soziales_kapital
Sophie Mayer.
“
Fernseh-Vorführungen der Armut. Die Würde des Menschen ist… leistungsabhängig?
” soziales_kapital,
no. 26 (2022). Rubrik „ema“. Salzburg. Printversion:
https://soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/
view/748/1385
_
Soziale Innovation
26. Ausgabe Juni 2022
Zusammenfassung
Arm, bildungsfern und demotiviert: Dieses Bild vermitteln aktuelle Darstellungen von Armutsbetroenen
in Wohlstandsländern häug. Wie wird Armut im österreichischen Fernsehen dargestellt? In welchem
Zusammenhang stehen mediale Inszenierungen, öentliche Wahrnehmungen und die Handlungsbereitschaft
gegenüber benachteiligenden Phänomenen wie Armut? Diese Fragestellungen werden im folgenden Beitrag
thematisiert. Der Artikel stellt eine Zusammenfassung der zentralen Erkenntnisse meiner Masterarbeit dar,
die unter der Betreuung von FH-Prof. Mag. Dr. Markus Pausch im Studiengang Soziale Innovation der
FH Salzburg entstanden ist. Im folgenden Beitrag wird zunächst ein Überblick über Armut in Österreich
sowie damit einhergehende Benachteiligungen gegeben. Darüber hinaus wird auf Wirkungen der
Massenmedien eingegangen, wobei insbesondere das Framing angesprochen wird. Schließlich werden
zentrale Forschungsergebnisse hinsichtlich der Repräsentationen von Armut im österreichischen Fernsehen
vorgestellt sowie einige mögliche Auswirkungen der Darstellungen auf Armutsbetroene sowie Nicht-
Betroene skizziert.
Schlagworte:
Armut, soziale Ungleichheit, Fernsehen, mediale Repräsentationen, Stereotype, Framing
Abstract
Poor, uneducated and demotivated: This is the image that current portrayals of people experiencing poverty
in auent countries often convey. How is poverty portrayed on Austrian television? What is the correlation
between media presentation, public perceptions, and the will to act against disadvantageous phenomena
such as poverty? The article addresses these questions. It provides a brief summary of central ndings of my
master’s thesis, supervised by FH-Prof. Mag. Dr. Markus Pausch, and written in the study programme Social
Innovation at the Salzburg University of Applied Sciences. First, it gives an overview on poverty and the
associated disadvantages in Austria. Second, the inuence of mass media is discussed, with special focus
on framing. Finally, the key research results regarding the representation of poverty on Austrian television
are presented and possible implications will be outlined.
Keywords:
poverty, social inequality, television, representations through the media, stereotypes, framing
1
Einleitung
Armut ist ein multidimensionales Phänomen, welches mit zahlreichen Benachteiligungen einhergeht. Obgleich
Armutslagen durch strukturelle Ursachen wie beispielsweise die Ausweitung des Niedriglohnsektors entstehen
und mittlerweile mehr als 17 % der österreichischen Bevölkerung von Armut und Ausgrenzung betroen
sind (vgl. Statistik Austria 2019: 83f.), werden Armut und Armutsbetroene medial überwiegend verzerrt
inszeniert und repräsentiert. Anstatt sich einer umfassenden und detaillierten Aufklärung über Armutslagen,
deren Ursachen sowie daraus resultierenden Problemen zu widmen, werden medial und politisch vermehrt
meritokratische Ideologien verbreitet. Besonders häug wird in diesem Zusammenhang das Leistungsprinzip
aufgerufen, welches jedoch als wissenschaftlich widerlegt gilt (vgl. Butterwegge 2020: 234). Die verzerrte
Darstellung von Armut und Armutsbetroenen in den Medien sowie die Verbreitung neoliberaler Ideologien,
so die dem folgenden Beitrag zugrundeliegende Annahme, haben gravierende Auswirkungen auf den
öentlichen Diskurs und somit auch auf die Wahrnehmung von und Handlungsbereitschaft gegenüber der
Armut.
Die folgenden Überlegungen basieren auf den Erkenntnissen meiner Masterarbeit Fernseh-
Vorführungen der Armut. Die Würde des Menschen ist… leistungsabhängig? Repräsentationen und
Inszenierungen von Armut beziehungsweise Armutsbetroenen im österreichischen Fernsehen und deren
Auswirkungen (2020). Hierfür wurden ausgewählte Fernsehbeiträge eines öentlich-rechtlichen Senders
und eines privat-kommerziellen Senders bezüglich der Darstellung von Armut und Armutsbetroenen
analysiert. Darüber hinaus wurden einige Hypothesen über die Auswirkungen der Darstellungen aufgestellt
sowie Alternativen zu bestehenden Darstellungspraktiken über Armut aufgezeigt. Die Hauptforschungsfrage
war, wie in ausgewählten Medien über Armut und Personen mit Armutserfahrungen berichtet wird. Daran
knüpfte die (Sub-)Forschungsfrage danach an, welche Auswirkungen die mediale Darstellung von Armut
und Personen mit Armutserfahrungen auf Betroene oder nicht betroene Personen hat.
2
Armut in Österreich
Laut EU-SILC-Bericht von 2020 sind 17,5 % (1.529.000 Menschen) der Österreicher*innen armuts- oder
ausgrenzungsgefährdet und 2,7 % (233.000 Menschen) erheblich materiell depriviert. In Österreich gelten
Einpersonenhaushalte als armutsgefährdet, die monatlich weniger als 1.328 € zur Verfügung haben (vgl.
Die Armutskonferenz 2021). Um Armut als Problem von hoher gesellschaftlicher Relevanz zu begreifen, ist
es nötig, die quantitative Perspektive zu erweitern und die Zusammenhänge zwischen materieller Armut
und damit einhergehenden Benachteiligungen darzustellen: So besteht mittlerweile wissenschaftliche
Einigkeit darüber, dass hinsichtlich des gesundheitlichen Wohls eine chronische Benachteiligung besteht,
die aus Armutslagen resultiert. Menschen mit niedrigem sozioökonomischen Status haben ein 1,5- bis
4-fach höheres Risiko chronisch zu erkranken als Personen der Ober- und Mittelschicht. Darüber hinaus
ist die Lebenserwartung von Menschen mit geringem Einkommen, je nach Studie, um drei bis zwölf
Jahre verkürzt (vgl. Haverkamp 2018: 479.). Zu den erheblichen Risikofaktoren zählen beispielsweise
gesundheitsschädigende Wohn- und Arbeitsbedingungen (vgl. ebd.: 486). Gesundheit ist demnach nicht
ausschließlich ein natürlicher Zustand, sondern wird häug durch Benachteiligungen beeinusst, mit denen
exkludierte Gruppen konfrontiert sind.
Weitere gravierende Dezite, die mit Armut einhergehen, sind die mangelnden gesellschaftlichen
Partizipationsmöglichkeiten, die sich deutlich an der politischen Ungleichheit in Österreich erkennen lassen.
Bereits im März 2020 warnte die Armutskonferenz davor, dass sich Österreich auf dem Weg in eine Zwei-
Drittel-Demokratie bende: Armutsbetroene sind parlamentarisch unterrepräsentiert und haben nicht
das Gefühl, politischen Einuss nehmen zu können (vgl. Die Armutskonferenz 2020). Martin Schenk weist
darauf hin, dass das ärmste Drittel der Bevölkerung bei gesetzlichen Maßnahmen übersehen wird oder
ihm gar geschadet wird. Dies zeigt sich zum Beispiel an der Tabuisierung der Themen working poor und
Prekariat, an der mangelnden politischen Handlungsbereitschaft bezüglich leistbarem Wohnen oder an der
Abschaung der Mindestsicherung (vgl. Die Armutskonferenz 2020). Da Partizipation und die Möglichkeit
zur Interessenseinbringung zentrale Bestandteile von Demokratien sind, das ökonomisch schwächste Drittel
allerdings immer seltener an zivilgesellschaftlichen Prozessen teilnimmt, können die politische Gleichheit
und somit die demokratischen Verhältnisse in Österreich infrage gestellt werden (vgl. Zandonella 2019: 25).
Aufgrund mangelnder monetärer Ressourcen sind armutsbetroene Menschen meist nicht in der
Lage, für Museums-, Kino-, oder Theaterbesuche aufzukommen und werden somit auch kulturell exkludiert.
Als Reaktion darauf wurde die Initiative Hunger auf Kunst und Kultur geschaen, die mit dem Kulturpass
kostenlose Eintritte für nanziell Benachteiligte zur Verfügung stellt. Der Kulturpass wurde jedoch 2018 im
Bundesland Salzburg lediglich von 4,4 % aller Berechtigten genutzt (vgl. Statistik Austria 2019: 11; Hunger
auf Kunst und Kultur o.J., Gernot 2018: 1).
Die geringe Anzahl der Inanspruchnahmen des Kulturpasses weist auf ein weiteres Problem im
Kontext Armut hin: die emotionale Verfassung von Armutsbetroenen. Als Grundgefühl der Armut nennt
Stefan Selke (2015) Scham. Diese resultiert etwa daraus, dass Betroene nanziell nicht in der Lage sind,
gesellschaftlichen Erwartungen zu entsprechen, und daher die Geringschätzung ihrer Mitmenschen fürchten.
Bei arbeitslosen Personen, die trotz aller Bemühungen keinen adäquaten Arbeitsplatz nden, resultiert
Scham oftmals aus Schuldzuweisungen: der individuelle Status wird dann als persönlicher Misserfolg
gewertet. Die Kombination aus Scham und Schuld führt in weiterer Folge bei vielen Betroenen zu einem
Gefühl von Minderwertigkeit, resignativer Selbstabwertung und Ausgrenzung aus der Gesellschaft (vgl. Selke
2015: 39–42). Beschämungsverhältnisse können allerdings ebenso durch Institutionen erzeugt werden,
beispielsweise durch atypische Arbeitsverhältnisse, Reformen der Hartz-IV-Gesetze beziehungsweise
Arbeitslosenversicherungsgesetze und damit verbundene Instrumente der Machtausübung (Kürzungen,
Sanktionen etc.), die auf die Disziplinierung von Leistungsempfänger*innen abzielen (vgl. ebd.: 43f.).
Eine Vielzahl weiterer benachteiligender Aspekte im Zusammenhang mit Armut in Österreich wäre
zu nennen, wie etwa die soziale Immobilität, der Mangel an Kontakten oder digitale Ungleichheiten. An
dieser Stelle soll jedoch abschließend die Bildungsungleichheit hervorgehoben werden. Bildung stellt
eine Grundvoraussetzung dar, um gesellschaftlich partizipieren zu können (vgl. Erler 2011: 192f.). Die
soziale Herkunft von Kindern wirkt sich in nur wenigen Industrieländern dermaßen determinierend auf den
Bildungsweg aus wie in Österreich, insbesondere bei Kindern von arbeitslosen Menschen, Kindern mit mehr
als zwei Geschwistern, Kindern von Alleinerziehenden oder Kindern mit Migrationserfahrungen (vgl. ebd.:
194.). Diverse Faktoren wirken sich negativ auf den Bildungsweg und somit auf die Karrieregestaltung von
Kindern aus: die Spaltung zwischen ‚guten‘ und ‚schlechten‘ Ausbildungsmöglichkeiten, die beispielsweise
durch die Schaung von teuren Privatschulen und -universitäten entsteht, mangelnde nanzielle Mittel für
die Förderung von Kindern, etwa für Nachhilfe, oder aber auch geringe Unterstützung beim Lernen aufgrund
von Zeitknappheit oder niedriger formaler Bildung der Eltern (vgl. ebd.: 197–200).
Während das Thema Bildungsarmut im öentlichen Diskurs verankert ist, werden Bildungsprivilegien
nur selten thematisiert (vgl. Butterwegge 2020: 227). Chancengleichheit, welche im Kontext der Bildung
suggeriert wird, ist häug nicht gegeben. Zu hinterfragen ist zum Beispiel, ob eine Bewertung nach
einheitlichen Maßstäben von Schüler*innen oder Student*innen mit stark variierenden sozioökonomischen
Voraussetzungen dem Grundsatz der Gleichbehandlung entspricht (vgl. Erler 2011: 201). Weiters ist
anzunehmen, dass manche Lehrer*innen Kinder, deren Eltern einen hohen sozialen Status haben, teilweise
anders behandeln und benoten als Kinder, deren Eltern langzeitarbeitslos sind. Mit der Benotung, die in
vielen Fällen lediglich eine Illusion eines gerechten und gleichwertigen Umgangs darstellt, geht auch eine
Begabungsideologie einher, die das Bewusstsein der Kinder prägt. Das Gefühl, unfähig oder begabt zu sein,
hat wiederum große Auswirkungen auf den weiteren Bildungsweg und die Karrieregestaltung (vgl. ebd.:
201–205).
Obwohl zahlreiche Hürden existieren, die nanziell benachteiligte Kinder überwinden müssen, nimmt
die Anzahl an Studienabsolvent*innen aus niedrigen sozioökonomischen Schichten zu. Diese Entwicklung
schlägt sich jedoch kaum in der Besetzung von Spitzenpositionen nieder. Auch wenn Personen aus
niedrigen Schichten die vielseitigen Barrieren des Bildungssystems überwinden und ein für Toppositionen
relevantes Studium absolvieren, haben sie schlechtere Chancen im Berufsleben. So haben Kinder aus
bürgerlichen Familien mit denselben Voraussetzungen und Studiencharakteristika (Studiendauer, Erfolge,
Auslandsaufenthalte etc.) doppelt so hohe Chancen auf Führungspositionen. Für Kinder, deren Eltern selbst
Geschäftsführer*innen waren oder ähnliche Positionen belegten, ist die Chance sogar 17-mal höher als bei
Kindern aus Arbeiter*innenfamilien (vgl. Hartmann 2018: 65).
3
Mythos Leistungsgerechtigkeit
Durch die im öentlichen Diskurs immer häuger vorkommende Suggestion, dass sozialer Aufstieg durch
Bildung möglich und diese somit eine Quelle für materiellen Wohlstand und beruichen Erfolg ist, wird die
Eigenverantwortlichkeit und die Notwendigkeit der Selbstoptimierung von (armutsbetroenen) Personen
hervorgehoben. Die Relevanz der Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse und die Notwendigkeit
der Umverteilung – von Reichtum, Machtstrukturen und damit einhergehenden Privilegien – wird jedoch
kaum zur Diskussion gestellt (vgl. Butterwegge 2020: 235f.). Das Leistungsprinzip ist zum Dogma des 21.
Jahrhunderts geworden. Dass die Erarbeitung von nanziellem Wohlstand durch Leistung nicht immer
möglich ist und welch große Rolle das Glück spielt, in vermögende Familien geboren zu werden, bleibt bei
diesem Glaubenssatz meist unberücksichtigt.
Leistungsgerechtigkeit ist eine Scheinrechtfertigung ökonomischer Ungleichheit. Zur Legitimation
dient die meritokratische Triade, welche sich über drei Indikatoren für Erfolg und Wohlstand deniert:
Bildungsabschluss, beruicher Rang und Einkommen. Dem entsprechend wird suggeriert, dass höhere
Bildung und Qualikationen zu einem gehobenen beruichen Rang und damit zusammenhängend zu
einer adäquaten Entlohnung führen (vgl. Kreckel, zit.n. Butterwegge 2012: 34f.). Die Argumentation, „Je
mehr man leistet, desto mehr verdient man“, ist jedoch äußerst brüchig. So ist es fraglich, nach welchen
Kriterien Leistung gemessen werden kann, inwiefern eklatante Dierenzen der Entlohnung, beispielsweise
zwischen Vorstandsvorsitzenden und Sozialarbeiter*innen, gerechtfertigt sind oder inwiefern eine
Leistungsgerechtigkeit per se möglich ist, wenn die Startvoraussetzungen (Bildung, Vermögen, Teilhabe,
biologische Unterscheidungsmerkmale, Einkommen etc.) gesellschaftlich äußerst ungleich verteilt sind (vgl.
Butterwegge/Lösch/Ptak 2008: 156f.). Ungleiche Zugangsvoraussetzungen lassen sich auch anhand der
Vermögensverteilung in Österreich ablesen. 2019 besaßen 5 % der reichsten Personen Österreichs 43,1
% des Gesamtvermögens, während 50 % der ärmeren Bevölkerung lediglich über 3,6 % verfügten (vgl.
DerStandard 2019). Es ist dringend notwendig, Ungleichverteilungen, soziale Immobilität und die äußerst
heterogenen Voraussetzungen von Individuen zu berücksichtigen, beruft man sich auf eine leistungszentrierte
Ideologie. Zudem sollte die Kehrseite der Armut, der in vielen Fällen vererbte Reichtum, nicht außer Acht
gelassen werden.
Trotz aller Einwände ist die Leistungsideologie wirtschaftlich, politisch und medial stark in der
Gesellschaft verwurzelt und zieht zahlreiche negative Konsequenzen nach sich. Mittels symbolischer
Gewalt werden herrschende hegemoniale Verhältnisse verinnerlicht. Problematisch sind nicht nur daraus
resultierende Vorurteile gegenüber Armutsbetroenen, sondern ebenso die Anwendung des Leistungsprinzips
auf benachteiligte Bevölkerungsgruppen. Gerade weil das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit die jeweiligen
ökonomischen Ressourcen, den Sozialstatus und Erfolg mittels der Leistung rechtfertigt, wollen Personen
nicht als arm bezeichnet werden und verzichten teilweise sogar aus Scham auf Sozialleistungen. Die
symbolische Gewalt trägt dazu bei, Armut zu verschleiern, weil diese mit persönlichem Versagen verbunden
wird. Das daraus resultierende Phänomen der „verdeckten Armut“ verdeutlicht, dass das Leistungsprinzip
und damit verbundene Stigmata mit psychischen sowie mit materiellen Belastungen für Armutsbetroene
einhergehen (vgl. Groh-Samberg/Keller 2011: 53–57). Abschließend lässt sich sagen, dass die neoliberal
geprägte Leistungsideologie von zahlreichen renommierten Wissenschaftler*innen als unhaltbarer Mythos
bezeichnet wird. Weder mangelnde Bildung noch Qualikationen oder Leistung können als Ursachen für die
Entstehung von Armut und (ökonomischen) Ungleichheit(en) herangezogen werden.
4
Entstehungsbedingungen der Armut
Die Antwort auf die Frage nach den tatsächlichen Entstehungsmechanismen von Armut in Wohlfahrtsstaaten
ist wohl ebenso komplex wie das Phänomen der Armut selbst. So sieht Christoph Butterwegge die
Ursachen sozioökonomischer Ungleichheit in den Eigentums-, Produktions- und Herrschaftsverhältnissen
des kapitalistischen Wirtschaftssystems (vgl. Butterwegge 2020: 254). Das Substrat für die Entstehung
von Armutslagen ist der dominierende Neoliberalismus, welcher nach dem Prinzip uneingeschränkter
Konkurrenz funktioniert und nach Marktfreiheit sowie der Privatisierung der Produktionsmittel strebt.
Die Deregulierung der Wirtschaft, die Liberalisierung der Märkte und die Privatisierung von öentlichem
Eigentum haben nach Butterwegge dazu geführt, dass vermehrt Managementtechniken bei der Verwaltung
sozialer Risiken und in der öentlichen Daseinsfürsorge angewandt werden – die wiederum auf Gewinn und
Leistung abstellen und Egoismen und Konkurrenz fördern. Werte wie Gemeinwohl, Solidarität und soziales
Verantwortungsbewusstsein geraten dementgegen aus dem Fokus (vgl. ebd.: 257).
Emmerich Tálos und Martin Kronauer nennen in Erosion sozialer Reproduktionsmechanismen (2011)
einige Faktoren, die Armut begünstigen. Besondere Bedeutung kommt dabei den Wohlfahrtsstaaten zu,
welche anhand bestimmter Normalitätsannahmen organisiert sind. Erstens orientieren sich Wohlfahrtsstaaten
des Bismarcktypus an sogenannten Normalarbeitsverhältnissen. Die Sicherung der materiellen Existenz, die
Absicherung des Lebensstandards im Alter sowie der Schutz beim Entfall des Erwerbseinkommens sind an
kontinuierliche Vollzeit-Positionen gebunden. Bis in die 1980er Jahre hinein bezog sich diese Vorstellung zum
Normalarbeitsverhältnis auf Männer, womit die zweite Normalitätsannahme berührt ist: die Orientierung am
konservativen Typus der Normalfamilie, in welcher dem Mann die Rolle als Ernährer der Familie und der Frau
die Rolle als Mutter und Hausfrau zukommt. Drittens orientierte sich der Wohlfahrtsstaat in Österreich, speziell
in der Zeit nach 1945, an den damaligen Normalitätsstandards, welche durch Wachstum, den Anstieg des
Lohnniveaus sowie eine entspannte Situation am Arbeitsmarkt geprägt waren. Arbeitsmarktferne Menschen
und Verarmungsrisiken blieben weitgehend im Verborgenen. Daraus resultierten strukturelle Probleme, wie
etwa die Bindung sozialer Sicherungen an Erwerbstätigkeit oder die Benachteiligung von Frauen. Diese
haben auch heutzutage in vielen Fällen ein niedrigeres Einkommen und kürzere Versicherungszeiten, was
sich wiederum in einem verminderten Versorgungsniveau im Falle von Krankheit, Arbeitslosigkeit und Alter
niederschlägt.
Da Armutspolitik für Personen fernab der Normalitätsannahmen nicht fokussiert wurde, beschränkten
sich Ziele, Maßnahmen und Strategien weitgehend auf eine Fürsorgepolitik. Personen, die keiner
kontinuierlichen Vollzeit-Erwerbsarbeit nachgehen, nicht den Zugangsvoraussetzungen wohlfahrtsstaatlicher
Leistungen entsprechen oder keine beziehungsweise unzulängliche, nanzielle Unterstützung im familiären
Kontext erhalten, sind demnach auf eine nicht existenzsichernde Fürsorge angewiesen, welche als Sozialhilfe
betitelt wurde und heutzutage als Synonym der Mindestsicherung gilt (vgl. Kronauer/Tálos 2011: 26–29).
Insgesamt gehen Kronauer und Tálos davon aus, dass Armut sowie daraus resultierende Ungleichheiten
durch Transformationsprozesse, wie die Deregulierung und Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, begünstigt
werden. Beispielsweise sind aufgrund der Zunahme atypischer Arbeitsverhältnisse mittlerweile viele Personen
trotz Vollzeit-Erwerbstätigkeit von Armut betroen. Zudem stellen Familie und Ehe heutzutage, entgegen
der familiären Normalitätsannahmen, kein nanziell stabiles Auangnetz mehr dar. Auch Veränderungen
auf staatlicher Ebene tragen zu Verarmungsrisiken bei, da Sozialleistungen tendenziell reduziert, die
Zugangsbedingungen zur Inanspruchnahme sozialrechtlicher Leistungen hingegen eher verschärft werden.
Darüber hinaus sind die staatlichen Maßnahmen nicht darauf ausgerichtet, Armut entgegenzuwirken,
sondern sollen lediglich dem Risiko (extremer) Armut vorbeugen.
Die Ursachen für Armut und sozioökonomische Ungleichheiten können nur mit Fokus auf die
Dynamiken und Ausprägungen des Gegenwartskapitalismus analysiert werden. Daran anschließend muss
der Blick auf die Folgen politischer Entscheidungen bezüglich gesellschaftlicher Distributionsverhältnisse
gerichtet werden – jene Instanzen sind letztendlich für die Primär- und Sekundärverteilung der Einkommen
verantwortlich (vgl. Butterwegge 2020: 255).
5
Medien
Der Masterarbeit lag die Vermutung zugrunde, dass Diskriminierungen und Benachteiligungen, die
armutsbetroene Menschen erfahren, auch mit dem weit verbreiteten negativen Bild über Armutsbetroene
zusammenhängen. Da für die Darstellung und Verbreitung öentlichkeitswirksamer Bilder zu großen Teilen
Medien und insbesondere Massenmedien zu nennen sind, waren die Wirkungen von Medien von zentraler
Bedeutung für die Masterarbeit. „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen,
wissen wir durch die Massenmedien“ (Luhmann 2017: 9), brachte bereits Niklas Luhmann die Bedeutung
der Medien auf den Punkt. Denn insbesondere die Massenmedien haben weitreichende Auswirkungen auf
die Sozialisation, politische Integration beziehungsweise Apathie, können aber ebenso einen Beitrag zum
Zusammenhalt in pluralistischen Gesellschaften leisten. Auf individueller Ebene lassen sich die Wirkungen
der Massenkommunikation in vier Teilbereiche gliedern: Wissen, Einstellungen, Verhalten und Emotionen.
Zweifelsohne hängen diese Veränderungen und Wirkungen voneinander ab bzw. gehen ineinander
über. So mag eine Veränderung der Einstellungen zum Beispiel dazu beitragen, dass sich das jeweilige
Wissen, die Antriebslage und das Verhalten ändern. Wirkungen entstehen zumeist aufgrund komplexer
Interdependenzprozesse und sind somit nicht als einfache Kausalergebnisse zu verstehen (vgl. Maletzke
1998: 83–86).
Für die Analyse der Darstellungen von Armut und Armutsbetroenen im österreichischen Fernsehen
wurde insbesondere die Wirkungsart des Framings näher beleuchtet. Durch Framing werden spezische
Teilaspekte hervorgehoben und Interpretationsrahmen für die Einordnung von Themen nahegelegt (vgl.
Hasebrink 2016: 1f.). Demnach werden Sachverhalte aus einer bestimmten Perspektive dargestellt,
wodurch gewisse Faktoren vernachlässigt, andere hingegen überbetont werden. In vielen Fällen geschieht
dies unter Berücksichtigung von Wirkungsabsichten und kann somit auch als gezielte Intervention zur
Einstellungsänderungen der Rezipient*innen dienen.
Besonders problematisch ist diese Vorgehensweise, wenn Medien einseitig berichten und Sachverhalte
unvollkommen darstellen. Aufgrund des Mangels an alternativen Frames verlieren Rezipient*innen dann
häug das Bewusstsein für die perspektivische Darstellung, wodurch besonders hohes Wirkungspotenzial
entsteht (vgl. ebd.: 2). Insbesondere metaphorische Frames – z.B. „Jemandem auf der Tasche liegen“,
„Die Hand aufhalten“ etc. – spielen eine große Rolle, da sie abstrakte Themen nachvollziehbar machen,
bestimmte Fakten priorisieren, andere Realitäten allerdings verdrängen und dadurch spezische Ideologien
unterstützen. „In einem öentlichen Diskurs, in dem es an sprachlichen Alternativen mangelt“, so hebt
Wehling hervor, „erodieren gedankliche Alternativen und dadurch letztendlich Handlungsalternativen“
(Wehling 2016: 60). Metaphorische Frames können somit zu verzerrten und inkorrekten Schlussfolgerungen
führen und sind, obwohl sie äußerst selektiv sind, sehr wirksam:
„Und sind sie erst einmal über Sprache in unseren Köpfen aktiviert, leiten sie unser
Denken und Handeln – und zwar zumeist ohne dass wir es merken. Damit heißt
Demokratie immer auch, Werte zu begreifen und sprachlich umzusetzen.“
(Ebd.: 191)
6
Forschungsdesign
Zur Erforschung der Darstellungen von Armut und Armutsbetroenen im österreichischen Fernsehen
wurden zunächst Kriterien festgelegt, um eine Stichprobenauswahl zu ermöglichen. So wurde
ein Querschnitt der Fernsehbeiträge und -sendungen gebildet, die sich 2020 dem Thema Armut
und armutsbetroenen Personen in Österreich widmeten und einen Marktanteil von mindestens 2
% hatten. Darüber hinaus war es bei der Auswahl der Sendungen wichtig, dass sowohl Beiträge
von einem öentlich-rechtlichen Sender als auch von einem privat-kommerziellen Sender zur
Analyse herangezogen werden, um ein möglichst heterogenes Spektrum zu analysieren. Weiters
wurden ausschließlich Beiträge in Erwägung gezogen, die armutsbetroene Personen und Armut in
räumlicher und zeitlicher Nähe zeigen. Insgesamt wurden so sieben Beiträge des Österreichischen Rundfunks
(ORF)
1
und zwei Folgen aus zwei Serien des Senders RTLZWEI ausgewählt: „Odi et Amo“ aus der Serie
Armes Deutschland – Stempeln oder Abrackern (vgl. RTLZWEI 2020a) und „Bremen und Bremerhaven“
aus der Serie Hartz Rot Gold – Armutskarte Deutschland (vgl. RTLZWEI 2020b). Für die Auswertung des
Materials wurde die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring gewählt. Es wurde ein Methodenmix aus
induktiver und deduktiver Kategorienbildung vorgenommen. Im folgenden Abschnitt sind alle Kategorien
sowie die Häugkeit, wie oft sie im Datenmaterial aufgefunden wurden, abzulesen.
7
Ergebnisse
Tabelle 1: Deduktive Kategorien, Gesamtmaterial Übersicht
(eigene Darstellung).
Tabelle 2: Induktive Kategorien, Gesamtmaterial Übersicht
(eigene Darstellung).
Wie man anhand der Tabelle 1 und 2 erkennen kann, gibt es eine deutliche Dierenz zwischen den Beiträgen des
öentlich-rechtlichen und des privat-kommerziellen Fernsehens. Hinsichtlich der Häugkeit der analysierten
Kategorien ist zu beachten, dass die Beiträge von RTLZWEI eine wesentlich längere Spielzeit haben als die
Beiträge des ORF: bei RTLZWEI umfassen die zwei Beiträge jeweils fast anderthalb Stunden Spielzeit, beim
ORF jeweils zwischen 18 Sekunden und 4 Minuten. Während RTLZWEI Armut in den Beiträgen anhand von
Personen darstellt, wird sie in den Beiträgen des ORF als Phänomen veranschaulicht.
Die am häugsten aufgefundenen Kategorien der Beiträge von RTLZWEI sind „Vorwürfe“ (46 Mal),
„Devianz“ (29 Mal) und „Sozialschmarotzer-Debatte“ (25 Mal). In den Beiträgen des ORF werden keine
betreende Passage eruiert. Zudem wird in den Darstellungen des privat-kommerziellen Rundfunks selten auf
strukturelle Ursachen der Armut eingegangen. RTLZWEI: zwei indirekte Nennungen; ORF: 13 Erwähnungen,
davon acht direkt und fünf indirekt. Auch Probleme, mit denen Armutsbetroene konfrontiert sind, werden
in den Beiträgen des privat-kommerziellen Anbieters, im Vergleich zu den Kurzbeiträgen von ORF, selten
erwähnt: RTLZWEI: 32 Mal; ORF: 23 Mal. Informationen zum Thema Armut werden in den Beiträgen von
RTLZWEI kaum genannt: RTLZWEI: 15 Informationen; ORF: 35.
8 Armut
und
Armutsbetroene
im
österreichischen
Fernsehen
Bereits die Intro-Sätze der Folge „Odi et Amo“ polarisieren und geben ein Beispiel für das Sozialschmarotzer-
Narrativ:
„[O-Sprecher:] Armes Deutschland. Die Gesellschaft steht vor einer Zerreißprobe.
Während manche aus Frust oder Faulheit Vater Staat auf der Tasche liegen, müssen
andere bis ins hohe Alter rackern, um über die Runden zu kommen. […] Doch
Dankbarkeit für die Fürsorge des Sozialstaates sucht man bei manchen vergebens.
Anpacken oder Hand aufhalten? […] Eine Frage, die nicht nur die Gesellschaft
spaltet, sondern auch in einigen Beziehungen immer wieder für Sprengsto sorgt.“
(RTLZWEI 2020a: 00:00:30–00:01:00)
Weitere Beispiele zur Veranschaulichung des Sozialschmarotzer-Narratives, welches in der Folge
vorangetrieben wird, sind:
„[O-Sprecher:] Bevor der Hartz-IV-Rapper auf Staatskosten zurück an den Bodensee
iegt, steht noch die Wohnungsübergabe mit seiner Vermieterin [Name wird in der
Sendung genannt aber im Protokoll anonymisiert] an.“ (Ebd.: 01:19:53–01:21:28)
„[O-Sprecher:] Dass Willi so viel gearbeitet hat, hat Carola gestört. Sein Geld hat sie
allerdings ganz gerne genommen.“ (Ebd.: 00:21:39–00:23:58)
„[O-Sprecher:] Die meiste Zeit hat Carola auf Willis Kosten gelebt. Lange Zeit hatte
sie nicht einmal den Antrieb, Hartz IV zu beantragen.“ (Ebd.: 0
0:21:39–00:23:58)
Auch der Titel der Serie Armes Deutschland – Stempeln oder Abrackern verdeutlicht die emotionalisierende
Spaltung zwischen denjenigen, die Geld beziehen, obwohl sie bloß ‚zu faul‘ zu arbeiten sind, und jenen,
die tatsächlich Hilfe von ‚Vater Staat‘ benötigen, aber keine oder zu wenig Unterstützung bekommen.
Insgesamt wird in der Folge eine soziale und moralische Dierenzierung von armutsbetroenen Menschen
vorgenommen. Die Beiträge des privat-kommerziellen Fernsehanbieters stellen zudem vermehrt
Negativbeispiele von Armutsbetroenen dar. So fallen einige der Protagonist*innen durch provozierende
Aussagen oder deviantes Verhalten auf. Die folgenden Szenen aus „Odi et Amo“ verdeutlichen, inwiefern
beides in den Fokus der Folge gerückt wird:
„[Tor:] Normalerweise nicht. Also schnorren ist eigentlich schon, was ich mach,
verboten, weil ich Hartz IV krieg.
[O-Sprecher:] Das Jobcenter könnte dem Hartz-IV-Empfänger wegen des
Zuverdienstes die Bezüge kürzen. […] Jetzt wird das Erschnorrte also in eine
Fahrkarte investiert. Eine seltene Ausnahme für den 28-Jährigen.“ (Ebd.: 00:43:22–
00:47:58)
Die folgenden Aussagen beziehen sich auf die Trennung der Protagonist*innen Willi und Carola. Carola ist
inzwischen mit Stefan zusammen.
„[Carola:] Stefan hat mehr Zeit für mich, weil er Hartz IV bezieht.“ (Ebd.: TC: 00:01:00–
00:01:28)
„[Willi:] Der Grund ist eigentlich deswegen gewesen, weil ich sie immer nur allein
gelassen hab. Nach ihrer Aussage, dass ich unverschämterweise arbeiten gegangen
bin.
[Carola:] Also der Willi hatte nicht Zeit, meine Bedürfnisse zu akzeptieren, wie Gefühle, Kuscheleinheiten,
Geschlechtsverkehr zum Beispiel.
[O-Sprecher:] Während Willi arbeiten war, hatte sich Carola anderweitig orientiert.
Hartz-IV Empfänger Stefan kam ihr gerade recht.“ (Ebd.: 00:19:27–00:21:35)
Andere Protagonist*innen werden wiederum durchwegs anhand vermeintlich selbstverschuldeter
Problemlagen gekennzeichnet. Etwa ein Protagonist, der hundertvierzig Straftaten begangen hat und nun
unter der Ungewissheit hinsichtlich des Ausgangs eines Gerichtsverfahrens und der damit verbundenen
Haftstrafe leidet. Das Verhalten der Protagonist*innen wird seitens des O-Sprechers und der Interviewerin
an vielen Stellen in Form von oensichtlichen oder suggestiven Kommentaren oder Fragen kritisiert. Diese
Vorgehensweise wurde durch die Kategorie „Vorwürfe“ erfasst.
„[O-Sprecher:] Trotz des geringen Hartz-IV-Satzes, lässt Benjamin es sich gerne
gut gehen.“ (Ebd.: 00:03:39–00:04:51)
„[O-Sprecher:] Die meiste Zeit des Tages verbringt der Punker mit Nichtstun und
Rauchen. Heute allerdings steht etwas Besonderes auf dem Programm.“ (Ebd.:
00:43:22–00:47:58)
Zudem werden Protagonist*innen ‚vorgeführt‘, die sich dazu bekennen, keine Lust auf Arbeit zu haben.
Diese werden häug in diamierender Weise dargestellt und überwiegend negativ charakterisiert:
„[Benjamin:] Ich empfange seitdem ich 18 bin Hartz IV, weil ich eben faul bin und
keinen Bock habe zu arbeiten.
[Interviewerin:] Was machst du stattdessen?
[Benjamin:] Ja, ich [ähm] mache meine Musik und [ähm] scheiß auf Arbeit. So, das
ist mein Leben, Hartz-IV-Empfänger, danke Merkel.“ (Ebd.: 00:02:08–00:03:38)
Seitens des O-Sprechers wird ihnen zudem unterstellt, „das süße Leben“ zu genießen, auf Kosten des
Sozialstaates zu leben, gerne das Geld anderer Leute zu nehmen, die meiste Zeit mit Nichtstun und Rauchen
zu verbringen oder ganz eigene Auassungen von Eigentum und Ehrlichkeit zu haben (vgl. RTLZWEI
2020a). Wie aus den Beispielen hervorgeht, entsteht kaum der Eindruck, die Protagonist*innen seien von
Armut betroen oder wären mit damit verbundenen Benachteiligungen und Problemen konfrontiert. Die
Beiträge des privat-kommerziellen Rundfunks kreieren somit ein Bild von nicht-unterstützungswürdigen
Armutsbetroenen.
Sprechen die Protagonist*innen aus ihren Armutslagen entstehende Herausforderungen an, werden
die Probleme von der Interviewerin oder dem O-Sprecher oftmals relativiert, marginalisiert und teilweise
ins Lächerliche gezogen. Beispielsweise wird ein Paar dokumentiert, das in eine neue, behindertengerechte
Wohnung ziehen will, die jedoch aus Kostengründen nicht vom Sozialamt genehmigt wird. Im Zuge dessen
wird in der Folge nicht thematisiert, dass das Paar trotz rechtlichen Anspruchs auf eine behindertengerechte
Wohnung in einer nicht-behindertengerechten Wohnung leben muss. Stattdessen ist die Darstellung darauf
reduziert, einem der Partner zu unterstellen, er würde den Haushalt in einer neuen Wohnung schlecht führen.
Auch sein Freund, welcher aufgrund seiner Beeinträchtigung Schwierigkeiten mit dem Sprechen hat, wird
nicht etwa gefragt, welche Probleme er mit der nicht-behindertengerechten Unterkunft hat oder welche
Verbesserungen mit einer behindertengerechten Wohnung entstehen würden. Er wird lediglich gefragt, ob
sein Lebenspartner den Haushalt in einer neuen Wohnung besser unter Kontrolle hätte.
Während der Alltag der scheinbar nicht-unterstützungswürdigen Armutsbetroenen entweder
nicht thematisiert wird oder unproblematisch und nahezu gemütlich wirkt, ändert sich das Narrativ bei den
vermeintlich unterstützungswürdigen Armutsbetroenen. Bei der Darstellung von deren Alltag werden Armut
sowie damit verbundene Benachteiligungen und Probleme in den Fokus gerückt. So wird zum Beispiel die
Situation der 75-jährigen Waltraut beleuchtet, die von einer Minirente lebt:
„[Waltraut:] Wenn ich mir vorstelle, ich hab 40, 45 Jahre gearbeitet, ja? Und habe
weniger Geld zur Verfügung wie ein Hartz-IV-Empfänger. Wann ich so sehe, manchmal
in der Stadt oder wo auch immer, im Fernsehen oder so, da sind junge Leute, 24
Jahre, 26 Jahre, die haben noch nie gearbeitet…Die sagen sich, mir reicht das Geld.
Ich krieg meine Miete bezahlt, ich krieg das bezahlt, geht die Waschmaschine kaputt,
das Amt bezahlt. Hm, ich muss selbst sparen. Sie sollen schon unterstützt werden,
ja, aber die sollen auch einmal Arbeit annehmen. Es gibt genug Arbeit.“ (Ebd.:
00:11:31–00:15:08)
Auch der Alltag einer alleinerziehenden Mutter wird in einer Folge gezeigt. Was beide vereint, sind abseits
ihrer Notlagen die Bestrebungen, arbeiten zu gehen und sich selbstständig daraus zu befreien. Entgegen den
vermeintlich nicht-unterstützungswürdigen Armutsbetroenen wird der Fokus bei den beiden auf materielle
Entbehrungen, Sparen sowie Probleme und Benachteiligungen aufgrund nanzieller Armut gelegt.
Insgesamt entsteht bei den Beiträgen des privat-kommerziellen Senders der Eindruck, es gäbe
faule, nicht-unterstützungswürdige Armutsbetroene, die kaum mit Problemen konfrontiert sind und sich
durch staatliche Transferleistungen ein gemütliches Leben machen. Als Pendant werden leistungsbereite,
unterstützungswürdige Armutsbetroene präsentiert, die mit Benachteiligungen konfrontiert sind, jedoch
bemüht sind, ihre Situation eigenständig zu verbessern. Armutslagen und die damit verbundenen
Probleme werden in den Beiträgen kaum thematisiert – allenfalls mit Blick auf die unterstützungswürdigen
Armutsbetroenen. Auch strukturelle Gründe für die Entstehung von Armut werden höchstens indirekt
genannt. Dementgegen wird jedoch in jeder Sendung behauptet, je mehr man arbeite, desto mehr
verdiene man. Zudem wird wiederholt auf die Ausbeutung des Sozialstaates durch ‚faule Arbeitslose‘
hingewiesen. Äußerst fragwürdig erscheint zudem die Auswahl der Protagonist*innen für die Repräsentation
Armutsbetroener. So sind in der Folge Bremen und Bremerhaven mehr als die Hälfte der Protagonist*innen
(ehemals) delinquent, drogen- oder alkoholsüchtig. Generell ist festzuhalten, dass überwiegend plakative
Negativbeispiele von Armutsbetroenen in den Beiträgen von RTLZWEI dargestellt werden. Die Auswertung
des Datenmaterials zeigt, dass Armut und Armutsbetroene stark selektiv, sowie gewisse Deutungsmuster
und moralische Wertungen nahelegend dargestellt werden. Entsprechend des undierenzierten Zugangs
sind beide Beiträge als Beispiele für Framing eingeordnet.
Das öentlich-rechtliche Fernsehen in Österreich hingegen strahlte informative Beiträge über Armut
aus, welche Benachteiligungen und Probleme von armutsbetroenen Personen thematisieren. So wird in
einem der analysierten Clips erwähnt, dass Essen, Miete oder Strom für viele nur schwer nanzierbar sind.
Zudem werden strukturelle Gründe der Entstehung von Armutslagen genannt. Beispielsweise schildert eine
Politikerin, dass es 500.000 Arbeitslose, jedoch nur 50.000 oene Stellen am Arbeitsmarkt gibt. Die Corona-
Pandemie wird in nahezu jedem Beitrag als Ursache von Armut und Arbeitslosigkeit dargestellt. Es ist davon
auszugehen, dass der ORF Armut und Arbeitslosigkeit aufgrund der Corona-Situation häuger thematisiert
als in den Monaten vor Ausbruch der Pandemie. Anzumerken ist ebenso, dass Armutsbetroene in den
jeweiligen Berichten nicht selbst zu Wort kommen, sondern deren Lebensrealität und das Phänomen Armut
ausschließlich von Expert*innen und Nachrichtensprecher*innen erläutert werden. Die Darstellungen des ORF
unterscheiden sich damit stark von den Beiträgen von RTLZWEI. Jedoch wird Armut von beiden Sendern
insbesondere im Zusammenhang mit Arbeitslosigkeit gezeigt, weshalb die Verbindung der Phänomene
Armut und Arbeitslosigkeit als Parallele der Inszenierungen genannt werden kann.
9
Fazit
Die Analyse des Datenmaterials bestätigt die Hypothese, dass insbesondere Beiträge privat-kommerzieller
Fernsehanbieter Armut und Armutsbetroene verzerrt darstellen. Bedenklich ist dies vor allem, da ein
Großteil der Formate, welche die Lebensrealität Armutsbetroener massenhaft verbreiten und somit eine
Deutungshoheit der Darstellung und damit verbundenen Wahrnehmung von Armut und Armutsbetroenen
im öentlichen Diskurs etablieren, ähnlich gestaltet ist.
Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Darstellungen Hetero- und Autostereotype hervorrufen, zur
Abgrenzung von Armutsbetroenen führen und Beschämungsverhältnisse sowie negative Selbstkonzepte
verstärken können. Zudem ist denkbar, dass die Darstellungen der Etablierung eines ‚Klassenbewusstseins‘
entgegenwirken, was wiederum Auswirkungen auf die reale Handlungsbereitschaft gegenüber der Armut
hätte. Sowohl für Armutsbetroene als auch für Nicht-Betroene dienen manche Darstellungen von
Armut möglicherweise als Drohkulisse und Disziplinierungsinstrument und stabilisieren somit bestehende
Machtverhältnisse. Zudem wirken sich die Komplexitätsreduktionen der Inszenierungen vermutlich auch
insofern aus, dass bestehende Hierarchisierungen und hegemoniale Herrschaftsverhältnisse armiert werden.
Statt diese kritisch zu hinterfragen, kommt es zur Diskreditierung des Sozialstaates sowie demokratischer
Grundprinzipien. Dies hat vermutlich auch gravierende Auswirkungen auf die Gesamtgesellschaft, da
die vermittelten Bilder Zweifel am gesellschaftlichen Verantwortungsbewusstsein vorantreiben und eine
exklusive Solidarität propagieren.
Bei der Darstellung von Armut und Armutsbetroenen ist stets zu bedenken, welch großes Gewicht
den Medien zukommt, gesellschaftliches Wissen, Einstellungen und Verhalten zu formen. Insofern können
Medien dazu beitragen, Stereotype, Beschämung und diskriminierende Verhältnisse zu (re)produzieren,
oder aber Unterstützung für und Anerkennung gegenüber benachteiligten Gruppen fördern. Werden
nicht Zerrbilder und kontroversielle Dierenzen inszeniert, sondern vermehrt ‚Positivbeispiele‘ von
Armutsbetroenen diverser Gruppen sowie strukturelle Entstehungsfaktoren der Armut vermittelt, könnte
sich ein ‚Klassenbewusstsein‘ und solidarisches Verhalten gegenüber nanziell benachteiligten Personen
re-etablieren. Einer gesellschaftlichen Spaltung würde, zumindest partiell, entgegengewirkt werden,
wodurch sich gegebenenfalls manche gesellschaftspolitische formale Gleichheiten in reale Gleichheiten
transformieren könnten.
Verweise
1
Das Datenmaterial der ORF-Beiträge wurde freundlicherweise vom ORF zur Verfügung gestellt.
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Über die Autorin
Sophie Emmylou Mayer, MA
sophie.emmylou.mayer@gmail.com
Absolventin des Bachelorstudiums Kommunikationswissenschaft und des Masterstudiums Soziale
Innovation. Derzeit ist die Salzburgerin redaktionell tätig sowie für die Öentlichkeitsarbeit einer sozialen
Organisation zuständig. Medienkritik, Ungleichheiten und die Erforschung von Armutsinszenierungen sind
ihr nach wie vor wichtige Anliegen.
Fernseh-Vorführungen der Armut
Die Würde des Menschen ist… leistungsabhängig?
Sophie Mayer