soziales_kapital
Anna-Lena Mädge, Sharon du Plessis-Schneider, Gloria Mittmann, Andrea Jesser
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Digitale Angebote für Jugendliche
als innovativer Ansatz zum Auau einer inklusiven Versorgungsstruktur in der Sozialen Arbeit?
” soziales_kapital, no.
26 (2022). Rubrik „Sozialarbeitswissenscha“. Graz. Printversion:
https://soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/
article/view/746/1397
_
Digitale Angebote für Jugendliche als
innovativer Ansatz zum Aufbau einer inklusiven
Versorgungsstruktur in der Sozialen Arbeit
Anna-Lena Mädge, Sharon du Plessis-Schneider, Gloria Mittmann, Andrea Jesser
Soziale Innovation
26. Ausgabe Juni 2022
Zusammenfassung
Der Beitrag untersucht die Unterstützungsbedarfe von Schüler_innen während der Schultransition in
Österreich und fragt nach Möglichkeiten zum Aufbau von inklusiven Unterstützungsangeboten. Um
diesbezüglich Erkenntnisse zu gewinnen, wurden zwei qualitative Datensätze analysiert: Einerseits ein
Datensatz aus 2018, in welchem die Transition von der Volks- in die Sekundarschule und damit verbundene
Herausforderungen mittels Interviews mit Schüler_innen und involvierten Erwachsenen untersucht wurden.
Andererseits ein Datensatz aus 2020, in dem Praktiker_innen über Veränderungen der psychosozialen
Unterstützungsangebote für Kinder und Familien während der Covid-19-Pandemie befragt wurden. Die
Betrachtung beider Studienergebnisse lässt Implikationen für eine verbesserte, inklusive und innovative
Versorgungsstruktur für Adressat_innen der Sozialen Arbeit zu.
Schlagworte:
Schultransition, Praxisinnovation, digitale Soziale Arbeit, Jugend, Lebenswelt
Abstract
This paper investigates the support needs of school students during school transition in Austria and aims
at exploring inclusive psychosocial support services. Two qualitative data sets were analyzed: A dataset
from 2018 examined the transition from primary to secondary school and the challenges associated with
the transition on the basis of interviews with pupils and adults involved in the transition. A dataset from
2020 focused on the changes in psychosocial support services for children and families during the Covid
19 pandemic by conducting interviews with social work practitioners. The ndings of both studies suggest
implications for an improved, inclusive and innovative support structure for social work clients.
Keywords:
school transition, practice innovation, digital social work, youth, lifeworld
1
Einleitung
Niederschwellige Unterstützungs- und Präventionsangebote für junge Menschen können dem Entstehen
gesundheitlicher Probleme, sowohl psychischer wie auch physischer Art, vorbeugen. Doch trotz stetiger
Bestrebungen, Angebote der Sozialen Arbeit auszuweiten, gibt es weiterhin Adressat_innen der Sozialen
Arbeit, die durch bestehende Angebote nicht erreicht werden. Aufgrund der Schulpicht kann davon
ausgegangen werden, dass niederschwellige Angebote im schulischen Kontext ein Setting darstellen, das
vielen Jugendlichen Zugang zu Unterstützung ermöglicht. Mit dem Ziel, ein Primärpräventionsangebot zur
Förderung des emotionalen und mentalen Wohlbendens von Schüler_innen während der Schultransition
zu entwickeln, das ihre soziale Verbundenheit mit der Peer Group stärkt (vgl. Schrank 2018: 46), führte
die Forschungsgruppe Die oene Tür (D.O.T.) im Jahr 2018 qualitative Interviews mit Personen, die in die
Schultransition involviert waren. In diesen Daten wurden sowohl herausfordernde Lebenssituationen, die zu
Problemlagen führen können, benannt wie auch der Wunsch nach Unterstützung in diesen Lebenssituationen
(vgl. Mädge/Jesser 2021: 25). Von der Forschungsgruppe wurde 2020 zudem eine qualitative Längsschnitt-
Studie durchgeführt, die sich mit der Versorgungssituation von Kindern, Jugendlichen und Familien durch
psychosoziale Unterstützungsangebote während der Corona-Pandemie auseinandersetzte (vgl. Jesser et
al. 2021).
Im Folgenden werden zunächst auf Basis der Daten von 2018 die Bedarfe für Unterstützung und
Lücken innerhalb des bestehenden Versorgungsangebots aufzeigt. Ausgehend davon werden die Ergebnisse
mit einer Analyse der Daten von 2020 verbunden, um innovative Arbeitsansätze, die den Aufbau inklusiver
Versorgungsstrukturen fördern könnten, zu identizieren. Besonders die in dieser Zeit gemachten Erfahrungen
mit digitalen Unterstützungsangeboten beinhalten Ansatzpunkte für eine inklusivere Versorgungsstruktur für
Schüler_innen während der Schultransition.
2
Die Schultransition als Herausforderung für Jugendliche
Um Erkenntnisse über das Erleben der Schultransition von der Volks- in die Sekundarschule zu gewinnen,
wurden 2018 qualitative Interviews mit Schüler_innen, die die Schultransition abgeschlossen hatten,
und Erwachsenen, die diesen Prozess begleiteten, geführt. Involviert waren neben Schüler_innen aller
weiterführenden Schulformen Lehrkräfte, Eltern, Psycholog_innen, Sozialarbeiter_innen und Mitarbeiter_
innen der schulischen Hortbetreuung. Ein besonderer Fokus der Untersuchung lag auf der Frage der
sozialen Verbundenheit junger Menschen, da davon ausgegangen wurde, dass die Einbettung in ein soziales
Netzwerk junge Menschen vor psychischen Problemen schützt und den Schulwechsel erleichtert.
Alle Teilnehmer_innengruppen benannten drei soziodemograsche Merkmale, die Auswirkungen auf
die soziale Verbundenheit mit der Peer Group haben sowie Einuss auf die Möglichkeiten zur Inanspruchnahme
von Unterstützungsangeboten in herausfordernden Lebenssituationen nehmen. Die drei Charakteristika
waren der Wohnort, ein etwaiger Migrationshintergrund der Jugendlichen und die nanziellen Ressourcen
der Familie. Von den Interviewpartner_innen wurden diese Merkmale wiederholt in engem Zusammenhang
mit einer Zuordnung zu einer sozialen Schicht benannt, welcher wiederum große Bedeutung für die Chancen
zur gesellschaftlichen Integration und Verbundenheit mit der Peer Group zugesprochen wurde. Zudem
wurden neun herausfordernde Lebenssituationen benannt, die Schüler_innen während der Schultransition
erlebten, welche als erschwerend für den schulischen Transitionsverlauf beschrieben wurden (siehe Kapitel
3). Sieben der benannten Situationen lassen sich dem familiären Kontext zuordnen, hinzu kommen Mobbing
innerhalb der Peer Group und Lernschwächen oder Behinderungen von Schüler_innen (vgl. Mädge/Jesser
2021: 21–22).
Die Transition von der Volksschule in die Sekundarschule ndet in Österreich im Alter der
beginnenden Adoleszenz (Vorpubertät) zwischen zehn und zwölf Jahren statt (vgl. Cizek/Kapella/Steck
2005: 4). In dieser Zeit beginnen komplexe Prozesse der körperlichen Entwicklung, wie die Ausbildung
erster Geschlechtsmerkmale, parallel zur Persönlichkeitsentwicklung, welche durch soziale und kulturelle
Einüsse geprägt wird. Beziehungen zu Gleichaltrigen haben in dieser Zeit eine besondere Bedeutung
für das emotionale Wohlbenden und die Identitätsentwicklung, da sie eine Loslösung von den Eltern
ermöglichen. Peer-Beziehungen sind dementsprechend eine wichtige Ressource zur Bewältigung von
lebensphasenspezischen Herausforderungen. Gleichzeitig ist die Zugehörigkeit zu einer Peer-Group
oftmals mit einem Konformitätsdruck innerhalb der Gruppe verbunden (vgl. Berndt 1979: 608; Cizek et al.
2005: 19).
Während dieser Entwicklungsprozesse wechseln die Schüler_innen in ein neues Schulsystem, das
andere Strukturen und Routinen aufweist als das bisherige vertraute schulische Setting (vgl. Lester/Cross
2015: 2). Darüber hinaus müssen sich die jungen Menschen in eine neue Klassengemeinschaft integrieren.
Abhängig vom subjektiven Belastungserleben der Jugendlichen können die multiplen Herausforderungen, mit
denen Schüler_innen während der Schultransition konfrontiert sind, zu einem erhöhten Unterstützungsbedarf
führen. Entsprechende Angebote der Sozialen Arbeit können negativen Langzeitfolgen, wie geringerem
akademischen Erfolg oder dem Entstehen psychischer Erkrankungen (vgl. Lester/Cross 2015: 11)
entgegenwirken. Von besonderer Relevanz sind dabei psychosoziale Unterstützungsangebote, die
niederschwelligen Zugang ermöglichen (beispielsweise oene Sprechstunden ohne Voranmeldung). Durch
Pandemie-bedingte Kontaktbeschränkungen mussten diese Angebote jedoch adaptiert werden, um mit den
Adressat_innen im Kontakt zu bleiben.
3
Veränderungen psychosozialer Unterstützungsangebote während
Covid 19
Die Daten der Erhebung zur Schultransition unterstreichen den Unterstützungsbedarf von Schüler_innen
sowie die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit der Gestaltung zielgruppenorientierter Angebote, im
Sinne einer Orientierung an der Lebenswelt der Adressat_innen der Sozialen Arbeit (vgl. Galuske/Thole 1999:
199). Mit Einführung der gesetzlichen Schutz- und Hygienemaßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-
Pandemie befanden sich die Angebote der Sozialen Arbeit in einem plötzlichen Umbruch. Angebote, die bisher
in direktem Kontakt mit den Adressat_innen durchgeführt wurden, mussten adaptiert werden (vgl. Banks et
al. 2020: 570). Um diese Veränderungen der Angebote festzuhalten und die daraus folgenden Auswirkungen
auf die Inanspruchnahme von Unterstützungsangeboten zu evaluieren, wurden von Mai bis Oktober 2020
zu drei Erhebungszeitpunkten Interviews mit Praktiker_innen aus der psychosozialen Versorgung für Kinder,
Jugendliche und Familien in Wien und Niederösterreich geführt.
1
Die Ergebnisse zeigen zum einen, dass der
Zugang zu Unterstützung höherschwelliger wurde, was besonders bisher niederschwellige und anonyme
Angebote der Sozialen Arbeit betraf. Beispielsweise mussten sich Jugendliche während der Pandemie
für Angebote anmelden und registrieren, um Zugang zu erhalten. Zum anderen ermöglichten es neue
Finanzierungen und Lockerungen der Datenschutz-Grundverordnung der Europäischen Union (DSGVO),
während der Lockdowns remote Angebote zu gestalten, wodurch in Österreich erstmals umfangreiche
Erfahrungen mit digitalen Angeboten in der Jugendarbeit gemacht werden konnten (vgl. Zinkel-Camp
2020: 103–104). Diese Neuorganisation der Struktur der und des Zugangs zu Unterstützung (vgl. Buschle/
Meyer 2020: 164–165) ermöglicht Rückschlüsse auf die Chancen digitaler Angebote Sozialer Arbeit zur
Überwindung von bestehenden Zugangsbarrieren für junge Menschen mit Unterstützungsbedarf.
4
Sample
Die nachfolgend dargestellten Ergebnisse basieren auf der Analyse von 16 qualitativen Interviews mit
Schüler_innen der Sekundarstufe aus verschiedenen Schulformen in Niederösterreich, die im Jahr 2018
geführt wurden, sowie 31 Interviews mit Psycholog_innen, Sozialarbeiter_innen, Pädagog_innen, Eltern und
in der schulischen Nachmittagsbetreuung tätigen Personen, die in den Prozess der Schultransition involviert
waren. Begleitend wurden qualitative Interviews aus dem Jahr 2020 einbezogen, die mit 30 Fachkräften
geführt wurden, welche in Wien und Niederösterreich in psychosozialen Unterstützungsangeboten für Kinder,
Jugendliche und Familien tätig waren. Die Fachkräfte wurden zu drei Erhebungszeitpunkten zwischen April
und Oktober 2020 befragt, wodurch insgesamt 88 Interviews in die Analyse einbezogen werden konnten.
Tabelle 1: Schultransition teilnehmende Schüler_innen, Erhebungszeitpunkt 2018 (eigene Darstellung).
Tabelle 2: In die Schultransition involvierte Personengruppen, Erhebungszeitpunkt 2018 (eigene Darstellung).
Tabelle 3: Fachkräfte aus psychosozialen Unterstützungsangeboten, Erhebungszeitpunkt
2020 (eigene Darstellung).
5
Ergebnisdarstellung: Ausgangssituation vor der Pandemie
Das Ziel der Analyse der Daten aus dem Jahr 2018 war es, Herausforderungen für Schüler_innen während der
Schultransition zu identizieren und Erkenntnisse über die Inanspruchnahme von und Zugangsmöglichkeiten
zu Unterstützungsangeboten zu gewinnen. Die Ergebnisse der qualitativen Studie, deren Daten mittels semi-
strukturierter Interviewleitfäden erhoben wurden,
2
zeigen, dass die Schultransition der Schüler_innen von
herausfordernden Lebensbedingungen begleitet werden kann. Benannt wurden: (1) Mobbing, (2) Trennung
der Eltern, (3) Versorgung und Pege von Familienmitgliedern, (4) fehlende familiäre Unterstützung, (5)
Suchterkrankungen von Familienmitgliedern, (6) psychische Gewalt in der Familie, (7) Lernschwächen und
Behinderungen von Schüler_innen, (8) Todesfälle in der Familie sowie (9) psychische Erkrankungen von
Familienmitgliedern. Der Wunsch nach Unterstützung, bezogen auf die Auswirkungen der belastenden
Lebenssituationen für die Schultransition, wurde von allen teilnehmenden Gruppen geäußert. Oftmals waren
diese Äußerungen verbunden mit Konkretisierungen der gewünschten Unterstützung. Lehrkräfte benannten
als gewünschte oder benötigte Unterstützung der Schultransition:
•
Geschulte Personen oder Teams, die bei verschiedenen schulischen und/oder
familiären Problemsituationen zeitnah als Ansprechpartner_innen für Lehrkräfte,
Eltern und Schüler_innen verfügbar sind.
•
Ausreichende zeitliche Ressourcen für das Soziale Lernen.
•
Mehr Austausch zwischen den Schulen (der Primar- und Sekundarstufe),
beispielsweise Besuche (mit den Schüler_innen) zwischen den Schulen.
•
Unterstützungsangebote, die früh ansetzen und über das schulische Setting hinaus
begleiten können (Begleitung von Transitionen sowie Angebote in Schule und
Familie).
•
Ein Buddy-System in der Schule, bei dem Schüler_innen aus höheren Jahrgängen
als Mentor_innen für die Erstklässler_innen eingebunden werden.
Schüler_innen waren weniger konkret und benannten die Wünsche
•
nach mehr Möglichkeiten, um einfach mit Mitschüler_innen reden zu können;
•
nach Unterstützung durch ihre Familien;
•
angenommen und akzeptiert zu werden;
•
Schule als neutralen Raum erleben zu dürfen, in dem sie vorrangig als Schüler_in
gesehen werden und wo familiäre Probleme nicht in der Klasse thematisiert werden;
•
nach Ansprechpersonen, die man jederzeit kontaktieren kann, wenn es einem
schlecht geht.
Für das Thematisieren von Problemen wurden sowohl ein Austausch in kleinen Gruppen als auch
Einzelgespräche gewünscht und als angenehm eingestuft. Deutlich wurde, dass Schüler_innen sich durchaus
Unterstützung wünschen, aber Problemlagen vorrangig außerhalb der Klassengemeinschaft besprechen
möchten. Dies kann in Verbindung stehen mit Angst vor Stigmatisierung und/oder Exklusionserfahrungen
und damit einhergehend mit verminderter sozialer Akzeptanz im schulischen Kontext. Erschwerend für die
Schultransition und das Gefühl der sozialen Verbundenheit erlebten die Befragten insbesondere folgende
soziodemograsche Charakteristika:
(1) Finanzielle Ressourcen der Familie
Geringe nanzielle Ressourcen können durch Kleidung und materielle Ausstattung
der Schüler_innen schnell oensichtlich für das Umfeld werden. Ebenso wirken sie
sich auf die Möglichkeiten zur Teilnahme an schulischen Veranstaltungen und
Klassenreisen sowie zur Inanspruchnahme kostenpichtiger Unterstützungsangebote,
wie Nachhilfe oder schulische Nachmittagsbetreuung, aus. Familien, denen
ausreichende nanzielle Ressourcen zugesprochen wurden, wurde ebenso
zugesprochen, stabilere soziale Beziehungen aufzubauen als Familien mit geringeren
Ressourcen. Schüler_innen aus besser situierten Familien scheinen mehr Akzeptanz
in der Gruppe zu erfahren und häuger von Mitschüler_innen besucht zu werden.
(2) Wohnort und Wohnsituation
Die Interviewpartner_innen gaben an, dass es im ruralen Raum stärkere soziale
Bindungen, aber ebenso verstärkte Exklusionsprozesse gegenüber Personen gebe,
die nicht bestimmten gesellschaftlichen Normen entsprechen, z.B. gegenüber
Alleinerzieher_innen oder Familien, in denen psychische Erkrankungen vorkommen.
Freundschaften junger Menschen entstünden im ländlichen Raum insbesondere
durch enge Kontakte zwischen den Herkunftsfamilien. Als nachteilig wurden die
fehlende Infrastruktur und der damit verbundene erschwerte Zugang zu
Unterstützungsangeboten benannt. Im urbanen Raum hingegen solle es leichter sein,
unterstützende Angebote aufzusuchen wie auch Freundschaften aus dem alten
Klassenverband aufrecht zu erhalten, da aufgrund geringer Distanzen mehr
Möglichkeiten bestehen, sich in der Freizeit zu treen, auch wenn unterschiedliche
Schulen besucht werden.
(3) Migrationshintergrund
Interviewpartner_innen thematisierten häug, dass Schüler_innen mit einem
Migrationshintergrund aufgrund gesellschaftlich verbreiteter Vorurteile weniger
soziale Unterstützung erfahren würden. Befragte Schüler_innen äußerten
Verallgemeinerungen wie beispielsweise, dass alle Flüchtlinge gefährlich wären. Als
Hemmnis wurden außerdem geringe Deutschkenntnisse der Eltern benannt, die es
erschweren würden, dass Schüler_innen etwa bei schulischen Aufgaben oder beim
Aufbau von Freundschaften durch die Eltern unterstützt werden.
Die dargestellten herausfordernden Lebensbedingungen und soziodemograschen Merkmale scheinen
zudem Einuss auf die soziale Zuordnung einer Familie in eine gesellschaftliche Schicht zu nehmen. In
den Interviews wurden „bessere“ und „schlechtere“ gesellschaftliche Schichten benannt, ohne diese
Zuschreibungen genau zu denieren. Deutlich wurde, dass Schüler_innen diese Zuschreibungen wahrnehmen
und sich mit diesen identizieren: „Weil ich aus einer Randgruppe der Gesellschaft komme, möchte ich
einfach nur dazugehören, und das ist ein sehr wichtiger Faktor. Es beeinusst, aus welcher sozialen Schicht
du kommst.“ (Int_19 – Schüler_in: Erhebungszeitpunkt 2018) Ebenso wirken sich diese Zuschreibungen auf
das soziale Umfeld und die Chancen zur Integration in die Peer Group aus, wie das Zitat einer Lehrkraft
verdeutlicht: „Weil der Schüler aus einer anderen sozialen Schicht kam, gelang es ihm nicht, sich in die
Klassengemeinschaft zu integrieren. Das sagte auch seine Mutter.“ (Int_18 – Lehrkraft: Erhebungszeitpunkt
2018)
Die Schultransition wie auch die Integration in eine neue Klassengemeinschaft wurden grundsätzlich
als Herausforderungen beschrieben, die sich durch bereits bestehende Problemlagen verschärfen können.
In diesem Kontext wurde der Wunsch nach Unterstützung und die Bereitschaft, diese anzunehmen, von
allen teilnehmenden Gruppen geäußert. Hemmend wirken sich auf die Inanspruchnahme jedoch bestehende
Barrieren aus, etwa nicht-zielgruppenorientierte Settings oder lange Wartezeiten bei akutem Bedarf.
Lehrkräfte würden gerne mehr Unterstützung anbieten, ihnen fehlen jedoch die (zeitlichen) Ressourcen
dafür.
6
Sample Ergebnisdarstellung: Digitale Angebote zur Überwindung von
Zugangsbarrieren
Bedingt durch die gesetzlichen Schutz- und Hygienemaßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-
Pandemie geriet die psychosoziale Versorgung von Kindern und Familien in eine Umbruchsituation, die
eine Neustrukturierung der bisherigen Angebote erforderte. In den 2020 durchgeführten Interviews mit
30 Praktiker_innen, die im Raum Wien und Niederösterreich tätig waren, wurde deutlich, dass besonders
ambulante Angebote verstärkt digitale Plattformen, Messenger-Dienste und Videotelefonie nutzten, um
Klient_innen weiterhin Unterstützung anbieten zu können. Die Durchführung digitaler Angebote war vor der
Pandemie innerhalb der psychosozialen Versorgung unüblich und wurde zumeist nicht durch Kostenträger
renanziert. Der plötzliche Einsatz dieser Angebote verdeutlichte das Fehlen von passenden Strukturen für
digitale Angebote in der psychosozialen Versorgung von Kindern und Familien. Als fehlend wurden benannt:
•
Fortbildungen und Trainings für den Einsatz digitaler Angebote;
•
Hardware (Tablets, Smartphones etc.);
•
Renanzierungsmodelle für digitale Unterstützungsangebote durch Kostenträger der
Sozialen Arbeit;
•
Software (DSGVO-konform und an den Bedarfen Sozialer Arbeit orientiert);
•
Positionierung der Profession und der Arbeitgeberorganisation_ zum Einsatz digitaler
Tools.
Trotz dieser Vorbehalte wurde die Entscheidung, Unterstützung über digitale Tools anzubieten, durchgehend
vor dem Hintergrund getroen, den Adressat_innen besonders in der Pandemie Kontaktmöglichkeiten und
Unterstützung anbieten zu können. Die Belastungen durch die Pandemie und die Bedeutung professioneller
Unterstützung für die Adressat_innen wurden dabei klar benannt (vgl. Jesser et al. 2021: 5). Die Erfahrungen
mit digitalen Angeboten gestalteten sich divers. Ihre Inanspruchnahme war abhängig von der Zielgruppe
sowie den persönlichen Präferenzen der Adressat_innen, die teilweise digitale Austauschmöglichkeiten
ablehnten. Als geeignet wurden die Angebote von den Praktiker_innen bezeichnet für:
•
Personen mit geringen nanziellen Ressourcen, da keine zusätzlichen Kosten z.B.
für die Anreise entstanden;
•
Jugendliche und Erwachsene (für Kinder wurden digitale Angebote oftmals als
ungeeignet erlebt);
•
Personen mit sozialen Ängsten oder autistischen Zügen;
•
Familien, die terminliche Verpichtungen mit Anreise als belastend erleben.
Besonders in der ersten Phase der Pandemie (zwischen Mai und Juni 2020) bestand im Vergleich zur
Inanspruchnahme von persönlichen Treen vor Pandemiebeginn eine erhöhte Auslastung der digitalen
Unterstützungsangebote, da mehr Termine gewünscht wurden. Möglich wurde dies durch eine leichtere
Erreichbarkeit der Sozialarbeiter_innen über verschiedene remote Kanäle und veränderte Begleitmodalitäten.
Fanden beispielsweise mehrere, aber kurze Kontakte via Videotelefonie statt, ermöglichte dies einen engeren
Kontakt, als durch persönliche Treen umsetzbar gewesen wäre. Zielgruppen, die bisher als unzuverlässig
in der Wahrnehmung der Termine erlebt wurden, waren häug verbindlicher bei Terminen im digitalen Raum.
Zudem wurde es möglich, Adressat_innen anzurufen, wenn diese nicht pünktlich online waren, woraufhin
sich die Adressat_innen zeitnah einloggten, während ein persönliches Treen abgesagt worden wäre.
Ebenso konnten Jugendliche, die auf Unterstützung bei der Anfahrt angewiesen sind, digitale Termine auch
dann wahrnehmen, wenn die Eltern beispielsweise erkrankt waren. Diese niederschwelligen Zugänge, die
einen durchgängigen Kontakt zu Unterstützung ermöglichten und zeitnah verfügbar waren, bezeichneten
die Adressat_innen gegenüber den Fachkräften als sehr positiv. Einige Adressat_innen wurden in den
Gesprächen per Videotelefonie deutlich oener gegenüber den Fachkräften und sprachen über persönliche
Themen, die sie bisher eher verschwiegen hatten. Die physische Distanz schien für diese Personen eine
Erleichterung zu sein und eine oenere Kommunikation zu ermöglichen.
Die Fachkräfte benannten besonders bei größeren Organisationen als sehr positiv, dass es möglich
wurde, überregional und bedarfsorientiert zu arbeiten. Aufgrund fehlender Anfahrtswege konnten Kolleg_
innen aus weit entfernten Teams in Regionen tätig werden, in denen es verstärkt zu Anfragen kam, die das
örtliche Team nicht abdecken konnte. Versorgungslücken konnten hierdurch zeitnah aufgefangen werden
und eine Verschärfung der Problemlagen aufgrund fehlender personeller Ressourcen verhindert werden.
Ebenso wurden Teilnahmen an bisher regionalen Gruppenangeboten für Personen aus anderen Regionen
möglich, wodurch zwischen Teilnehmer_innen, die sich sonst nie begegnet wären, neue soziale Kontakte
entstehen konnten.
7
Diskussion
Die Analyse der 2018 erhobenen Daten zeigt, dass ein breiteres Spektrum an Unterstützungsangeboten
erforderlich ist, um alle Schüler_innen mit Unterstützungsbedarf zu erreichen. Soziodemograsche
Merkmale scheinen eine Schlüsselrolle für den Zugang zu Unterstützungsleistungen zu spielen, ebenso wie
für die Notwendigkeit von Unterstützung. Daher sollte der Fokus eines inklusiven Versorgungssystems auf
der Entwicklung von leicht zugänglichen Unterstützungsangeboten für Adressat_innen unterschiedlicher
sozialer und kultureller Herkunft liegen.
Ausgangspunkt unserer Betrachtung ist, dass alle Menschen in der Gesellschaft das gleiche Recht
auf und den gleichen Zugang zu Unterstützung haben sollten. Wenn Schüler_innen soziale Strukturen
erleben, die ihren Zugang zu Ressourcen und damit die Voraussetzung für die Erfüllung ihrer biopsychischen
und sozialen Bedürfnisse behindern, ist dies eine problematische Entwicklung, die zu sozialen Problemen
führen kann. In diesem Sinne sind soziale Probleme praktische Probleme von sozialen Akteur_innen, die
einen Mangel an zufriedenstellender Einbettung in die soziale Struktur von Systemen und Subsystemen
signalisieren (vgl. Obrecht 2005: 108–113).
Wenn wir Schüler_innen im Übergang von der Volksschule zur Sekundarschule als Zielgruppe
betrachten, ist es entscheidend, dass die sozialen Systeme, in denen sie eingebunden sind, in die Konzeption
von Angeboten einbezogen werden (vgl. Du Plessis-Schneider 2022). Der digitale Raum ist inzwischen Teil
der Lebenswelt von Schüler_innen (vgl. Gingl/Stifter 2021: 38). Die Kommunikationsmöglichkeiten, sowohl
über Messenger-Dienste wie auch innerhalb von Onlinespielen, unterstützen den Aufbau von Freundschaften
sowie die soziale Verbundenheit mit der Peer Group und tragen durch den Austausch zu einer Bewältigung
von Problemen bei (vgl. Mittmann et al. 2021: 4). Des Weiteren können professionelle Angebote der
Sozialen Arbeit in digitalen Settings Zugangsbarrieren zu Unterstützungsangeboten mindern. Durch ihre
Orientierung an der Lebenswelt und dem Bedarf der Zielgruppe können sie einen niederschwelligen Zugang
zu Unterstützung bieten, der bei Bedarf Überleitungen zu anderen Angeboten ermöglicht (vgl. Mädge et
al. 2020: 5). Dies korrespondiert mit dem Auftrag der Sozialen Arbeit, gleiche Zugangsmöglichkeiten zu
Ressourcen für alle gesellschaftlichen Gruppen zu schaen, um sicherzustellen, dass alle Mitglieder unserer
Gesellschaft, die ihre Bedürfnisse nicht mit den eigenen Ressourcen und Bestrebungen erfüllen können,
durch Angebote der Sozialen Arbeit unterstützt werden (vgl. Staub-Bernasconi 2018: 232–240).
Die dargestellten Ergebnisse verdeutlichen relevante positive Aspekte von digitalen Interventionen in
der Sozialen Arbeit, anhand derer deutlich wird, dass digitale Angebote eine Möglichkeit zur Verringerung
von Zugangsbarrieren darstellen können. Demgegenüber stehen aber auch Schwierigkeiten in der
Durchführung digitaler Angebote, die besonders ein geeignetes Setting betreen. Beispielsweise fehlende
Privatsphäre der Adressat_innen aufgrund der Anwesenheit von Familienmitgliedern oder technische
Schwierigkeiten bei der Nutzung digitaler Angebote (vgl. Bank et al. 2020: 572). Ob digitale Angebote für
den Aufbau einer inklusiveren Angebotsstruktur für Schüler_innen zielführend sein können, lässt sich daher
nicht verallgemeinernd beantworten. Dies hängt sowohl von den verschiedenen Angeboten Sozialer Arbeit
wie auch ihren Adressat_innen ab.
Erste Positionspapiere und Erfahrungsberichte wurden während der Pandemie beispielsweise vom
Österreichischen Berufsverband der Sozialen Arbeit (OBDS) und der International Federation of Social
Workers (IFSW) publiziert, diese sollten als Beginn der Auseinandersetzung der Profession mit der Thematik
betrachtet werden. Besonders bedeutsam sind fachlich fundierte Fort- und Weiterbildungen für das digitale
Setting (vgl. Kühne/Hintenberger 2020: 34), um weiterhin Soziale Arbeit auf adäquatem Niveau anbieten
zu können. Asynchrone Kommunikationsangebote, durch die sowohl zeitnahes wie auch verzögertes
Antworten auf Nachrichten ermöglicht wird, können eine Alternative darstellen, die von jungen Menschen gut
angenommen werden kann (vgl. Mädge et al. 2020: 5; Mittmann et al. 2021: 3–4). Es ist Aufgabe der Sozialen
Arbeit, den Diskurs über digitale Angebote aktiv zu gestalten, um professionelle Standards herzustellen und
bedarfsgerechte, zielgruppenorientierte und lebensweltnahe Angebote zu sichern.
8
Fazit
Schüler_innen als Adressat_innen der Sozialen Arbeit und ihre Lebenswelten sind divers. Somit bedarf
es unterschiedlicher Zugangsmöglichkeiten zu psychosozialer Unterstützung, um möglichst viele junge
Menschen zu erreichen. Digitale Angebote können zum Abbau von Zugangsbarrieren beitragen und
scheinen, da sie besonders für junge Menschen ansprechend sind, neue Zugangswege für Adressat_innen
zu erönen, um die von Veränderungen geprägte Phase der Schultransition zu unterstützen.
Sind digitale Angebote die Lösung für Zugangsbarrieren von Schüler_innen zu den Angeboten der
Sozialen Arbeit? Als Profession und wissenschaftliche Disziplin (vgl. AvenirSocial 2015: 2) ist die Soziale
Arbeit zur kontinuierlichen Überprüfung und Anpassung von Unterstützungsleistungen verpichtet. Eine
solche Anpassung kann beispielsweise bedeuten, Trainings für die digitale Praxis in Bachelor- sowie
Masterstudiengängen der Sozialen Arbeit weiterzuentwickeln bzw. zu implementieren, um einen Beitrag
zur Etablierung nachhaltiger sozialer Unterstützungsangebote im digitalen Zeitalter zu leisten (vgl. Zorn/
Seelmeyer 2015: 7–8). Diese Erweiterung der Handlungskompetenzen von Sozialarbeiter_innen kann
dazu beitragen, uns dem Kernziel der Sozialen Arbeit näherzubringen: der Lösung sozialer Probleme (vgl.
Staub-Bernasconi 2018: 196). Eine Orientierung an der digitalen Lebenswelt der Adressat_innen Sozialer
Arbeit kann zielführend sein, jedoch sind die Strukturen für den Einsatz digitaler Unterstützungsangebote
ausbaubedürftig und es Bedarf an Fortbildungen für Praktiker_innen (vgl. Gingl/Stifter 2021: 44).
Verweise
1
Die Studie wurde in Kooperation mit der Österreichischen Liga für Kinder- und Jugendgesundheit durchgeführt. Für die Förderung danken wir dem
Open Innovation in Science (OIS) Enrichment Fond der Ludwig Boltzmann Gesellschaft.
2
Der Leitfaden für Schüler_innen umfasste die Themenbereiche (1) Wohn- und Lebenssituation, (2) soziale Beziehungen, (3) Beziehungen und
Freundschaften zu Gleichaltrigen, (4) die Schultransition und (5) Mediennutzung. Der Leitfaden für die erwachsenen Teilnehmer_innen umfasste die
Themenbereiche (1) Setting, in dem Schüler_innen begegnet wird (Beschreibung des Arbeitskontextes oder der Familie), (2) Beobachtungen über
Freundschaften zwischen Gleichaltrigen (individuelle Eigenschaften und Verhalten), (3) Schulwechsel und (4) Mediennutzung.
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Über die Autorinnen
Anna-Lena Mädge, MA
anna.maedge@kl.ac.at
Ist als Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin als Fachkraft in der psychosozialen Versorgung von Erwachsenen
im teilstationären und ambulanten Setting tätig. Begleitend arbeitet sie für die Forschungsprojekte D.O.T.
sowie open2chat und fördert mit ihrer Arbeit die Vernetzung von Wissenschaft und Praxis, besonders in
Feldern der Sozialen Arbeit.
Sharon du Plessis-Schneider MSW, DSA
sharon.duplessis-schneider@fhv.at
Hochschuldozentin an der Fachhochschule Vorarlberg. Stellvertretende Vorsitzende des Vorarlberger
Monitoringausschuss für Menschen mit Behinderungen. Schwerpunkte in der Lehre: Menschenrechte, Ethik
und Sozialpolitik, Sozialarbeitswissenschaft, Internationale Soziale Arbeit. Forschungsschwerpunkte sind
unter anderem: Bedürfnistheorien und ihre Anwendung, Schulsozialarbeit und Kinderrechte.
Gloria Mittmann, MSc
gloria.mittmann@kl.ac.at
Ist Psychologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Forschungsgruppe D.O.T. Ihre Forschungsinteressen
liegen in der Sozialpsychologie vor allem mit Jugendlichen. Ihre Schwerpunkte dabei sind Digitalisierung
und neue Medien wie Videospiele.
MMag. Dr. Andrea Christine Jesser
andrea.jesser@donau-uni.ac.at
Ist Soziologin und Psychotherapeutin und forscht aktuell zum Thema Kinder- und Jugendgesundheit sowie
im Bereich der Psychotherapiewissenschaften an der Universität für Weiterbildung (Donau-Universität)
Krems.