soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 25 (2021) / Rubrik „Werkstatt“ / Standort Graz
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/view/729/1348.pdf


Cornelia Pickl:

Lockdown

Beobachtungsbasierter Erfahrungsbericht aus dem Leben im Vollzeitbetreuten Wohnen von Menschen mit Behinderungen


1. Einleitung

In diesem Beitrag beschreibe ich meine Beobachtungen der Situation von Menschen mit Behinderungen im Vollzeitbetreuten Wohnen in einem Angebot der Lebenshilfen-Soziale Dienste in Graz während des ersten Corona-bedingten Lockdowns in der Zeit von 16.03.2020 bis 01.06.2020, dem Zeitraum, in dem die Bewohner*innen ausschließlich im Wohnbereich begleitet wurden.

Vollzeitbetreutes Wohnen bedeutet, dass Menschen mit Behinderungen 365 Tage im Jahr, sieben Tage die Woche begleitet werden. Auch in der Nacht ist eine Betreuungsperson vor Ort im Bereitschaftsdienst (vgl. LEVO-StBHG 2015). Grundlage für die Begleitung in der beschriebenen Wohneinrichtung sind die Richtlinien der Personenzentrierung (vgl. Doose 2013; Emrich/Gromann/Niehoff 2009). Dabei steht der Mensch mit seinen Stärken, Ressourcen (Netzwerken), Lebensträumen und seinem Willen im Mittelpunkt. Die Personenzentrierung zielt darauf ab, Kund*innen bei der individuellen und selbstbestimmten Gestaltung des eigenen Lebens inmitten der Gesellschaft zu unterstützen. In den Lebenshilfen-Soziale Dienste gibt es für die einzelnen Dienstleistungen einen beschreibenden Prozess für die zu erbringenden Leistungen. Die Kernfragen, die im Prozess Wohnen definiert werden, lauten unter anderem:

„Welche Interessen/Träume/Willen hat der/die KundIn? Was macht für ihn/sie Lebensqualität aus? Was will er/sie gerne machen? Was will er/sie verändern? Und welche Formen der Unterstützung sind dafür notwendig? Wie kann der Kunde/die Kundin am gesellschaftlichen Leben teilhaben, seine/ihre sozialen Kontakte pflegen und welche Unterstützung benötigt er/sie dafür?“ (Hochegger/Stubenrauch 2017: 14)

Das Leben im Sozialraum bzw. die Erweiterung dessen spielt also eine zentrale Rolle in der Begleitung von Menschen mit Behinderungen in unserer Organisation. Die Mitarbeiter*innen sollen sich als Brücken in den Sozialraum verstehen, d.h. dabei unterstützen, dass Kund*innen aktiv am Leben in der Gemeinschaft teilnehmen können.

Im beschriebenen Beispiel handelt es sich um einen Wohnstandort in der Nähe des Grazer Stadtzentrums, gut angebunden an den öffentlichen Verkehr. Rund um die Wohnungen sind Geschäfte, Cafés, Arztpraxen, Büros, ein Kindergarten und Studierendenwohnungen. Möglichst inklusiv zu wohnen, ist das Ziel (vgl. Fischer 2017: 371f.; Hinte 2019: 8), deshalb wird lebendiger Kontakt zu den Nachbar*innen gesucht und versucht, den Bewohner*innen verschiedene Formen der Teilhabe zu ermöglichen (vgl. O’Brian 2011).

Normalerweise werden am Wohnstandort elf Menschen mit Behinderungen in vier Einzelwohnungen begleitet. Zwei hatten sich gemeinsam mit ihren Angehörigen entschieden, bis zum Ende des Lockdowns in der Herkunftsfamilie zu leben. Die restlichen neun Personen mussten die Zeit des ersten Lockdowns hier verbringen. Während dieser Zeit gab es keine Fahrten zur Arbeit oder Tagesbegleitung (normalerweise wird dort die Zeit zwischen 8:00–16:00 Uhr verbracht) und kein Nachhause-Fahren zu den Angehörigen am Wochenende, wie es im Alltag viele tun. Zu Beginn waren alle Geschäfte außer den Lebensmittelgeschäften und Apotheken geschlossen, ebenso wie Cafés und Restaurants. Damit wir uns nicht ganz eingeschlossen fühlten, einigten wir uns mit den Bewohner*innen darauf, bei Bedarf im Hof und in unmittelbarer Umgebung spazieren zu gehen, ansonsten blieben wir in den Wohnungen. Nötige Erledigungen wurden von einem Zivildiener gemacht bzw. bekamen wir Lieferungen direkt ins Haus.

Im Wohnhaus arbeiteten wir in Kleinteams: immer die gleichen Personen zusammen in verschiedenen Schichten, um das Ansteckungsrisiko so gering wie möglich zu halten. Die Teams bestanden immer aus Wohnhausbegleiter*innen und Begleiter*innen aus dem Tagesbereich, die für die Bewohner*innen anfangs meist fremd waren. Einige kannten sich aus den Tagesangeboten und es für die Bewohne*innen seltsam, die Begleiter*innen aus der Arbeit/dem Tagesbereich im intimen privaten Umfeld zu erleben. Zwischen den einzelnen Wohngruppen gab es keinen Kontakt. Besuch durfte nicht in den Wohnraum kommen, bei Bedarf konnten Angehörige im Freien getroffen werden.


2. Veränderung des Alltages

Folgend schildere ich die Herausforderungen dieser Zeit aus meiner Perspektive, der einer betreuenden Person. Gleichzeitig wird versucht, auch die Wahrnehmung der Bewohner*innen nachvollziehbar zu machen.

Ab dem 16.03. nahmen wir in neuer Umgebung und unter neuen Voraussetzungen die Arbeit auf. Zuerst herrschte Aufregung, sowohl unter den Bewohner*innen als auch den Begleiter*innen, weil viele neue Mitarbeiter*innen (aus dem geschlossenen Tagesbereich) eingeschult werden mussten. Das war notwendig, weil im Vollzeitbetreuten Wohnen normalerweise die Zeit von 9:00–15:00Uhr nicht besetzt ist. Zusätzlich mussten einige Mitarbeiter*innen aus dem Wohnbereich freigestellt werden, für den Fall, dass es zu einer Infektion kommt – dann hätte das gesamte Personal ausgetauscht werden müssen. Da brauchte es erfahrene Mitarbeiter*innen aus dem Wohnbereich als Reserve.

Die Bewohner*innen reagierten unterschiedlich auf die Veränderungen, viele mit Neugier, einige auch mit Rückzug. Die ersten Tage waren beherrscht von immer neuen Nachrichten in den Medien und internen Nachbesserungen (zu denen der Krisenstab der Lebenshilfen-Soziale Dienste sich entschlossen hatte), um das Infektionsrisiko so gering wie möglich zu halten. Die Einschränkungsmaßnahmen wurden von den meisten Bewohner*innen so hingenommen und teilweise auch als Urlaub im Wohnhaus empfunden: Man musste nicht früh aufstehen und das Haus verlassen, kochte gemeinsam, konnte Kartenspielen und Puzzeln, lange Fernsehen und Videospiele ausprobieren. Der Haushalt wurde gemeinsam erledigt.

Es wurde versucht, die Bewohner*innen zu informieren, was das Coronavirus ist, worauf wir achten müssen, dass Abstandhalten wichtig ist und wir alle in nächster Zeit zu Hause bleiben sollen, damit sich das Virus nicht ausbreiten kann. Die Informationen wurden nicht von allen gleich gut verstanden. Es war Unsicherheit spürbar, teilweise auch Angst, sich anzustecken und zu sterben. Nur zwei Bewohner (Herr A. und Herr M.) sagten von Beginn an, dass ihnen die Arbeit fehlt und sie besorgt sind, wie es wohl weitergehen wird. Ihnen fehlte die Routine des Alltags und auch die bekannten Personen im Arbeitsbereich. Wo es ging, fanden Telefonate statt, aber oft fehlte das ganze Drumherum – der Weg in die Arbeit, das Gefühl, gebraucht zu werden, etwas Sinnvolles zu tun, die Arbeitskolleg*innen – und weniger eine bestimmte Person.

Nach dem ersten Wochenende im Wohnbereich war erstmals etwas Unmut zu spüren. Heimfahrten am Wochenende, für viele sonst ein Fixpunkt, konnten nicht stattfinden. Das wurde als störend empfunden, aber hingenommen. Nicht jede*r der begleiteten Bewohner*innen konnte telefonieren, drei von ihnen verständigen sich nicht verbal, eine Person hat kein Naheverhältnis zu den Angehörigen mehr. Die sozialen Kontakte, die meist sowieso nicht sehr vielfältig sind, wurden noch einmal stark eingeschränkt.

Der Bewohner Herr L. bekam ab der dritten Woche Besuch von unterschiedlichen Angehörigen über den Balkon: die Begleiter*innen bekamen dann einen Anruf und ließen ihn wissen, dass Besuch da ist. Er ging auf den Balkon, unten auf der Straße kamen immer wieder andere Angehörige und redeten auf Distanz mit ihm. Er wollte keine Maske aufsetzen. Manchmal brachten sie ihm Kuchen mit, den er sich holen konnte, wenn sie weg waren, oder sie sangen ihm ein Ständchen, da er Musik mag. Anfangs war Herr L. verwirrt, dass er nicht zu ihnen kann, wechselte zwischen Lachen und Tränen, aber er akzeptierte schnell, dass größere Nähe in der Situation nicht ging und freute sich über diese Art der Besuche.

Regelmäßigen Besuch von Beginn an bekam der Bewohner Herr D. Seine Mutter rief an, wenn sie da war, wir unterstützten ihn beim Anziehen und er verließ die Wohnung mit Maske und traf seine Mutter im Hof. Hygienemaßnahmen und Abstand mussten eingehalten werden. In die Wohnung konnte sie nicht kommen, da Herr D. seine Wohnung mit Herrn L. teilt. Der Bewohner Herr N., dessen Eltern in einer anderen Stadt wohnen, bekam zweimal während des gesamten Lockdowns Besuch von seiner Mutter und Geschwistern. Auch sie trafen sich außerhalb der Wohnung. Ansonsten hatte er nur Kontakt zu den Begleiter*innen und einem Wohnkollegen. Die restlichen Bewohner*innen bekamen in der ersten Zeit (bis Mitte April) keinen Besuch. Sei es, dass sie kaum Kontakt zu Angehörigen haben oder dass die Eltern zur Hochrisikogruppe gehören und deshalb ihren Wohnbereich nicht verlassen sollten.

Fünf Bewohner*innen telefonierten regelmäßig mit Angehörigen. Herr M. telefonierte oft mit seiner Freundin, die er aber nicht treffen konnte. Zwischen den beiden kam es häufig zu Streit, der telefonisch nur schwer aufgelöst werden konnte. Häufig spielte dabei Eifersucht eine Rolle. Herr M. ist einer der Bewohner, die von Beginn an arbeiten gehen wollten, er reagierte mit Frust auf das „Eingesperrt-Sein“, wie er sagte. Er begann sich zu kratzen, bekam Hautausschlag, hatte manchmal Wutausbrüche und schlug mit Türen. Durch ausgedehnte Gespräche und Spaziergänge oder auch Rückzug in sein Zimmer konnte er sich aber meist wieder beruhigen. Trotzdem war merkbar, dass ihm die Abwechslung seines normalen Tagesablaufes sehr fehlte. Eine Grundgereiztheit machte sich breit.

Sein Wohnungskollege, Herr A., der auch von Beginn an die Arbeit vermisst hat, telefonierte anfangs wöchentlich mit seiner persönlichen Begleiterin aus dem Arbeitsbereich. Irgendwann wollte er aber nicht mehr telefonieren. Er spielte in der ersten Zeit leidenschaftlich gerne Karten, verlor aber mehr und mehr die Lust daran und zog sich zurück. Seine Frau wohnt in einer anderen Wohneinrichtung. Er hörte auch auf, mit ihr zu telefonieren.

Der Bewohner Herr N. hatte keine Lust, sich auf die neuen Begleiter*innen einzulassen. Er schlief lange in den Tag hinein, beschäftigte sich ausgiebig mit seinem PC, schaute Serien und spielte Videospiele. Er wollte oft auch nicht zur Körperpflege aufstehen und meinte, „das ist jetzt eh nicht notwendig“, weil er „eh nirgendwo hin muss“. Zumindest einmal am Tag kam er aber zum Essen. Wenn man mit ihm ins Gespräch kam, erzählte er oft von früher und von seinen Freunden, die er vermisst, zu denen er aber auch schon vor Corona keinen Kontakt mehr hat. Die Vergangenheit schien für ihn präsenter und attraktiver zu sein als die Gegenwart, in ihr hielt er sich gedanklich auf.

Im Gegensatz dazu schien der Bewohner Herr P. die Abwechslung im Wohnbereich zu genießen. Er suchte den Kontakt zu den neuen Begleiter*innen, führte lange Gespräche, probierte auch neue Angebote aus und fand es angenehm, dass er morgens mehr Zeit hatte. Die Bewohnerin Frau K. meinte auch nach Wochen, die Arbeit fehle ihr gar nicht. Aber dass sie ihre Mutter nicht sehen kann, machte ihr mit jeder Woche mehr zu schaffen. Telefonate mit ihr konnten sie kurz beruhigen, was allerdings nicht lange vorhielt. Teilweise erschien sie verwirrt, suchte immer wieder Dinge. Die festgelegte Tages- und Wochenstruktur fehlte. Ihren Kalender, der ihr im normalen Alltag gut zur Orientierung dient, verwendete sie immer seltener. Manchmal reagierte sie mit Wut und beschimpfte die Begleiter*innen. Sie hatte Gleichgewichtsprobleme, immer wieder kam es zu Stürzen, die blaue Flecken zur Folge hatten. Ihre Wohnungskollegen empfand sie oft als störend und teilte ihnen das auch mit.

Herr S. ist ein Bewohner mit sehr hohem Hilfebedarf. Er zog sich von Beginn an sehr zurück. Kontakt zu Angehörigen hatte er keinen, da er nicht verbal kommuniziert und auch stark sehbeeinträchtigt ist (so war auch keine Videotelefonie möglich). Die Situation war für ihn schwer fassbar. Die meiste Zeit verbrachte er alleine, nur zu den Mahlzeiten war er dazu zu bewegen, in die Küche zu kommen und am gemeinsamen Essen teilzunehmen. Erst mit der Zeit war er bereit, sich auf andere Angebote einzulassen wie Spaziergänge, Musikhören im Wippstuhl im Wohnzimmer, Steckspiele, leichte Körperwahrnehmungsübungen etc.

Der Bewohner Herr T. orientierte sich an den Begleiter*innen, die da waren. Er konnte selbst wenig Ideen dazu entwickeln, wie er sich beschäftigen sollte, auf Angebote konnte er sich schwer einlassen. Oft war ihm langweilig. Spaziergänge und seine Mitbewohnerin ein bisschen zu ärgern, schien ihm Spaß zu machen – da gab es dann viel zu sehen. In der Dreier-WG stieg die Gereiztheit zwischen den Bewohner*innen.

Zu den Bewohner*innen, die sich entschlossen hatten während des Lockdowns bei ihren Angehörigen zu leben, gab es regelmäßigen telefonischen Kontakt – wo möglich, direkt mit ihnen, ansonsten auch mit den Angehörigen. Auch hier war Unsicherheit spürbar. Der vertraute Alltag und die Menschen, die sie häufig treffen, fehlten. Die Angehörigen deuteten an, dass die Situation zu Hause nicht immer einfach ist und sie sich manchmal überfordert fühlen. Vor allem die Tatsache, dass niemand wusste, wie lange diese Ausnahmesituation andauern wird, verunsicherte viele.

Wir Begleiter*innen überlegten uns in der Zeit des Lockdowns neue Angebote wie sportliche Betätigung, kreatives Arbeiten, Malen, Körperwahrnehmungsübungen, basale Stimulation, gewohnte Arbeiten aus dem Tagesbereich (z.B. Jolly-Stifte sortieren). Wir standen im Alltag zur Seite, versuchten, die Situation zu erklären und Zuversicht zu vermitteln. Trotzdem wurde mit der Zeit die Welt im Wohnbereich immer enger – für Mitarbeiter*innen und Bewohner*innen. Wobei wir Mitarbeiter*innen zumindest den Wechsel zwischen Wohnen und Arbeit hatten, die Bewohner*innen blieben die ganze Zeit über im gleichen Umfeld. Die Tätigkeiten jedes Tages ähnelten sich: sie waren bestimmt von Körperpflege, Haushaltstätigkeiten und Essen. Überraschungen und Begegnungen mit anderen blieben aus.

Die Zeit schien sich zu verlangsamen, das Leben lief in immer gleichen und doch ungewohnten Bahnen. Langeweile war spürbar, spiegelte die Leere wider, die viele empfanden. Dazu kam, dass ein Ende nicht absehbar war. Fragen tauchten auf, ob man jemals wieder „normal arbeiten“ gehen kann oder ob und wann man seine Lieben wieder besuchen und in die Arme schließen kann. Noch schwieriger war es, wenn Fragen nicht artikuliert werden konnten, nicht klar war, welche Erklärungen verstanden wurden. Das Leben war auf einmal anders und man wusste nicht einmal, warum und für wie lange das so sein würde. Bei den erlebten Unsicherheiten gab es eigentlich keinen Unterschied in der Wahrnehmung der Situation zwischen Bewohner*innen und Betreuungspersonal.


3. Entwicklungen und Annäherung an die alte Normalität

Drei Wochen arbeitete ich in einer anderen Gruppe und kam dann Anfang Mai wieder zurück zu den Wohnungen in der Innenstadt. Die Ausgangsbeschränkungen waren etwas gelockert, Cafés machten wieder auf, wir konnten Ausflüge anbieten, fuhren mit dem Auto raus aus der Stadt und machten kleine Wanderungen, sahen wieder anderes als die unmittelbare Umgebung. Die Bewohner*innen übten sich darin, die Maske aufzusetzen. Friseurbesuche und Kleidung einkaufen waren wieder möglich. Einige haben sich in der Zwischenzeit in Videotelefonie geübt, haben so liebe Menschen zumindest wieder sehen können. Trotzdem hatte sich in der Zeit meiner Abwesenheit einiges geändert.

Der Bewohner Herr A., der sich immer mehr zurückgezogen hat, befand sich mittlerweile im Krankenhaus. Er hatte sich wiederholt sehr aufgeregt, meinte, keine Luft mehr zu bekommen, sein Blutdruck war sehr hoch, es kam vermehrt zu Panikattacken. Er hatte einen körperlichen Zusammenbruch. Sein Gesamtzustand musste beobachtet und seine Medikamente mussten angepasst werden. Als er wieder nach Hause kam, wirkte er sehr verändert und abwesend. Er hatte abgenommen, zitterte merkbar beim Trinken – so sehr, dass er manchmal etwas verschüttete. Manchmal brach er in Tränen aus. Gesprächsangebote und die Aussicht, dass er bald wieder arbeiten konnte, ließen ihn ruhiger werden, er nahm mit der Zeit wieder mehr Anteil am Leben. Er teilte nun auch manchmal seine Sorgen mit, z.B. dass er gar nicht wisse, ob er wieder arbeiten gehen könne: Vielleicht kann er das gar nicht mehr? Und vielleicht steckt er sich dort an und wird dann sterben? Mit jemandem aus dem Arbeitsbereich telefonieren wollte er nicht.

Der Bewohner Herr B. nahm teilweise das Angebot eines Freizeitassistenten an, sich gemeinsam sportlich zu betätigen. Das hier extra jemand zu ihm kam, schien ihm am meisten zu gefallen. Sein Vater kam ab Mai auch einmal pro Woche zu Besuch – die beiden trafen sich außerhalb der Wohnung und gingen, beide mit Maske, miteinander spazieren. Vor allem männlichen Begleitern gegenüber reagierte er allerdings schnell gereizt, wurde laut, schimpfte und schlug mit Türen. Anscheinend konnte er nur so die empfundene Wut kanalisieren und herauslassen. Seine Hautausschläge kamen und gingen. Als klar wurde, dass bald alle wieder arbeiten gehen können, sprach er über ähnliche Ängste wie Herr A.: Er weiß gar nicht, ob er noch den Weg selbständig findet und ob sie ihn dort noch brauchen können.

Der Bewohner Herr H. hatte sich mittlerweile gut mit der Situation angefreundet. Er freute sich über die Möglichkeit, wieder mehr hinausgehen zu können, wollte gleich am ersten Tag, als es wieder möglich war, zu McDonald’s, nahm an Einkäufen teil und auch gerne an Ausflügen hinaus aus der Stadt. Die Aussicht, bald wieder arbeiten zu können, passte ihm auch, doch für ihn musste das auch nicht sofort sein. Er meinte, in Zukunft weniger Tage zu arbeiten, könne er sich auch gut vorstellen, wenn er im Wohnbereich eine Tagesbegleitung bekommen könnte. Mit der Aussicht, zurück in die Arbeit zu kommen, wurde Herr N. wieder etwas aktiver. Er versuchte, seinen Schlaf-Wach-Rhythmus mehr an seinen früheren Arbeitsalltag anzupassen. Von der Möglichkeit, wieder mehr ins Draußen zu kommen (Caféhaus, Einkaufen, Ausflüge…), machte er keinen Gebrauch.

Herr L. bereitete sich darauf vor, bald wieder arbeiten zu gehen, indem er mehrmals mit Begleiter*innen aus dem Arbeitsbereich videotelefonierte. Für ihn ist es schwierig, die Maske aufzusetzen. Da es in der Arbeit aber nötig sein würde, ließ er sich darauf ein, sich darin zu üben – am liebsten bei Caféhausbesuchen. Auch Herr D. begann, per Videokonferenz Kolleg*innen zu sehen und sich mit wichtigen Themen in der Arbeit auseinanderzusetzen. Er war stundenweise im Homeoffice. Am meisten freute er sich darauf, dass im Wohnbereich bald wieder normaler Alltag mit den üblichen Begleiter*innen stattfinden würde. Er meinte, sein Wohnbereich ist für ihn sehr persönlich und den mag er nicht so gerne mit ihm doch recht fremden Begleiter*innen teilen, auch wenn sie „eh recht nett und bemüht“ sind. Für ihn waren sie einfach ein Fremdkörper in seinem Zuhause. Er wünschte sich wieder mehr Routine und Intimität.

Frau K. teilte mit, dass sie eigentlich gar nicht mehr arbeiten gehen möchte. Vor allem die langen Busfahrten dorthin mag sie nicht. Die Sehnsucht, zu ihrer Mutter zu fahren, ist aber mit jeder Woche größer geworden. An Freitagen packte sie regelmäßig ihre Tasche und wollte zu ihr fahren und reagierte dann sehr frustriert, wenn man ihr sagte, dass es leider noch immer nicht geht. Am besten funktionierten dann Telefonate mit der Mutter. Minuten später kam sie dann aber wieder mit ihrer Tasche.

Herr S. schien sich an die neue Situation angepasst zu haben. Er verbrachte mehr Zeit im Wohnzimmer. Spürbar war aber auch, dass es zwischen ihm und seinen beiden Wohnungskollegen, Frau K. und Herrn T., vermehrt zu Spannungen kam. Geräusche, die Herr T. machte, verärgerten Frau K., Herr S. zog sich dann gleich wieder zurück. Selten hielten sich alle drei gleichzeitig im Wohnzimmer auf, sie schienen sich lieber aus dem Weg zu gehen. Herr T. schien am liebsten an außerhäuslichen Aktivitäten teilzunehmen. Ihm schien öfter langweilig zu sein. Seine Bedürfnisse konnte er nicht gut mitteilen.


4. Resümee

Mit der Öffnung von Geschäften und Cafés und der Möglichkeit, den Aktionsradius wieder zu erweitern, kam etwas Lebendigkeit und Leichtigkeit zurück in den Alltag. Gleichzeitig waren Ängste spürbar, wie es weitergehen wird, ob man wieder dort anknüpfen kann, wo man aufgehört hat.

Die Bewohner*innen sind sehr unterschiedlich mit der veränderten Situation umgegangen. Einerseits war es überraschend, wie wenig Widerstand anfangs spürbar war. Da hat sich eine ganze Welt verändert, der gewohnte Alltag wurde komplett über den Haufen geworfen, das soziale Umfeld hat sich stark gewandelt (viel weniger und zum Teil unbekannte Personen in sehr intimem Umfeld). Teilweise haben die Bewohner*innen nicht genau verstanden, wieso das passiert, aber sie haben es hingenommen. Manchmal wurden Angst, Wut und Verzweiflung spürbar, eher ging es aber in Richtung stiller Rückzug – was eigentlich schwieriger zu begleiten ist. Einige haben sich auch schnell an die veränderte Situation angepasst und versucht, das Beste daraus zu machen. Viele haben im Laufe ihres Lebens schon Erfahrungen mit abrupten und umfassenden Änderungen gemacht und sind es gewohnt, sich an neue Gegebenheiten anzupassen.

Für uns Begleiter*innen war es v.a. schwierig, dass die sozialen Kontakte so stark eingeschränkt wurden. Wie kann man seiner „Brückenfunktion“ zu einem Leben inmitten der Gemeinschaft gerecht werden, wenn Jede*r Kontakte meiden soll, sich das Leben in allen Bereichen verengt? Soziale Kontakte haben gefehlt. Wir haben gelernt, wie wichtig eine gute Dokumentation über die Gestaltung des Alltags ist, v.a. bei Menschen, die sich nicht gut mitteilen können und viel Unterstützung benötigen. Da kann es gleich zu Beginn des Tages einen großen Unterschied machen, ob ich auch als „fremde“ Begleiter*in weiß, dass der Kunde Herr S. keinen Kaffee mag, sondern lieber einen Frucht Smoothie. Das Wissen um vertraute Rituale gibt Sicherheit. Wir haben auch gelernt, dass die Situation von allen anders erlebt wird. Manche konnten dem neuen Lebensrhythmus – ohne Stress in den Tag zu starten und ihn individuell gestalten zu können – durchaus etwas abgewinnen. Hier können auch neue Begleitungskonzepte angedacht werden, wie „Teilzeitarbeit“ auch für Menschen mit hohem Hilfebedarf.

Im Herbst, als neue Einschränkungen im Raum standen, führte ich ein Gespräch mit einem Kunden aus dem Arbeitsbereich. Er arbeitet sehr gerne. Während des Lockdowns musste er bei seinen Eltern bleiben. Er meinte:

„Zu Hause habe ich es sehr schön, aber es ist auch irgendwie langweilig. Da in der Arbeit ist mir nie langweilig. Ich bin glücklich, dass ich wieder arbeiten darf. Hoffentlich sperren sie nicht alles wieder zu. Aber man muss es halt so nehmen, wie es kommt.“


Literatur

Doose, Stefan (2013): „I want my dream!“ Persönliche Zukunftsplanung. Neue Perspektiven und Methoden einer personenzentrierten Planung mit Menschen mit und ohne Beeinträchtigung. 10. akt. Aufl. Neu-Ulm: AG Spak Bücher.

Emrich, Carolin/Groman, Petra/Niehoff, Ulrich (2009): Persönliche Zukunftsplanung begleiten. Handbuch für Unterstützungspersonen. Gut leben. Persönliche Zukunftsplanung realisieren – ein Instrument. Marburg: Lebenshilfe-Verlag.

Fischer, Ute (2017): Wohnen in Gemeinschaft – Entwicklung und Perspektiven. In: Fröhlich, Andreas/Heinen, Norbert/Klauß, Theo/Lamers, Wolfgang (Hg.): Schwere und mehrfache Behinderung – interdisziplinär. Bd. 1. Oberhausen: ATHENA, S. 367–387.

Hinte, Wolfgang (2019): Sozialraumorientierung – ein Fachkonzept für die Behindertenhilfe. In: Zeitschrift für gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten. https://www.zeitschriftmenschen.at/content/view/full/116014 (22.12.2020).

Hochegger, Martin/Stubenrauch, Gudrun (2017): Prozess Wohnen D7. Lebenshilfen-Soziale Dienste, internes Dokument.

LEVO-StBHG – Leistungs- und Entgeltverordnung, Steiermärkischen Behindertengesetzes 2015, LGBl. Nr. 2/2015. https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=LrStmk&Gesetzesnummer=20001224 (22.12.2020).

O’Brian, John (2016): Fünf wertgeschätzte Erfahrungen von Inklusion. Übers. von Netzwerk Persönliche Zukunftsplanung. https://www.persoenliche-zukunftsplanung.eu/fileadmin/Webdata/Materialien/5-wertgeschaetze-erfahrungen_j.o-brien_3-seit.pdf (22.12.2020).


Über die Autorin


Mag. phil. Cornelia Pickl

Ist Heil-, Sonder- und Sozialpädagogin und langjährige Mitarbeiterin bei den Lebenshilfen-Soziale Dienste. Tätig bei der Begleitung von Menschen mit hohem und höchstem Unterstützungsbedarf in der Tagesstruktur und zuständig für die Implementierung von personenzentriertem Arbeiten in der Organisation.