respekt allen, die fortlaufend zur Bewältigung der Krise beitragen, unabhängig davon, ob dies von Zuhause aus, in Kurzarbeit bzw. im Homeoffice, oder ‚im Feld‘ geschieht.


5. Das Zugrundeliegende – Gemeinschaft als Säule der Stabilität

Es waren nicht Google, Facebook, Apple oder Amazon, die uns durch die Krise gebracht haben bzw. bringen, sondern Gemeinschaften – nachbarschaftliche, kommunale oder organisationale Gruppen, denen wir uns zugehörig fühlen, deren Teil wir sind und in die wir uns einbringen, mit all unseren Kompetenzen und Bedürftigkeiten. Gemeinschaften repräsentieren ein größeres Ganzes, an dem wir teilhaben und in dem wir Verantwortung übernehmen können, um das zu empfinden, was im Englischen so bezeichnend feeling of ownership heißt.

Naturgemäß sind Definitionen von Gemeinschaft, wie sie Tönnies (2012) Ende des 19. Jahrhunderts vorgenommen hat, im 21. Jahrhundert nicht mehr aktuell. Auch ist von romantisierenden Vorstellungen, von ‚ersehnten Gemeinschaften‘ (vgl. Bauman 2017a:7–12), Abstand zu nehmen. Gemeinschaft hat einen Preis: Interdependenz. Es gibt keine ‚Gemeinschaft a la carte’ (vgl. Bauman 2017b:121), man ist im gemeinschaftlichen Gefüge immer voneinander abhängig. Dies gilt heute wie damals gleichermaßen: Wir können die existenten Probleme nicht alleine lösen. Der konkrete Grad der Interdependenz ist unterschiedlich, je nachdem wie wir persönlich von der jeweiligen Referenzgemeinschaft abhängen. Diese Abhängigkeit ist im Familiären, im Kommunalen und auch Beruflichen größer als etwa in ausschließlich selbstbestimmten Kontexten wie Freizeitgemeinschaften. Aber: Sie ist durchgängig vorhanden, weil sie mit dem ´antwortenden Gegenüber´, mit Resonanz zu tun hat (vgl. Rosa 2016: 289, Buber 1999). Gemeinschaft ist als ontologische Kategorie zu verstehen, als grundsätzliche und ahistorische Struktur des menschlichen Zusammenlebens – dem entsprechend, was Martin Heidegger als „In-der-Welt-sein“ (1962:156) bezeichnet (vgl. Rosa/Gertenbach/Laux/Strecker 2010: 21–27; vgl. auch Urban 2017).

In der modernen Sozialen Arbeit erscheint Gemeinschaft wenig relevant. Selbst die Gemeinwesenarbeit – klassische dritte Methode der Sozialen Arbeit, die grundsätzlich durch den Begriff der Gemeinschaft bestimmt ist – fristet ein Nischendasein. Die letzten Jahrzehnte waren – ganz dem gesellschaftlichen Mainstream entsprechend – stark von individualistischen Interventionen geprägt, dort und da ergänzt um Gruppenangebote.

Und doch: dies könnte sich ändern. Weniger aus paradigmatischen Gründen, sondern – so die Vermutung – vor allem aus finanziellen. Es ist fraglich, ob der (hohe) Mitteleinsatz für Einzelfallhilfen weiterhin zu rechtfertigen bzw. schlicht leistbar sein wird. Zusätzlich hat gerade die Corona-Pandemie Evaluierungsbedarfe aufgezeigt:

Während des ersten Lockdowns im Frühling 2020 wurden in den mobilen Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe unzählige Sozialpädagogen/innen in Kurzarbeit geschickt. Das mobile Feld wurde dramatisch ‚heruntergefahren‘, die Versorgung der betroffenen Familien je nach Bezirk sehr unterschiedlich geregelt und – trotz existenter Kindeswohlgefährdung in einem Gutteil der Fälle – oftmals stark reduziert, mit (positiven wie negativen) Folgen, die nicht präzise einzuschätzen sind.

Gleichzeitig befand sich das gesamtgesellschaftliche Gefüge in einem vulnerablen und verunsicherten Zustand, gewisse Bereiche des öffentlichen Lebens und der kritischen Infrastruktur litten unter Überbelastung.

Sozialpädagogen/innen sind gut und umfassend ausgebildet, flexibel einsetzbar, verfügen über kommunikative, koordinative und administrative Fähigkeiten sowie außergewöhnliche Feldkompetenz in den betreffenden Gemeinwesen. Wäre die Finanzierungsgrundlage im Frühling 2020 eine auf sozialräumlicher oder gemeinwesenorientierter Basis gewesen, hätte man einen enormen Pool an professionellen Kräften für die Übernahme von zivilgesellschaftlichen Aufgaben rasch und umkompliziert aktivieren können. Dies hätte nicht nur Arbeitsplätze abgesichert und Kosten gespart, sondern auch Sinn und Zusammenhalt gestiftet – sowie insgesamt die Krisenbewältigung befördert.

Als erfolgreiches Pilotmodell kann die Rekrutierung von Sozialarbeiter/innen der Kinder- und Jugendhilfe für die Krisenstäbe der Bezirksverwaltungsbehörden gelten. Abgesehen von kritischen Aspekten (nämlich, dass diese ihrer eigentlichen Arbeit nur bedingt nachgehen konnten) haben sie maßgeblich dazu beigetragen, den Betrieb auf den Behörden aufrechtzuerhalten und die Covid-relevanten Agenden professionell zu managen.

Eine Weiterentwicklung der Organisationslogik Sozialer Arbeit in Richtung sozialräumlicher oder gemeinwesenorientierter Zugänge würde also Sinn machen. Zumal damit auch wichtige inhaltliche Felder (wieder-)eröffnet würden, die mittels individueller Ansätze nur sehr viel schwieriger zu forcieren sind, wie etwa politische und Demokratiebildung. Beteiligung ist in Bezug auf Gemeinschaft ohnehin eine conditio sine qua non. Es wird also Zeit, die ‚alten Konzepte‘ wieder hervorzukramen und das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft auch in der Sozialen Arbeit paradigmatisch und de facto wieder in Balance zu bringen.


6. Flucht nach vorne – Postdigitale Zustände

Das Gesicht unserer Realität hat sich im ersten Halbjahr 2020 in vielerlei Hinsicht dramatisch verändert. Eine der Facetten betrifft die Digitalisierung – weniger in Hinblick auf die technischen Infrastrukturen und Softwares, auch nicht, was deren Anwendung in Wissenschaft, Medizin und Industrie betrifft; sondern vor allem was die flächendeckende Nutzung angeht: Zoomen ist das neue Googeln; das Online-Angebot in Bibliotheken ist enorm gewachsen; Ausstellungen können in virtuellen Museen besucht werden; und komplexe mathematische Simulationsmodelle erleben als Grundlage politischer Entscheidungsfindung wahre Hochkonjunktur.

Diese Entwicklungen haben nicht erst mit dem Coronavirus eingesetzt; sie sind nur aufgrund der entstandenen Notwendigkeiten dramatisch dynamisiert worden. Wir befanden uns bereits davor in einem postdigitalen Zustand (vgl. Rustler 2020), in dem Digitales omnipräsent und in unser Alltagsleben organisch eingewoben war. Es fällt uns schlicht nicht mehr auf, dass das Digitale ‚anders‘ bzw. abgegrenzt vom Menschen ist. Künstliche Intelligenz, maschinelles Lernen bzw. Deep Learning und Robotik sind bestimmende Technologien unserer Zeit und führen sukzessive zu einer Re-Organisation unseres Lebens – ohne dass uns dies in diesem Ausmaß gegenwärtig ist: „Im Anthropozän wurde der Mensch zum Gestaltungsfaktor, im nächsten Zeitalter könnte es die Technologie werden“ (Konzett 2020: 6).

Vor diesem Hintergrund muss es Sorge bereiten, dass unsere Bewusstheit über technologische Folgewirkungen und damit in Verbindung stehende philosophische Fragen nur wenig ausgebildet ist. Ergo: Es bedarf einer Ethik im Umgang mit dem Digitalen.

Es gilt, kritisch zu hinterfragen, wie etwa die digitale Kommunikation im Rahmen von Videokonferenzen, die über zwei Sinne (audio-visuell) und digitale Abbilder (imagines) erfolgt, unsere Beziehungsgestaltungen (analog wie digital) beeinflusst? Oder was die Steuerungsmöglichkeiten der Hosts für unsere Kommunikation bedeutet? D.h., welche Effekte erzeugen wir dadurch, dass wir jemanden einfach ´stummschalten´ können? Welche machtpolitischen Aspekte sind diesbezüglich zu berücksichtigen? Was funktioniert digital genauso gut – oder besser – als analog? Wie kann verschränkte Soziale Arbeit aussehen (analog zum verschränkten Lernen)? Worauf müssen wir achten, damit wir nicht vergessen, was wichtig ist, zu erinnern? Als Beispiele: Wir dürfen die Bedeutung physischer sozialer Umgangsformen und Rituale – also: Hände schütteln, umarmen, küssen, miteinander tanzen und singen, etc. – nicht vergessen. Wir werden uns wohl bewusst wieder daran erinnern, dies vielleicht sogar erneut trainieren müssen. Tröstlich ist, dass diese sozialen Praktiken auch vorherige Pandemien überdauert haben.

Jugendliche stellen in Bezug auf die Digitalisierung andere Fragen als Erwachsene, auch weil sie digital natives sind. Und sie gehen anders mit den relevanten Technologien um. Während sich in vielen Bereichen der Sozialen Arbeit non-digital natives über Homeoffice-Instandsetzung und Online-Teamsitzungen den neuen Gegebenheiten annähern mussten, zusätzlich Debatten über die Relevanz und Sinnhaftigkeit von Online-Angeboten für die Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen geführt wurden, waren Jugendliche, als die Professionisten/innen letztlich zum Einsteigen bereit waren, vielfach bereits übersättigt von Zoom-Parties, Dauerstreamen und 24/7 Youtube, Insta, Snapchat oder TikTok.

Wir, die Professionisten/innen, müssen unsere fehlende Expertise eingestehen, die Zugänge der digital natives kennenlernen (vgl. etwa Pöyskö et al. 2020), einen differenzierten Blick auf deren Kompetenzen entwickeln und von ihnen lernen. Dies ist nicht nur in vielerlei Hinsicht sinnvoll, sondern dringend notwendig.


7. Positive News – Eine Kultur des Gelingenden

Veränderungsprozesse können mit großen Opfern verbunden und unter Schmerzen erfolgen – oder strategisch, systematisch, getragen von Ethik und Visionen, inspiriert durch erfolgreiche Pilotmodelle und gute Praxis. Ersteres klingt mühsam, zäh und macht wenig Lust auf Wandel. Letzteres wirkt smart, mit drive versehen – und ist zu empfehlen.

Krisen eröffnen zudem experimentelle Räume, aus denen innovative Lösungen entstehen, die – mit etwas Mut und Konsequenz – in die bestehende Kultur integriert werden können (siehe dazu auch gängige Change-Management-Modelle, etwa UoV 2020).

Der erste Lockdown im Frühling 2020 hat eine Vielzahl hoffnungsstiftender Initiativen hervorgebracht: von hohem gesellschaftlichen Zusammenhalt und gelebter Solidarität, über unkonventionelle Ideen und Umsetzungen in kulturellen, sozialen oder ökonomischen Belangen bis hin zu, etwa im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe, weitreichenden, organisationsübergreifenden Kooperationen, dem Wiedererwachen eines Gemeinschaftsgefühls in stationären Wohngruppen oder außerordentlicher Einsatzbereitschaft bzw. Flexibilität von Mitarbeitern/innen. Um diese in einen Alltag überzuführen, hätte es einer Identifikation von Indikatoren des Gelingenden, von neuen Visionen und Strategien sowie Wille und Beharrlichkeit in der Umsetzung bedurft. Die Ausgabe der Botschaft, das ‚alte‘ System wieder ‚hochzufahren‘, hat dies mit verhindert.

Wir sehen weitreichenden Umbrüchen entgegen. Angesichts von Krisen wie der Covid-19-Pandemie und globalen Herausforderungen wie dem Klimawandel bzw. Phänomenen wie der Digitalisierung werden wir Antworten entwickeln müssen. Eine Kultur des Gelingens zu etablieren und darauf zu fokussieren, was funktioniert bzw. uns weiterbringt, könnte einen wesentlichen Beitrag dazu leisten. In der Kinder- und Jugendhilfe Oberösterreich wird dies in den letzten zehn Jahren konsequent versucht, basierend auf beteiligenden, ermächtigenden und lösungsfokussierten Zugängen (siehe Urban 2020). Dies gibt Hoffnung.


8. Letztlich – das Politische an der Sozialen Arbeit

Mehr Krisen könnten zu fortschreitender Prekarisierung führen. Der Druck auf Randgruppen, ohne Lobby und Realmacht, würde weiter wachsen. Will man die Betroffenen nicht sich selbst überlassen und verhindern, dass Ungleichheiten und Imbalances erst dann und eruptiv artikuliert werden, wenn sie zum Himmel schreien (wie etwa im Falle der Black Lives Matter-Bewegung in den USA), bedarf es der systematischen Positionierung und Parteilichkeit, im Auftrag der Gesellschaft.

Es geht nicht an, dass wir über Vermögenssteuern diskutieren, nicht jedoch über Kinderarmut. Soziale Arbeit hat die Aufgabe, Ungleichheiten und Missstände (d.h., kriseninduzierende Faktoren) zu benennen und konkrete Lösungsszenarien aufzuzeigen. Tun wir dies nicht, provozieren wir Gefahr im Verzug. Womit sich der Kreis schließt und wir wieder bei der Krise wären.

Kurzum: Die Soziale Arbeit muss politischer werden. Es wäre wichtig, ihre Stimme im öffentlichen Diskurs wieder lauter zu vernehmen.


9. Regnose – oder: Die erwünschte Zukunft

Es ist Ende des Jahres 2030. Erneut wurde eine Krise bewältigt. Rückblickend betrachtet, hatten wir, ganz Erfahrungswesen, aus vergangenen Krisen gelernt und waren vorbereitet: Die notwendigen Transformationen waren systematisch und fortlaufend vollzogen worden, die Praxis der Sozialen Arbeit – als gesellschaftspolitisches Instrument der Gestaltung sozialer Veränderungsprozesse – wurde an die Gegebenheiten post-industrieller Lebenswelten angepasst.

Der Humanismus – das Primat von Sicherheit, Entwicklung, Bildung und Würde des Menschen (VJ 2008) – steht nach wie vor im Zentrum des Handelns. Wir haben Kulturen wahrhaftiger Kooperation, Partizipation und des Gelingens etabliert. Unser reflexives Verständnis von Krisen folgt der Logik der bewussten Gestaltung von Übergängen. Die tägliche Arbeit ist gemeinwesenorientiert, stark präventiv und ermächtigend ausgerichtet. Ressourcen werden flexibel und strategisch, jedoch nicht beliebig, sondern dort eingesetzt, wo sie gebraucht werden: im Einzelfall, bei Gruppen, im Sozialraum bzw. Gemeinwesen oder als zivilgesellschaftliche Ressource im Krisenfall.

Auch in der Sozialen Arbeit wird nun ein One Health Approach angewandt. Nachhaltiges Handeln ist in Strukturen, Prozessen und Abläufen abgebildet, notwendige Verkehrswege werden weitestgehend öffentlich oder (etwa im ländlichen Raum) mittels smarter Lösungen überwunden. Die Professionisten/innen besitzen Expertise und Feldkompetenz in analogen wie digitalen Umwelten und agieren in beiden souverän, je nach situativer Anforderung. Im Zentrum der Sozialen Arbeit steht zwischenmenschlicher Kontakt, Resonanz, gesellschaftlicher Ausgleich und Demokratiebildung. Die tragende Säule ist auch weiterhin Gemeinschaft.

„Wenn es in einer Welt der Individuen eine Gemeinschaft geben soll, kann es nur (und muss es notwendigerweise auch) eine Gemeinschaft sein, die auf Teilen und gegenseitiger Fürsorge beruht, eine Gemeinschaft, die Verantwortung übernimmt und sich aktiv darum kümmert, dass alle nicht nur die gleichen Rechte haben, sondern auch im gleichem Maße in der Lage sind, diese Rechte in Taten umzusetzen.“ (Bauman 2017: 181)


Verweis
1 Ich beziehe mich hier vorrangig auf Veränderungskrisen; wenngleich ich behaupte, dass ein nicht geringer Teil aller Krisen eine Entwicklungsgeschichte aufweisen, welche im Sinne eines Spannungsbogens retrospektiv sichtbar wird. Entsprechend wären Indikatoren identifizierbar, die Veränderungsprozesse anzeigen und die Grundlage für rechtzeitige Anpassungen darstellen. Man könnte sich dadurch nicht zwingend auf ein bestimmtes Resultat vorbereiten, sehr wohl aber auf den immanenten Prozess, der eine hohe individuelle, gemeinschaftliche bzw. kulturgeschichtliche Spezifität aufweist. Vgl. dazu auch Bösch et al. (2020).


Literatur

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Žižek, Slavoj (2016): Was ist ein Ereignis? Frankfurt am Main: Fischer.


Über den Autor


Roland Urban

ist Gesundheits-, klinischer und Notfallpsychologe, Gemeinwesenarbeiter, Prozessgestalter und Autor.
Internationale Seminar- und Vortragstätigkeit. Beschäftigt als Qualitätsmanager bei der Sozialen Initiative gemeinn. Gmbh sowie als Prozesskoordinator und Praxisbegleiter im Auftrag der Kinder- und Jugendhilfe Oberösterreich.
Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Gesundheitsförderung, Beteiligung, Gemeinwesenarbeit.