soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 25 (2021) / Rubrik „Werkstatt“ / Standort St. Pölten
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/view/733/1352.pdf


Janine Winter:

Endstation Forensik

SystemsprengerInnen als blinder Fleck des Sozialsystems


1. Einleitung

Welchen Wert messen wir als Gesellschaft Leben bei, das wir verwahren und einsperren? Welchen Wert messen wir Menschen bei, die als Diagnosen und Paragraphen verhandelt werden? Was bedeutet Menschenrechtsorientierung in der Sozialen Arbeit im beruflichen Alltag?

Die Auseinandersetzung mit diesen Fragen ist die Grundlage für die Untersuchung, deren zentrale Ergebnisse im folgenden Beitrag präsentiert werden. Im Zuge meiner ehrenamtlichen Tätigkeit bei einem Verein für Erwachsenenschutz wurde mir im Dezember 2019 die Vertretung der 23-jährigen Mathilde übergeben. Aufgrund von Freiheitsberaubung einer Wohnbetreuerin befindet sich die Klientin seit fünf Jahren in der forensischen Abteilung einer Psychiatrie. Seit mehr als einem Jahrzehnt besteht ihr soziales Netzwerk hauptsächlich aus professionellen HelferInnen. Aufgrund dessen ist ein umfangreiches Repertoire an Gutachten, Berichten und Dokumentation vorhanden.

Bereits zu Beginn der Fallübernahme wurde deutlich, dass eine detaillierte Auseinandersetzung notwendig ist, um eine angemessene Vertretung der Klientin gewährleisten zu können. Zusätzlich fanden zwei sozialdiagnostische Instrumente Anwendung, zum einen der Biografische Zeitbalken (vgl. Pantuček 2019: 223f.) und zum anderen eine ego-zentrierte Netzwerkkarte (vgl. ebd.: 187f.), wodurch ein noch besserer Überblick über die Gesamtsituation ermöglicht werden konnte. Als Inspiration, einen Fall kasuistisch aufzuarbeiten, diente vor allem der Beitrag von Mojca Urek „Wie in der Sozialen Arbeit ein Fall gemacht wird. Die Konstruktion einer ,schlechten Mutter‘“ (2012). Darin rekonstruiert sie narrations-analytisch eine Fallgeschichte aus ihrer frühen beruflichen Praxis, um sie retrospektiv einem neuen Verständnis zuzuführen. Die nachfolgende Analyse wird, orientiert an den „Sechs Schritten der helfenden Kommunikation“ (2002) nach Brigitta Haye und Heiko Kleve, aufgeschlüsselt, damit eine strukturierte Distanzierung vom und Aufarbeitung des Falls möglich ist.


2. Die Lebenssituation von Mathilde S.

Die 23-Jährige Mathilde S. befindet sich seit März 2015 in der forensischen Abteilung einer Psychiatrie. Mathilde S. leidet laut den psychiatrischen Gutachten an einer emotional-instabilen Persönlichkeit vom impulsiven Typ, einem Intelligenzdefizit und einer Störung der Impulskontrolle. Sie hielt ihre damalige Betreuerin in einer betreuten Wohngemeinschaft der Kinder- und Jugendhilfe widerrechtlich im Dienstzimmer für etwa eine Stunde gefangen und bedrohte sie mit einer Schere. Laut dem Gutachten hat sie die Tat in einem Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustand begangen, womit das Vergehen der Freiheitsentziehung nach § 99 Abs 1 StGB zugerechnet werden konnte. Seitdem das Urteil rechtskräftig ist, befindet sich Mathilde S. in der Anstalt für geistig abnorme RechtsbrecherInnen.

Mathilde wurde bis Dezember 2019 von einem Rechtsanwalt vertreten, dieser wandte sich jedoch an den Verein für Erwachsenenschutz, um den Fall abzugeben. Aus diesem Grund obliegt seit Ende 2019 die Vertretung dem Verein und ich wurde als ehrenamtliche Erwachsenenvertreterin bestimmt. Außer meinen monatlichen Besuchen ist Mathilde S. umgeben von einer weiteren Sozialarbeiterin, PflegerInnen, zwei Psychiatern, je einer Psycho- und Ergotherapeutin sowie mehreren SozialpädagogInnen.

Im Zuge unserer Kontakte und eines gemeinsam erstellten Biografischen Zeitbalkens wurde deutlich, dass Beziehungsabbrüche innerhalb des familiären Kontexts seit der Geburt von Mathilde S. eine zentrale Rolle spielen. Die Eltern trennten sich, als sie wenige Wochen alt war. Bis zu ihrem elften Lebensjahr fanden Besuchskontakte mit ihrem Vater in einem zweiwöchentlichen Rhythmus statt. Aufgrund einer nicht bezahlten Zahnspangenrechnung, welche durch ihren Vater beglichen werden sollte, brach die Mutter den Kontakt zu ihm ab. Zusätzlich schildert Mathilde S. im Zuge der biografischen Analyse, dass vor allem der Beziehungsabbruch zu ihrem Vater, aber auch zu den darauffolgenden zwei Stiefvätern, von ihr als schmerzlich empfunden wurde.

In den letzten Jahren hatte sie ausschließlich Kontakt zu ihrer Mutter, der ihren Angaben zufolge seit ihrer Unterbringung in der Psychiatrie gut verlaufe. Frau S. kommt alle zwei bis drei Wochen zu Besuch und die beiden telefonieren mehrmals wöchentlich. Seit Herbst 2019 wurde auch der Kontakt zum leiblichen Vater telefonisch hergestellt. Im Zuge der Netzwerkkartenerstellung gibt Mathilde S. an, dass sie die Telefonate mit ihrem Vater genießt und er ihr versprochen hat, dass er sie sobald als möglich besuchen kommt. Er möchte sie außerdem unterstützen eine neue Wohnmöglichkeit außerhalb der Forensik zu finden, auch ihre Mutter äußert seit Jahren diese Art von Versprechen. Die Klientin hat aber Zweifel in Bezug auf den gewünschten Auszug. Ihrer Meinung nach zerstören die ÄrztInnen und PflegerInnen ihre Pläne immer wieder. Sie selbst würde am liebsten wieder bei ihrer Mutter wohnen.

Mathilde S. wirkte im Zuge der bisher durchgeführten Termine meist stark benommen. Sie kann sich nur schwer konzentrieren und ist schnell erschöpft. Diese Gegebenheit lässt sich meiner Einschätzung nach auf die medikamentöse Einstellung zurückführen. Der Wunsch nach einer pharmakologischen Umstellung wird von der Klientin klar geäußert, da sie sich wieder besser konzentrieren können möchte und gerne wieder fitter wäre. Am liebsten verbringt sie die Zeit im Freien und die wöchentlichen Sportstunden bereiten ihr Freude.

Auffallend ist vor allem, dass ihr Hauptaugenmerk auf die Zeit bei ihrer Mutter gerichtet ist, alles neu erlebte verknüpft sie mit ihrer Kindheit. In Anbetracht ihrer Biographie erscheint dieses Verhalten naheliegend, da sie mit Beginn der Adoleszenz von Einrichtung zu Einrichtung geschoben wurde, wo sie sich ihren Angaben zufolge nirgends angenommen fühlte. Die momentane Endstation ihrer Umzüge ist die laufende Verwahrung auf unbestimmte Zeit in der Forensik. Aufgrund der oben angeführten Tatsachen kann vermutet werden, dass die Weiterentwicklung von Frau S. gehemmt wurde, weshalb sie oftmals in kindliche Verhaltensweisen fällt.


3. Hilfesystemkontext

Die Geschichte von Mathilde S. ist eng mit dem System der Hilfe selbst verknüpft, weshalb eine klare Trennung zwischen ihrer persönlichen Lebenssituation und der, die HelferInnen um sie herum konstruieren, nicht vorgenommen werden kann. Nachfolgend soll Mathildes Geschichte im System professioneller Hilfe skizziert werden. Im Zeitraum zwischen 2008 und 2014 wurde die Klientin mehrmals in einem städtischen Neurologischen Krankenhaus untergebracht, aufgrund von Impulsdurchbrüchen und der Beschädigung von Gegenständen sowie aggressiven Verhaltensweisen ihrer Mutter gegenüber. Vonseiten der Schule wurden in diesem Zeitraum ebenfalls ähnliche Auffälligkeiten bekanntgegeben. Auf Grundlage von Erkenntnissen mittels Biografischem Zeitbalken kann eine Verknüpfung zwischen diesen Problematiken und dem Kontaktabbruch mit ihrem Vater hergestellt werden. Möglicherweise stehen ihre impulsiven Ausbrüche in Zusammenhang mit dem radikalen Beziehungsabbruch.

Mathilde selbst schildert mir, ihre Mutter habe nie mit ihren Wutausbrüchen und ihrer Hyperaktivität umgehen können, zeitweise hätten jedoch die Stiefväter und der regelmäßige Kontakt zu ihrem leiblichen Vater beruhigend auf sie eingewirkt. Die Überlastung der Mutter lässt sich vermutlich durch eine fehlende zusätzliche Bezugsperson von Mathilde S. ableiten. Im Jahr 2008 regte die Mutter zum ersten Mal eine Unterbringung ihrer Tochter in der Kinderpsychiatrie an. Weil sie sich nicht mehr in der Lage fühlte, sich allein um ihre Tochter zu kümmern, wurde Mathilde S. in einer Wohngemeinschaft für beeinträchtigte Jugendliche untergebracht.

Aufgrund von aggressiven Impulsdurchbrüchen den BetreuerInnen gegenüber, wurde eine Verlegung in ein Krisenzentrum durchgeführt und in weiterer Folge ein Einzug in, laut den damals involvierten ExpertInnen, eine besser für Mathilde S. geeignete Wohngemeinschaft. Die damals 19-jährige Mathilde S. hatte nach etwa sechs Wochen erneut einen impulsiven Durchbruch. Sie hielt eine Betreuerin aus dem Verein im Dienstzimmer fest, indem sie ihr eine Schere im Gesicht-/Halsbereich entgegenhielt. Sie stand unter dem Einfluss eines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustandes nach (StGB §11), welcher durch einen gerichtlich bestimmten Psychiater diagnostiziert wurde. Zusätzlich attestierte er eine emotional instabile Persönlichkeit vom impulsiven Typ (ICD-10: F 60.3), ein Intelligenzdefizit (F 70.1), eine abnorme Gewohnheit und eine Störung der Impulskontrolle (F63.9). Mathilde S. wurde zu einer Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme RechtsbrecherInnen nach § 21 Abs. 1 StGB verurteilt.

Seit 2015 wurde überdies ein Jurist zum Erwachsenenvertreter (vormals: Sachwalter) bestellt, der in diesem Zeitraum ausschließlich telefonisch Kontakt zu der jungen Frau hielt. Mit der Übergabe des Falls an den Verein für Erwachsenenschutz änderte sich die Zuständigkeit. Die Betreuungstermine finden in einem vierwöchigen Rhythmus in Form von Besuchen in der Forensik statt. Zusätzlich besteht für die Klientin auch die Möglichkeit, sich bei Bedarf telefonisch bei mir zu melden. Diese Möglichkeit nimmt sie ein bis zwei Mal monatlich in Anspruch. Es erfolgten bereits erste Vernetzungen meinerseits mit den multiprofessionellen HelferInnen der Psychiatrie.

Zusammenfassend konnte anhand des Biografischen Zeitbalkens festgestellt werden, dass Mathilde S. seit ihrem elften Lebensjahr von familiärer, schulischer und institutioneller Ebene als „untragbar“ behandelt wurde, weshalb eine Verweisung von Einrichtung zu Einrichtung stattfand. Damit fällt sie in das Schema einer Systemsprengerin. Diese Begrifflichkeit bezeichnet ein Hoch-Risiko-Klientel, welches sich in einer durch Brüche geprägten negativen Interaktionsspirale mit dem Hilfesystem, den Bildungsinstitutionen und der Gesellschaft befindet und diese durch als schwierig wahrgenommene Verhaltensweisen aktiv mitgestaltet (vgl. Baumann 2014).


4. Probleme und Zuschreibungen

Laut Haye und Kleve (2002) sind die Eruierung von Problemen und die Analyse der vorhandenen Ressourcen ein wesentlicher Bestandteil der helfenden Kommunikation. Von zentraler Bedeutung ist es auch, wer Norm und Devianz definiert, da diese Einordnungen auf keiner objektiven Sichtweise beruhen, sondern sozial konstruiert werden. Für den beschriebenen Fall ist es wesentlich, festzulegen, was eine Abweichung von der Norm darstellt, um überhaupt Probleme definieren zu können. Bei dieser Einteilung muss eine trennscharfe Unterscheidung zwischen der Einschätzung der KlientInnen, den rechtlichen Rahmenbedingungen etc. durchgeführt werden. Dieser Punkt wurde akribisch mit der Klientin gemeinsam durchgearbeitet, da es andernfalls zu Missverständnissen kommen kann, welche die anschließende Fallbearbeitung negativ beeinflussen könnten.

Die differenzierte Betrachtungsweise der Problemsicht spielt bei Mathilde S. eine bedeutende Rolle. Im Zuge der Aktenanalyse wurde deutlich, dass in Hinblick auf Mathilde S. in der Vergangenheit und Gegenwart vorrangig defizitorientiert gearbeitet wurde und immer noch wird. Laut den Angaben der Mutter von Frau S. war ihre Tochter bereits als Kleinkind auffällig, sie habe seit dem vierten Lebensjahr starke Wutausbrüche. Sie lehnte sich gegen Regeln und Strukturen auf, außerdem litt sie unter Schlafstörungen. Von Seiten der Volksschule wurde angegeben, dass sie Lernschwierigkeiten habe und an Konzentrationsmangel leide. Im Jahr 2008 wurde erstmals ein psychiatrisch diagnostisches Gutachten erstellt. Dieses spricht von einer Persönlichkeitsentwicklungsstörung, eine Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen, mit immer wieder auftretenden schweren Verhaltensstörungen mit Neigung zu Impulsdurchbrüchen. Im Gutachten ist die Rede davon, dass diese Impulsdurchbrüche zeitweise auch einen dissoziativen Charakter haben. Außerdem ist ein mentaler Entwicklungsrückstand in der Diagnose enthalten. Seit der Ausstellung des ersten psychiatrischen Gutachtens wird immer wieder ähnlich argumentiert: Frau S. habe eine instabile Persönlichkeit mit histrionischen Zügen und eine erhebliche Impulskontrollstörung,1 außerdem weise sie ein Intelligenzdefizit auf.

Interessant ist in diesem Zusammenhang vor allem, dass Mathilde S. bereits seit ihrem elften Lebensjahr therapeutisch behandelt wird und in zahlreichen Gutachten ähnliche Diagnosen gestellt wurden, ohne eine Verbesserung ihres Zustandes zu verzeichnen. Auffallend ist auch, dass seit ihrer Verurteilung im Jahr 2015 und dem daraus resultierenden Einzug in die Forensik – trotz der, laut den involvierten ProfessionistInnen, bestmöglichen therapeutischen und pharmakologischen Betreuung –, auch aus dem letzten gültigen Schreiben der zuständigen Sozialarbeiterin und dem Oberarzt hervorgeht, dass nur eine minimale Verbesserung erzielt werden konnte.

Zusätzlich hat mich beschäftigt, dass, so zeigen die Akten und die geführten Gespräche mit den seit Jahren betrauten ProfessionistInnen von Mathilde S., keine Berücksichtigung ihrer Ressourcen stattgefunden hat. Als Ressourcen führen die beteiligten ProfessionistInnen hauptsächlich Unterstützungsmaßnahmen durch die Psychiatrie an. Meiner Vermutung nach hat die reine Defizitorientierung das persönliche Potenzial der Klientin untergraben, was möglicherweise einen zusätzlichen Beitrag zu ihrer prekären Situation geleistet hat. Aus diesem Grund soll im Zuge der zukünftigen Betreuung an einer Bewusstseinsbildung bei der Klientin in Bezug auf ihre Ressourcen gearbeitet werden, auch wenn es in diesem Kontext eine besondere Herausforderung darstellt. Ich sehe es außerdem als notwendig an, einen ressourcenorientierten Blick bei den relevanten Personen ihres Netzwerks zu initiieren.

Aufgrund der schwierigen Lebenssituation von Mathilde S. seit mehr als einem Jahrzehnt und der Komplexität des Falls sollte mit analytischer Aufmerksamkeit gearbeitet werden (vgl. Urek 2012: 215). Geschieht dies nicht, kann es statt einer Stärkung der Klientin zu einem Entzug der Macht und Kontrolle kommen, wie bei näherer Betrachtung des Fallverlaufs von Mathilde S. deutlich wird. Die Darstellung der Klientin als Problem von Kleinkind an, hat meiner Einschätzung nach zu einem Verlust von Möglichkeiten geführt. Es kann davon ausgegangen werden, dass alternative Versionen der Geschichte den Verlauf in eine andere Richtung gelenkt hätten (vgl. ebd.: 213). Nachfolgend versuche ich andere mögliche Fallverläufe durchzudenken.


5. Mögliche andere Varianten des Fallverlauf

Kausal-Hypothesen sind keine universell gültigen Erklärungen. Sie sollen Unterstützung bieten, über den Tellerrand hinauszudenken und so im besten Fall neue Möglichkeiten der Problemlösung/Handlungsplanung zu erzielen. Durch die Hypothesen sollen diverse Informationen zum Fall in angemessener Art und Weise mit für den Fall relevanten Erklärungen verbunden werden. Die von Haye und Kleve (2002) angeführte Hypothesenbildung ist für die weitere Bearbeitung des Falls zentral. Ich habe drei Hypothesen erstellt, welche einen möglichen alternativen Fallverlauf beinhalten:

Das intensive Studium der Akten von Frau S. zeigte, dass sich die gestellten Diagnosen ähneln und dass alle Beteiligten vom „devianten“ Verhalten von Frau S. überfordert sind. Ein ständiger Wechsel ihrer Unterbringung und demzufolge ihrer Bezugspersonen ist ein wesentlicher Bestandteil ihrer Biografie – bis zu ihrer Deliktsetzung, woraufhin die Verlegung in eine Anstalt für geistig abnorme RechtsbrecherInnen erfolgte.

Mathilde S. kann als sogenannte Systemsprengerin betrachtet werden. Aus diesem Grund braucht sie adäquate Unterstützungsmaßnahmen, welche ihr tatsächlich behilflich sind, um ein Leben außerhalb einer forensischen Abteilung zu führen. Nach Matthias Rosemann und Michael Konrad (2017: 280), sind geschlossene Unterbringungen von SystemsprengerInnen oftmals „Resultate von Überforderung einzelner Einrichtungen oder Dienste“. Aus Sicht der Autoren sollten die einzelnen AkteurInnen gemeinsam Verantwortung tragen. Das Hauptaugenmerk sollte nicht auf die Zuständigkeiten gerichtet werden, wesentlich sei es, dem individuellen Unterstützungsbedarf eine zentrale Bedeutung beizumessen. Laut Karsten Giertz und Thomas Gervink (2017: 110) fallen SystemsprengerInnen

„neben Schwierigkeiten[,] sich in Gruppen einzuordnen, insbesondere durch Verhaltensweisen wie Impulsivität, Unfähigkeit zur Selbststeuerung, unzuverlässige Medikamenteneinnahme, Ablehnung der Medikamente, geringe Krankheitseinsicht, unkooperatives oder manipulatives Verhalten auf.“

Im Besonderen stellen impulsive, nicht krankheitseinsichtige PatientInnen eine Herausforderung für professionelle HelferInnen dar, woraus stationäre Einweisungen, häufiger Einrichtungswechsel oder Unterbringung in geschlossene Psychiatrien resultieren können.

In Bezug auf Mathilde S. ist das Gutachten einer Psychiatrie, welches auch eine Rolle im Zuge der Verurteilung spielte, aufschlussreich: Die zuständige Sachverständige führt zu Beginn des Gutachtens an, dass eine Verurteilung nach § 21 Abs 1 StGB2 aufgrund der Impulsdurchbrüche von Mathilde S. im Rahmen ihrer Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Typ notwendig sei, da sie jederzeit Grenzen überschreiten könnte. Laut Gutachten ist eine tatsächliche Hemmschwelle nicht mehr gegeben und daher besteht die Wahrscheinlichkeit neuerlicher Tathandlungen (gefährliche Drohungen auch mit dem Tod, Körperverletzung). Aufgrund ihrer Einschätzung empfiehlt die Sachverständige prinzipiell eine Maßnahme nach §21 Abs 1 StGB.

Die Gutachterin führt jedoch an, dass eine Unterbringung gemäß §21 Abs 1 StGB gerade bei jungen Erwachsenen, wie Frau Mathilde S., nicht unproblematisch sein kann. Die Psychiaterin spricht sich demzufolge für eine Substituierung im Rahmen einer therapeutisch, pädagogischen Wohnform mit 1:1 Betreuung aus. Dieser zentrale Hinweis findet im weiteren Fallverlauf keinerlei Beachtung mehr. Meiner Einschätzung nach, wurde eine unangemessene Unterbringung der Klientin veranlasst. Die Folgen einer solchen, meiner Ansicht nach falschen Unterbringung hebt auch die Volksanwaltschaft in dem nachfolgenden Zitat hervor:

„Der Entzug der persönlichen Freiheit, der so lange währt, wie das Gericht eine Gefährlichkeit ortet, die von dem Angehaltenen ausgeht, ist bereits für einen erwachsenen Menschen eine erhebliche psychische Belastung. Einem jungen Menschen nimmt eine derartige Entscheidung jede Perspektive.“ (Volksanwaltschaft 2017: 94)

Bei Mathilde S. ist genau die von der Volksanwaltschaft beschriebene Problematik durch die Unterbringung in der Forensik eingetreten: Mathilde S. wurde jegliche Perspektive genommen. Zusätzlich konnte und kann ihr dort, meiner Einschätzung nach, keine angemessene Betreuung geboten werden, welche ein Mensch in der Adoleszenz benötigt. Das aus meiner Sicht unangemessene Setting trägt dazu bei, dass sie ohne deutliche Besserung ihres Zustandes seit fünf Jahren dort verweilt – ohne Aussicht auf eine Veränderung zu ihren Gunsten.

Die Unterbringung in forensischen Abteilungen an psychiatrischen Kliniken hat sich laut der Volksanwaltschaft (2017) bislang als problematisch erwiesen, weil die jungen Menschen dort vielfach nicht ihren Bedürfnissen entsprechend sozialtherapeutisch versorgt werden. Weder können sie dort ihre Schulausbildung komplettieren noch eine Berufsausbildung absolvieren, Kontakte pflegen oder ihren Hobbys nachkommen. Vielfach werden sie auch mit den Erwachsenen gemeinsam untergebracht (vgl. ebd.: 94). Hinzu kommt der drückende Mangel an Kinder- und JugendpsychiaterInnen, deren fachliche Kompetenz bei der Begutachtung und Behandlung psychisch kranker Straffälliger besonders fehlt. Oft fehlt es auch an adäquaten Nachbetreuungseinrichtungen (vgl. ebd.: 95). Vielfach haben Jugendliche jahrelang in Heimen gelebt und sind dort straffällig geworden. Die Heimleitung will sie nicht wiedernehmen. Ohne betreuten Wohnplatz geben GutachterInnen in der Regel keine Entlassungsempfehlung ab, wodurch die Gerichte keine bedingte Entlassung aussprechen. De facto werden damit Jugendliche länger angehalten, als es das Gesetz vorsieht. Die angeführte Problematik zeigt sich auch im Fallverlauf von Mathilde S. Diesbezüglich bedarf es einer Reformierung im Umgang mit jungen Menschen im Maßnahmenvollzug. Dringend sollten für diese Gruppe adäquate Alternativen entwickelt und zur Verfügung gestellt werden.

Eine flexible und angebotsübergreifende Gestaltung der Betreuung kann vor allem eskalierenden Situationen entgegenwirken (vgl. Freyberger/Ulrich/Dudeck/Barnow/Kleinwort/Steinhart 2004). Ein flexibler Personalschlüssel oder eine zeitweise Übernahme durch andere MitarbeiterInnen der jeweiligen KlientInnen können eine adäquate Lösung darstellen. Die Implementierung von regelmäßigen Deeskalationsschulungen und Antiaggressionstrainings für MitarbeiterInnen sollte zusätzlich einen besseren Umgang mit den jeweiligen KlientInnen ermöglichen. Meiner Auffassung nach hätte ein professioneller angemessener Umgang mit Mathilde S. bereits im Setting der Wohngemeinschaften zu einer positiveren Entwicklung geführt und es wäre möglicherweise nicht zu einer Verurteilung nach § 21 Abs. 1 StGB gekommen. Dringend sollten jedenfalls Nachsorgeeinrichtungen für Jugendliche und junge Erwachsene ausgebaut werden, wie auch die Volksanwaltschaft fordert.

Während eines Gesprächs mit dem zuständigen Oberarzt, in dem ich meine Bedenken in Bezug auf die Unterbringung der Klientin äußerte und nach alternativen Möglichkeiten fragte, pflichtete er mir bei, dass diese Art der Unterbringung für eine junge Erwachsene nicht optimal sei. Derzeit gebe es nur keine besser geeigneten Alternativen für diese Patientin. Er führte ein paar Einrichtungen an, welche jedoch seinen Angaben zufolge eine gewisse Selbständigkeit voraussetzen. Aufgrund des infantilen Verhaltens der Klientin und ihren wiederkehrenden Trotzanfällen, die in einem falschen Setting auch zu Fremd- und Selbstgefährdung führen können, sei die Unterbringung in diesen Maßnahmen derzeit undenkbar. Es werde aber gemeinsam mit der Klientin auf einen Wechsel in eine für sie adäquate Maßnahme hingearbeitet. Dass das momentane Setting in der Forensik nicht optimal ist, um die gesetzten Ziele zu erreichen, steht für ihn außer Frage. Trotzdem ist der Oberarzt von der hohen Qualität der verschiedenen therapeutischen und sozialpädagogischen Maßnahmen überzeugt.

Auch ich stelle die Kompetenzen der professionellen HelferInnen der Forensik nicht in Frage. Doch ist dieser Hinweis für mich fehl am Platz, da es eindeutig nicht die Unterbringung ist, welche der jungen Frau seit fünf Jahren zusteht. Meiner Ansicht nach liegt diesbezüglich ein klarer Verstoß gegen diverse Artikel der UN-Behindertenrechtskonvention vor: Beispielsweise gegen Artikel 3, welcher unter anderem die volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft und Inklusion in die Gesellschaft beinhaltet; weiters Artikel 14 zur Freiheit und Sicherheit der Person, Punkt 2:

„Die Vertragsstaaten gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen, denen aufgrund eines Verfahrens ihre Freiheit entzogen wird, gleichberechtigt mit anderen Anspruch auf die in den internationalen Menschenrechtsnormen vorgesehenen Garantien haben und im Einklang mit den Zielen und Grundsätzen dieses Übereinkommens behandelt werden, einschließlich durch die Bereitstellung angemessener Vorkehrungen.“ (Sozialministeriumsservice 2016)

Im Zuge der intensiven Auseinandersetzung mit dem Fall Mathilde S. wurde meine Vermutung bestätigt, dass mein Auftrag, neben der medizinischen und finanziellen Vertretung ihrer Angelegenheiten, auch die Forcierung einer für Frau S. adäquaten Maßnahme beinhaltet.


6. Resümee

Für den Umgang mit dem beschriebenen Fall erscheint mir die Reflexion meiner eigenen Empfindungen, Handlungen und Entwicklungen, die sich im Verlauf ergeben haben, als fundamental. Im Zuge der Auseinandersetzung mit der Klientin, den Akten und fachspezifischer Literatur, wurde für mich die Relevanz für eine Auseinandersetzung mit zwei Thematiken besonders deutlich: Zum einen das Hinterfragen der getroffenen Maßnahmen, welche durch die Verurteilung vonstattengingen. Zum anderen, welche möglichen Alternativen es diesbezüglich gibt und wie eine neue Perspektive für die Klientin aussehen und in weiterer Folge geschaffen werden kann.

Durch die intensive Reflexion des Falls im Team, die Rückbesprechungen mit meiner Teamleiterin und das Zerlegen des Falls im Seminar „Case Studies“ mit meinen StudienkollegInnen und Herrn Dr. Gratz, der sich lange Zeit mit der Thematik des Maßnahmenvollzugs beschäftigt hat, konnte ich eine sinnvolle Herangehensweise entwickeln. Diese umfasst die Vernetzung mit der zuständigen Sozialarbeiterin (Austausch aufrecht), Gespräche mit dem Oberarzt (Austausch aufrecht), die Vernetzung mit der zuständigen Psychologin (Kontaktaufnahme nach Corona-Krise) und eine Recherche möglicher UdU- Einrichtungen.3

In Hinblick auf die angestrebte Veränderung der Unterbringung haben bereits erste Vorkehrungen stattgefunden. Die zuständige Sozialarbeiterin teilt die Einschätzungen des Oberarztes hinsichtlich Mathilde S.: Von dieser gehe keine Gefährdung aus, jedoch sei sie „infantil“ und unselbstständig, weshalb die derzeitige Unterbringung angemessen sei. Die Sozialarbeiterin begründet die Unterbringung mit fehlenden geeigneteren Maßnahmen, und dass der einzige Platz für sie sonst in einem PensionistInnenheim sei. Bedeutsam erscheint mir in diesem Zusammenhang, dass bei Frau S. keine falschen Hoffnungen in Bezug auf eine neue Maßnahme geweckt werden. Sie soll alle Informationen ohne Schönfärberei erhalten – jedoch an ihren Zustand und den starken Einfluss von Psychopharmaka angepasst. Zusätzlich sollte auch eine mögliche Veränderung in Bezug auf die medikamentöse Einstellung angeregt werden.

Eine Reformierung des Maßnahmenvollzug für Jugendliche und junge Erwachsene in Österreich sollte besser heute als morgen vonstattengehen, um weitere Fallverläufe wie den von Mathilde S. zu verhindern und um auch ihr eine adäquate Lösung anbieten zu können.


Verweise
1 „Die histrionische Persönlichkeitsstörung ist durch ein durchdringendes Muster der übermäßigen Emotionalität geprägt. Patienten mit histrionischer Persönlichkeitsstörung setzen ihre äußere Erscheinung in einer unangemessenen verführerischen oder provozierenden Art ein, um die Aufmerksamkeit der anderen zu gewinnen. Es fehlt ihnen ein Gefühl der Selbstbestimmung und sie sind sehr beeinflussbar, oft unterwürfig, um die Aufmerksamkeit der anderen zu erhalten.“ (Skodol 2018)
2 Dieser Paragraph regelt die Unterbringung von geistig abnormen Rechtsbrecher*innen.
3 Der Umgang mit Freiheit und die Erprobung der eigenständigen Lebensführung sind die zentralen Anliegen einer genehmigten Unterbrechung der Unterbringung (vgl. BMJ 2005: 10–11).


Literatur

Baumann, Menno (2014): Jugendliche Systemsprenger – zwischen Jugendhilfe und Justiz (und Psychiatrie). In: Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe, Heft 2/2014, S. 162–166.

BMJ – Bundesministerium für Justiz (2005): Behandlungs- und Nachsorgeeinrichtungen im österreichischen Straf- und Maßnahmenvollzug. Wien.

Freyberger, Harald J./Ulrich, Ines/Dudeck, Manuela/Barnow, Sven/Kleinwort, Kordula/Steinhart, Ingmar (2004): Woran scheitert die Integration in das psychiatrische Versorgungssystem? Qualitative Ergebnisse einer Untersuchung zur „Systemsprengerproblematik“ in Mecklenburg-Vorpommern. Manuskriptfassung für die Zeitschrift Sozialpsychiatrische Informationen. https://sozialpsychiatrie-mv.de/PDF/MPSystemsprengerPublikation2.pdf (25.05.2020).

Giertz, Karsten/Gervink, Thomas (2017): „Systemsprenger“ oder eher PatientInnen mit einem individuellen und komplexen Hilfebedarf? In: Psychotherapie Forum, 22, S. 105–112.

Haye, Britta/Kleve, Heiko (2002): Die sechs Schritte helfender Kommunikation. Eine Handreichung für die Praxis und Ausbildung Sozialer Arbeit. In: Sozialmagazin, Heft 12, S. 41–52.

Lecturio (2018): Dissoziative Störungen. Definition. 02.10.2020. https://www.lecturio.de/magazin/dissoziative-stoerungen/ (22.05.2020).

Pantuček, Peter (2019): Soziale Diagnostik. Verfahren für die Praxis Sozialer Arbeit. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Rosemann, Matthias/Konrad, Michael (2017): Selbstbestimmtes Wohnen. Mobile Unterstützung bei der Lebensführung. Köln: Psychiatrie Verlag.

Skodol, Andrew (2018): Histrionische Persönlichkeitsstörung (HPS). MSD Manual. Ausgabe für medizinisches Fachpersonal. Mai 2018. https://www.msdmanuals.com/de-de/profi/psychische-st%C3%B6rungen/pers%C3%B6nlichkeitsst%C3%B6rungen/histronische-pers%C3%B6nlichkeitsst%C3%B6rung-hps (25.05.2020).

Sozialministeriumsservice (2016): UN-Behindertenkonvention. Übereinkommen über Rechte von Menschen mit Behinderung und Fakultativprotokoll. https://broschuerenservice.sozialministerium.at/Home/Download?publicationId=19 (30.03.2020).

StGB – Strafgesetzbuch, §11 Zurechnungsfähigkeit. BGBl. Nr. 60/1974. https://www.ris.bka.gv.at/eli/bgbl/1974/60/P11/NOR12029552 (29.02.2021).

StGB – Strafgesetzbuch, §21 Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher. BGBl. Nr. 60/1974. https://www.ris.bka.gv.at/Dokument.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Dokumentnummer=NOR12029563 (29.02.2021).

Urek, Mojca (2012): Wie in der Sozialen Arbeit ein Fall gemacht wird. Die Konstruktion einer „schlechten Mutter“. In: Schimpf, Elke/Stehr, Johannes (Hg.): Kritisches Forschen in der Sozialen Arbeit. Gegenstandsbereich – Kontextbedingungen – Positionierungen – Perspektiven. Wiesbaden: Springer, S. 201–216.

Volksanwaltschaft (2017): Sonderbericht. Kinder und ihre Rechte. https://volksanwaltschaft.gv.at/downloads/evrov/Sonderbericht_Kinderrechte_2017.pdf (30.03.2020).


Über die Autorin


Janine Winter, BA
so191503@fhstp.ac.at

2019 Abschluss des Bachelorstudiums Soziale Arbeit an der FH St. Pölten, voraussichtlicher Masterabschluss Soziale Arbeit an der FH St. Pölten 2021.
Tätigkeiten: Sozialarbeiterin Suchtberatung Caritas, ehrenamtliche Erwachsenenvertreterin und Bewährungshelferin.