soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 25 (2021) / Rubrik „Rezensionen“ / Standort Wien
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/view/736/1356.pdf
268 Seiten / 46,25 Euro
Der sogenannte öffentliche Raum als Begegnungs-, Aufenthalts-, Rückzugs- und Entfaltungsort für marginalisierte und von sozialem Ausschluss bedrohte Menschen zeichnet sich hinsichtlich einschlägiger professioneller Tätigkeitsfelder Sozialer Arbeit vielfach durch Heterogenität aus: So reicht das Spektrum von der aufsuchenden Arbeit mit Obdachlosen oder anderen marginalisierten Gruppen über Gemeinwesenarbeit bis hin zu mobiler Jugendarbeit. Auch an Begriffen mangelt es nicht: Streetwork, aufsuchende Jugend- und Sozialarbeit, Gassenarbeit, mobile bzw. herausreichende Jugendarbeit seien mit Galuske (2007: 268) exemplarisch genannt.
Der vorliegende Sammelband Streetwork und Aufsuchende Soziale Arbeit im öffentlichen Raum spannt vor diesem Hintergrund gewissermaßen einen Bogen über diese methodischen Zugänge in der Sozialen Arbeit. In der Tradition der (inzwischen dreibändigen) Leitbegriffe der Sozialen Arbeit (vgl. z.B. Bakic/Diebäcker/Hammer 2008), vereint die Publikation jeweils von einschlägigen Begriffen der Fachdiskussion inspirierte Beiträge, die konzeptionelle und praktische Entwicklungen in diesem Handlungsfeld kritisch beleuchten. Der Grundtenor: Die Praxis von Streetwork und aufsuchender Arbeit ist dazu aufgerufen, die eigene Haltung und Praxis zu hinterfragen und damit einhergehend ihre handlungsleitenden Konzepte zu aktualisieren.
Dabei füllen die insgesamt 17 inhaltlichen Beiträge (von Autor*innen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz) zunächst einmal eine (theoretische) Lücke vor dem Hintergrund des verschiedentlich konstatierten Theoriedefizits aufsuchender Sozialer Arbeit (u.a. von Galuske 2007:275). Theoretiker*innen und Praktiker*innen geben Anstöße zu einer Reaktualisierung des Fachdiskurses rund um aufsuchende Handlungsfelder Sozialer Arbeit. So wird versucht, einen (gesellschaftstheoretischen) Bogen für die Diskussion handlungsfeldübergreifender Zugänge zu spannen (Kapitel 1), um diese u.a. an konkreten Settings (Beratung, Online-Streetwork, etc.) bzw. Fallbeispielen (Jugendarbeit, Suchthilfe, Gemeinwesenarbeit) zu illustrieren (Kapitel 2) sowie für die Weiterentwicklung fachlicher Perspektiven und Standards fruchtbar zu machen (Kapitel 3).
Der analytische Bezugsrahmen der einzelnen Beiträge: Maßgeblich für das, was in den verschiedenen Settings in der aufsuchenden Begegnung mit Adressat*innen mitschwingt und Widersprüche aufwirft, sind verschiedene (politökonomische) Transformationsprozesse des öffentlichen Raums, die es kritisch im Lichte der eigenen Fachlichkeit zu hinterfragen gilt. Denn auch aufsuchende Soziale Arbeit selbst, als „raumrelationale Praxis“ (S. 8) und „staatliche Regulierungspraxis“ (S. 13)“, ist seit geraumer Zeit diesen quantitativen und qualitativen Veränderungsprozessen (Gentrifizierung, Privatisierung, neue Ordnungspolitiken etc.) im urbanen Raum unterworfen. (vgl. S. 23ff).
Ganz im Sinne der Focaultschen Machtanalytik geht es den Herausgeber*innen primär darum, mit kritisch-analytischer Haltung die „strategische Einbindung Aufsuchender Sozialer Arbeit in ein staatliches Gesamtensemble“ (S. 16) in den Blick zu bekommen. Kurzum: Selbstreflexion und Politisch-Sein im Sinne der Einmischung in urbane Diskurse stellt ein unabdingbares Element kritischer (hier: aufsuchender) Sozialer Arbeit dar. Marc Diebäcker und Gabriele Wild belassen es jedoch nicht nur beim Lippenbekenntnis, sondern legen in ihrer Einleitung gleich fünf Reflexionsfiguren für Aufsuchende Soziale Arbeit als professionelle Praxis vor. Diese scheinen mir vor allem für Fortbildungs- und Intervisionszwecke von Jugend- und Sozialarbeiter*innen als besonders bereichernd.
Kapitel 1 skizziert die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, unter denen aufsuchende Praxis gegenwärtig stattfindet, und fordert der*dem geneigten Leser*in eine gewisse Grundkenntnis sozialwissenschaftlicher (kritischer) Theorie ab. Herausgeber Marc Diebäcker geht in seinem Beitrag insbesondere auf die oben angesprochene „Transformation von urbanen und öffentlichen Räumen“ (S. 27) ein, während Christian Reutlinger darauf hinweist, dass Soziale Arbeit aufgerufen ist, sich in verschiedenen Spannungsverhältnissen zu positionieren, weil sie eben selbst räumliche Ordnungen herstellt und mit beeinflusst: Beispielhaft seien hier Klient*innen vs. Ortsorientierung, Parteilichkeit vs. Allparteilichkeit sowie öffentliche Ordnung vs. soziale Sicherheit genannt (vgl. S. 48f). Spannungsverhältnisse solcherart bilden im Übrigen ein durchgängiges Motiv des Bandes und werden u.a. in den Beiträgen von Yann Arhant (Inklusion vs. Prävention), Manuela Hofer (Auftrag vs. Bedarf) oder Andreas Wyss (Bedürfnisorientierung und Akzeptanz im Spannungsfeld des doppelten resp. des dreifachen Mandats Sozialer Arbeit) aufgegriffen. Ellen Bareis schließlich erläutert in ihrem lesenswerten Beitrag, welche Rolle Soziale Arbeit an der lokalen Produktion des sogenannten „dritten Raums“ als neue Form der Repräsentation der „unsichtbaren Anderen“ spielen kann (S. 66f).
Berufspraktiker*innen werden vor allem im Kapitel 2 (Situationen, Settings und Interaktionen) auf ihre Rechnung kommen. Fragen des Kontaktaufbaus mit Adressat*innen (sh. den Beitrag von Caroline Haag), des spezifischen Beratungssettings in der aufsuchenden Arbeit (sh. den Beitrag von Gabriele Wild) finden ebenso Eingang wie eine kritische Reflexion der allparteilichen Haltung in der Gemeinwesenarbeit (sh. den Beitrag von Anna Fischlmayr). Einem Thema, das immer mehr Einzug in die Fachdiskussion hält, widmen sich Florian Neuburg, Stefan Kühne und Fabian Reicher: der aufsuchenden sozialen Arbeit in digitalen Räumen. Und wie sehr das tägliche professionelle Tun aufsuchender Arbeit mit aktuellen theoretischen Bezügen rund um soziale Ungleichheit, Ausgrenzung und Diskriminierung verwoben ist, zeigt nicht zuletzt dei Beitrag von Sabrina Luimpöck und Gabriele Wild auf.
Das dritte Kapitel (Handlungsleitende Konzepte und fachliche Standards) beinhaltet Diskussionsanstöße für eine Reaktualisierung fachlicher Konzepte. Die Beiträge präsentieren sich erneut als eine Art Reflexionsfolie, um bisher von der Praxis definierte Mindeststandards zu schärfen sowie einzelne Aspekte in die Diskussion aufzunehmen. Für Letzteres steht etwa Alexander Brunner der in seinem Artikel u.a. die provokante Frage aufwirft, inwieweit Professionist*innen in der aufsuchenden Arbeit mehr „erzieherisch“ tätig sind, als sie sich zumeist eingestehen möchten. Christoph Stoik wiederum setzt sich mit einer Reihe von Dilemmata auseinander, die durch das systematische Sammeln von Wissen im Zuge von Gesprächen und Beobachtungen durch Professionist*innen entstehen.
Madlen Gardow und Olivia Deobald setzen sich im Rahmen einer intersektionalen Herangehensweise mit der Frage auseinander, wie Geschlechtergerechtigkeit auf der Straße hergestellt werden kann. Dazu skizzieren sie konkrete Empowermentstrategien vor dem Hintergrund spezifischer Diskriminierungs- und Ausgrenzungsformen gegenüber Frauen*.
Aus Sicht (der Steuerungsebene) der offenen Jugendarbeit, gewähren Martina Gerngross und Manuel Fuchs interessante Einblicke für Fachkräfte und Entscheidungsträger*innen. Die eingangs erwähnte Heterogenität der Handlungsansätze, die aufgrund ihrer Kontextbezogenheit (politische Diskurse, gesetzliche Grundlagen, etc.) entsteht, wird am Beispiel aufsuchender Jugendarbeit im Zuge einer Systematisierung als Kontinuum entlang der beiden Pole Jugendförderung (herausreichende Jugendarbeit) sowie Jugendhilfe (Streetwork) skizziert. Zwischen diesen beiden Polen wird mobile Jugendarbeit verortet, in der es sowohl um Erlebnis- und Freizeitorientierung als auch um Alltags- und Lebensbewältigung geht.
Fazit
Das Buch kann insbesondere als Plädoyer für eine kritisch-reflexive Berufspraxis entsprechender Angebote der aufsuchenden sozialen Arbeit sowie deren verstärkte Einmischung in politische Diskurse gelesen werden.
Es lädt Studierende und Forschende dazu ein, in die (Lebens-)Welten aufsuchender Sozialer Arbeit und ihrer Adressat*innen einzutauchen, und bietet Praktiker*innen vielfältige Anhaltspunkte für eine weiterführende Auseinandersetzung mit fachlichen Herausforderungen. Insgesamt eine anspruchsvolle und äußerst lohnenswerte Lektüre, die eine Brückezwischen Theorie und Praxis baut und die in keiner Handbibliothek einschlägiger Organisationen fehlen sollte.
Literatur
Bakic, Josef/Diebäcker Marc/Hammer, Elisabeth (2008): Aktuelle Leitbegriffe der Sozialen Arbeit. Ein kritisches Handbuch. Band 1. Wien: Löcker Verlag.
Galuske, Michael (2007): Methoden der sozialen Arbeit. Eine Einführung. Weinheim: Juventa.