soziales_kapitalHubert Höllmüller. “Das Kinder- und Jugendhilfesystem in Österreich – Innovation im System oder Innovation des Systems?” soziales_kapital, no. 26 (2022). Rubrik „Einwürfe/Positionen“. Feldkirchen. Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/view/751/1419.pdf_Das Kinder- und Jugendhilfesystem in Österreich – Innovation im System oder Innovation des Systems?Hubert HöllmüllerSoziale Innovation 26. Ausgabe Juni 2022ZusammenfassungIm Anschluss an das Positionspapier der AG Kindheit/Jugend der OGSA, das letzten Herbst verabschiedet wurde, wird im Beitrag die Frage gestellt und beantwortet, wie es um das österreichische Kinder- und Jugendhilfesystem als Ganzes bestellt ist. Das Positionspapier thematisiert zwar viele einzelne Punkte und formuliert auch sehr konkrete Forderungen, es fehlt aber eine Gesamtperspektive auf das System. Als einer der Verfasser*innen dieses Positionspapiers, knüpfe ich folgend an die Ergebnisse an und formuliere auf Basis von Forschungen und Reexionsgruppen einen ersten Gesamtblick auf die Kinder- und Jugendhilfe Österreichs. Der Befund lautet zusammengefasst, dass die österreichische Kinder- und Jugendhilfe nach wie vor mehrheitlich paternalistisch, pathologisierend und expertokratisch agiert – trotz innovativer und engagierter Einzelpersonen und Gruppen.Schlagworte: Kinder- und Jugendhilfe, Positionspapier, Systemanalyse, InnovationAbstractFollowing the position paper of the OGSA working group Childhood/Youth, which was published last fall, the article asks and answers the question about the overall state of the Austrian child- and youth care system as a whole. The mentioned position paper picks up many single issues and names very concrete demands, but it lacks an overall view on the system. As one of the authors of the position paper, I follow up on the issues and demands and formulate a rst overall view on the system based on research and reection groups. In summary, the ndings show that the Austrian child and youth care system continues to act in a paternalistic, pathologizing, and expertocratic manner – despite all the innovative and committed individuals and groups. Keywords: child and youth care, position paper, systems analysis, innovation1. EinleitungDie AG Kindheit/Jugend der Österreichischen Gesellschaft für Soziale Arbeit (OGSA) hat im Herbst 2021 ein Positionspapier zur Kinder- und Jugendhilfe (KJH) in Österreich verabschiedet. Dem sind drei Jahre an Diskussion vorausgegangen, die im Rahmen der OGSA-Tagungen und -Foren zwischen 2018 und 2021 stattfanden. Am 21. März 2022 wurde das Positionspapier bei der OGSA-Tagung präsentiert und diskutiert. Die vielen Themen und Diskurse dieses Positionspapiers zeugen von der Innovationsbereitschaft und Innovationsfreude innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe und der Disziplin Sozialer Arbeit. Dies wird allerdings von dem Faktum konterkariert, dass sich Innovationen nicht im System durchsetzen. Einige Beispiele wie soziale Diagnostik, Familienrat, Fehlerkultur und verbindliche Begleitforschung führt das Positionspapier an. Um die Frage, wieso sich Innovationen nicht durchsetzen, überhaupt formulieren zu können – dies wurde im Zuge der fast vierjährigen Auseinandersetzung deutlich –, bedarf es eines Gesamtblicks auf das System der Kinder- und Jugendhilfe.2. Der Wald vor lauter BäumenDie vielen Themen und Diskurse in und um die Kinder- und Jugendhilfe, die im Diskussionsprozess zum Positionspapier aufgetaucht sind, zeigen die Komplexität des Systems. „Die Kinder- und Jugendhilfe ist ein komplexes (und zugleich das größte) Handlungsfeld Sozialer Arbeit in Österreich, in dem viele Faktoren für ein Gelingen oder Scheitern von Hilfen, Unterstützung und Förderung wirken. Unterschiedliche Beteiligtengruppen (Kinder/Jugendliche, Familien- und Bezugssysteme, Behörden, private Organisationen, zugeordnete Politik, dazu die angrenzenden Systeme Bildung, Gesundheit, Justiz) haben unterschiedliche Perspektiven und Ansprüche.“ (Forstner/Höllmüller/Radauer 2021: 2)Dabei gibt es nur zum Teil verlässliche Zahlen, die das System beschreiben: Neben den statistisch belegten Zahlen von ambulanten Hilfen und stationärer Unterbringung der Statistik Austria lässt sich nur schätzen, wie viele Professionalist*innen in der KJH tätig sind, wie viele behördliche Mitarbeiter*innen es gibt und wie viele private Organisationen Aufträge der Behörde durchführen. Für die deutsche Kinder- und Jugendhilfe lässt sich annehmen, dass sie ähnlich viele Mitarbeiter*innen beschäftigt wie die Autoindustrie. Für Österreich kann eine Zahl zwischen 15.000 und 25.000 vermutet werden, verschiedene Formen von Teilzeitbeschäftigungen führen hier zu Unschärfen. Zu einem großen Teil werden die Angebote der Kinder- und Jugendhilfe von privaten Organisationen durchgeführt. Unter dem Titel „Diskurse, die wir verstärkt führen sollten“ wird dazu im Positionspapier die religiöse und parteipolitische Rahmung eines Teils dieser Organisationen thematisiert: „Was diese Tatsache an möglichen Vorteilen und möglichen Nachteilen für die Erbringung von Unterstützungsleistungen und Hilfen bedeutet, ist bisher in der Disziplin nicht systematisch untersucht, oder nur ‚unter vorgehaltener Hand‘ angesprochen worden.“ (Ebd.: 15)Gleich wie in Deutschland gibt es einen Fachkräftemangel. Aus unterschiedlichen Gründen bleiben zahlreiche ausgeschriebene Stellen lange oen, was wiederum die Zahl der aktuellen Akteur*innen ungenauer werden lässt. Trotz teilweise sehr exakter Aufzählungen unterschiedlicher Leistungen muss auch die Zahl der Gefahr-im-Verzug-Maßnahmen geschätzt werden. Diese invasivste behördliche Maßnahme ist eine der vielen blinden Flecken des Systems. Generell ist zu sagen, dass die operative Bundesländerzuständigkeit zu sehr unterschiedlichen Angebotsstrukturen geführt hat, zu denen es kaum Vergleiche gibt. Mit der „Verländerung“ 2018, also der de facto Schrumpfung und Einfrierung des Bundesgesetzes zur Kinder- und Jugendhilfe, wurde diese Realität noch verschärft, wie auch im Positionspapier kritisch hervorgehoben wird: „Die Verankerung wichtiger Teile des Bundes-KJHG-2013 (z.B. Statistik, Konsultationsmechanismus der Länder) in der Vereinbarung gemäß Artikel 15a B-VG (2018) über die Kinder- und Jugendhilfe sind aus fachlicher Sicht als unzureichend einzustufen. Die Vereinbarung beinhaltet keine Sanktions- möglichkeit für Länder bei Nichteinhaltung des Bundes-KJHG. Die erforderliche Einstimmigkeit aller Landesregierungen zur Verankerung zukünftiger bundeseinheitlicher Qualitätsstandards erschwert somit die Weiterentwicklung erheblich. Die AG ‚Kindheit und Jugend‘ der ogsa verortet somit einen sozial- und demokratiepolitischen Rückschritt durch die ‚Verländerung der Kinder- und Jugendhilfe in Österreich‘. Ein einzelnes Bundesland kann durch sein Veto zukünftig verbesserte bundeseinheitliche Standards blockieren.“ (Ebd.: 9)Die Akteur*innen der KJH sind also in neun verschiedene Subsysteme aufgeteilt, mit jeweils zumindest teilweise unterschiedlich ausgeformten Realitäten der (gleichen) Themen und Diskurse. Obwohl das Positionspapier der OGSA aus kritisch wissenschaftlicher Perspektive formuliert ist, ist es als solidarische Kritik zu lesen, was sich in den politischen Forderungen zeigt, mit denen es schließt. Es wird die Aufstockung der behördlichen Kinder- und Jugendhilfe um 500 Stellen gefordert und eine Vereinheitlichung der Standards und Gesetzgebung, weiters eine Ausdehnung der Unterstützungsmöglichkeit bis zum vollendeten 24. Lebensjahr (das Durchschnittsalter von jungen Erwachsenen, die von zu Hause ausziehen, beträgt in Österreich 25 Jahre): „Es ist nicht zu begründen, warum Jugendliche und junge Erwachsene, die die Unterstützung der Kinder- und Jugendhilfe benötigen, weil sie eine belastete Vorgeschichte haben, ihre Verselbständigung schon mit 18 Jahren, zu einem geringen Teil mit 21 Jahren gemeistert haben müssen.“ (Ebd.: 20) Eine weitere Forderung des Positionspapiers ist die Angleichung der nanziellen Höhe der Hilfen für unbegleitete geüchtete Minderjährige an die der österreichischen Kinder und Jugendlichen. Aufgrund der Vielfalt der Themen und Diskurse rund um die Kinder- und Jugendhilfe besteht die Gefahr, den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen, also keinen Gesamtblick auf das System zu haben. Erste Versuche eines Gesamtblicks elen nicht sehr positiv aus. Das Resümee der rund 60 Teilnehmer*innen bei der letzten OGSA-Tagung auf die Frage, ob das ‚Glas‘ der Kinder- und Jugendhilfe in Österreich halb voll oder halb leer ist, war insgesamt kritisch. Es entstand der Eindruck, dass das Glas weniger als halb ist – ob nun leer oder voll. In jedem Fall wäre aber selbst „halb“ für die Betroenen Kinder, Jugendlichen und Eltern eindeutig zu wenig.3. Was ist ein System?Um das System Kinder- und Jugendhilfe zu analysieren, muss zuerst der Begri System geklärt werden. Der Systembegri gilt in der Disziplin und Profession Soziale Arbeit ohne große Theoriearbeit als eingeführt. Über Niklas Luhmann und seine Systemtheorie wurde an einen soziologischen Theoriestrang angeschlossen, über professionsbezogene Konzepte des Systemischen wurde der Begri etabliert. Es hat sich durchgesetzt, von Familiensystemen zu sprechen, mit denen es die Profession zu tun hat. Mit einer andersartigen systemtheoretischen Begründung hat Silvia Staub-Bernasconi den Systembegri als zentral für die Soziale Arbeit gesetzt (vgl. Staub-Bernasconi 2007). Neben dem allgemeinen Verständnis von System, Element, Systemgrenze und Umwelt sind weitere Bestimmungen relevant: „Unsere These, daß es Systeme gibt, kann jetzt enger gefaßt werden: es gibt selbstreferentielle Systeme. […] Es gibt Systeme mit der Fähigkeit, Beziehungen zu sich selbst herzustellen und diese Beziehungen zu dierenzieren gegen Beziehungen zu ihrer Umwelt.“ (Luhmann 1987: 31) Diese Fähigkeit zum Selbstbezug und zur Unterscheidung von Umweltbeziehungen konstituiert jedes soziale System. Dazu kommt Komplexität. Dass sich nicht mehr jederzeit alle Systemelemente untereinander verbinden lassen, führt zu systeminternem Komplexitätsaufbau bei gleichzeitiger Komplexitätsreduktion der Umwelt. Damit kann sich das System selbst erzeugen, es wird autopoietisch (vgl. Luhmann 1999: 136.). Luhmann unterscheidet drei Typen von Systemen: Interaktionssysteme, also Kommunikation unter Anwesenden, Organisationssysteme und Funktionssysteme wie Wirtschaft, Politik oder Wissenschaft. Ob Soziale Arbeit als Ganze und damit die Kinder- und Jugendhilfe als Teil davon so ein Funktionssystem darstellt, ist in der Disziplin nicht ausdiskutiert. Heiko Kleve hat schon vor mehr als zwanzig Jahren die Soziale Arbeit als Funktionssystem gesehen, das alleine über den Code Hilfe/Nicht-Hilfe entscheidet, was zu tun ist: „Aufgrund ihrer funktionalen Ausdierenzierung gelten Funktionssysteme zugleich voneinander unabhängig […] und als voneinander abhängig […]. Demnach kann […] nur die Soziale Arbeit über Hilfe und Nicht-Hilfe entscheiden.“ (Kleve 2000: 30) Für das Funktionssystem Soziale Arbeit bilden Politik, Massenmedien und Wissenschaft relevante Umwelten. Finanzierung und Anerkennung werden in gegenseitiger Irritation verhandelt. In der Funktion, über Hilfe und Nicht-Hilfe zu entscheiden, ist sie jedoch unabhängig. Systemanalyse bedeutet, Strukturen des Funktionierens zu identizieren und diese in einen Begründungszusammenhang zu bringen. Die Ausgangsfrage in Bezug auf das Kinder- und Jugendhilfesystem ist, warum Innovationen im System nicht zu Innovationen des Systems führen. Der im Wissenschaftssystem klar denierte Zusammenhang von Disziplin und Profession müsste dazu führen, dass durch empirische Forschung gestützte wissenschaftliche Erkenntnisse zur Kinder- und Jugendhilfe zu umfassenden Veränderungen in der Profession führen. Ein empirisch belegtes Beispiel für das Gegenteil ist das Fachprinzip der Partizipation. Obwohl eindeutig empirisch und theoretisch belegt ist, dass Partizipation zu besseren Ergebnissen in der Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Familien führt, haben sich entsprechende Konzepte und Methoden im System nicht durchgesetzt, sondern sind im Gegenteil wieder auf dem Rückzug. „War in den vorangegangenen Erhebungen eine Zunahme zur Bedeutung von Beteiligungsprozessen zu erkennen, so zeigen sich diese nun nicht mehr. Zum Teil ist sogar eine Tendenz zur Skepsis gegenüber Beteiligungsprozessen festzustellen. […] Den Kindern und Jugendlichen wird beispielsweise häuger unterstellt, […] sie hätten kein Interesse, in einem Mitbestimmungsgremium aktiv mitzuarbeiten.“ (Gadow/Peucker/Pluto/van Santen/Seckinger 2013: 26)4 Der BefundMeine Hypothesen zur österreichischen Kinder- und Jugendhilfe schließen an den Prozess der Erstellung des Positionspapiers der AG Kindheit/Jugend an, den ich als deren Koordinator kontinuierlich mitgestaltet und begleitet habe. Sie gehen aber über das Positionspapier hinaus und sind meine persönlich weitergeführten Überlegungen. Dabei beziehe ich mich auf drei Evaluationsforschungen im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe und den für ein Bundesland erarbeiteten Entwurf eines Bedarfs- und Entwicklungsplanes (welcher als zu kritisch zurückgewiesen wurde). Zusätzliche Einblicke liefert die nun 18-jährige Begleitung von Berufspraktika, die zum Großteil in der Kinder- und Jugendhilfe absolviert werden, sowie eine gutachterliche Tätigkeit zu Fragen von Freiheitsbeschränkungen in der stationären Kinder- und Jugendhilfe. Erste Einschätzungen habe ich bereits letztes Jahr beim OGSA-Forum zur Diskussion gestellt: Die österreichische Kinder- und Jugendhilfe ist in ihrer Kultur mehrheitlich paternalistisch, pathologisierend und expertokratisch. Das schließt wunderbare und wirkungsvolle Innovationen mit ein. Diese führen nämlich aus folgend genannten Gründen nicht zu einer Veränderung des Systems: 4.1 (Naiver) Fortschrittsglaube Es herrscht die Überzeugung, dass das System langsam aber stetig besser wird. Rückschritte bzw. Verschlechterungen sind diesem Verständnis nach nicht möglich. Aus dieser Perspektive muss sich alles weiterentwickeln, aber nicht verändern.4.2 Turbokapitalistische Marktspiele Es wird oen von Expansion und Marktanteilen gesprochen und Auftragsvergaben haben oft mit Intransparenz und Korruption zu tun. Dabei fehlen der Kinder- und Jugendhilfe wesentliche Aspekte eines kapitalistischen Marktgeschehens: „Die Marktmetapher bildet jedoch das notwendige Wechselspiel der unterschiedlichen Beteiligtengruppen nur unzureichend ab: jene, die die Leistungen ‚konsumieren‘ sind in der Regel nicht die, die sie bezahlen. ‚Kund*innenzufriedenheit‘ ist deshalb kein zentraler Faktor für die Aushandlungsprozesse dieses ‚Marktes‘. Auch eine wenngleich relative Freiwilligkeit und Wahlmöglichkeit eines Marktgeschehens trit für die Kinder- und Jugendhilfe nur in geringem Maße zu.“ (Forstner et al. 2021: 5)Eine meist nichtgestellte und kaum stellbare Frage lautet, wie private Organisationen zu ihren Aufträgen kommen bzw. wie öentliche Stellen Aufträge vergeben.4.3 Die Deutungsmacht wird nicht den Kindern/Jugendlichen und Eltern übergebenEs ist immer noch die Haltung verbreitet, den Kindern und Jugendlichen keinen Glauben zu schenken. Das Konzept, die Pyramide der Deutungsmacht vom Kopf auf die Füße zu stellen und den Kindern, Jugendlichen und Eltern die Deutungsmacht hinsichtlich ihrer Themen und Herausforderungen tatsächlich zu geben, setzt sich nach wie vor nicht durch. Dominant bleibt der Generalverdacht, dass Kinder, Jugendliche und Eltern lügen könnten. (Dabei zählt auch nicht die aus systemischer Perspektive gestellte Frage, wieso es einige oenbar nötig haben zu lügen.)4.4 Kein FeedbackEs gibt kaum Feedback, ob positiv oder negativ, von den Adressat*innen und die eigene Überprüfung von Ziel-Erreichungen ist nicht gegeben. Das System schat wenig Raum für Feedback der Betroenen, Techniken der Zielerreichungskontrolle wie die goal attainment scale (vgl. Smith 1976) sind immer noch die Ausnahme. Während seit Generationen über „smarte“ (spezisch–messbar–ambitioniert–realistisch–terminisiert) Ziele diskutiert wird, zeigt die Fachwelt, dass Ziele besser „fast“ als „smart“ sind (vgl. Sull/Sull 2018). 4.5 Hierarchische StrukturenNach wie vor ist die Kinder- und Jugendhilfe hierarchisch organisiert. Das Modell der Behörde wird von den privaten Organisationen meist gespiegelt. Nicht-hierarchische Konzepte werden nicht diskutiert, so als hätten Organisationskulturen keinen Einuss auf die Qualität. Und das in einem hochkomplexen System: „Hierarchie kann mit Komplexität nicht umgehen“ (Laloux 2017: 59). Die Verluste, die durch hierarchisches Führungsverhalten entstehen, begünstigen das Scheitern von Unterstützungsprozessen. Konzepte der Selbstführung, die für kleine Organisationseinheiten nahe liegen, sind bisher nicht im System angekommen. Diese hierarchischen Organisationen übertragen das Misstrauen gegenüber den Kindern, Jugendlichen und Eltern auf ihre Mitarbeiter*innen: auch diesen ist nicht zu glauben, würden sie oen über ihre Organisation und die Abläufe dort sprechen.4.6 Behördenlogik widerspricht FehlerkulturDie Drehscheibe der Kinder- und Jugendhilfe bildet der Jugendhilfeträger, also die Landesabteilungen und ihre Bezirksverwaltungsbehörden (BVB). Das Wort Jugendamt, weil mit zu viel Negativem verknüpft, wurde inzwischen als falsch punziert. Ob nun in alter Manier oder im Mantel des New Public Management, diese Behörden haben eine grundlegend ablehnende Haltung gegenüber dem, was in der Fachwelt Fehlerkultur genannt wird. Bei einer Arbeit, die es mit sehr komplexen und wenig standardisierten (und auch wenig standardisierbaren) Prozessen zu tun hat, ist diese Fehleraversion fatal für die Betroenen. Nicht von ungefähr meinte Eileen Munroe (2008), dass der wichtigste positive Faktor im Kinderschutz die Haltung ist, dass man/frau sich irren könnte. Munroe wertete für ihre Studie Fallanalysen weltweit aus. Im punkto Fehlerkultur zeigt sich, wie lernresistent ein System sein kann: „Eine solch oene und lernorientierte Einstellung zu Fehlern ist allerdings selten. Vielmehr werden, wenn Fachleute und professionelle Organisationen Fehler machen, gern erst einmal Vorwürfe erhoben. Dann stehen Angst und Abwehr im Vordergrund, und die beteiligten Professionellen können ihren Fehlern nichts abgewinnen.“ (Biesel Wol 2014: 33)Aus Österreich gibt dazu empirisches Material der Kinder- und Jugendanwaltschaft. Im Abschlussbericht einer Expert*innenkommission wird die Komplexität im Bereich Kinderschutz hervorgerufen, wo „‚auch die besten‘ ProfessionistInnen Fehler machen. Entscheidend ist, dass Fehler zugelassen und reektiert werden und man aus ihnen lernen will – wie auch aus bemerkenswerten Erfolgen. Der größte Fehler ist es, Fehler nicht zu nutzen! (Kinder- und Jugendanwaltschaft Kärnten 2017: 4, Herv.i.O.)4.6 Behördenlogik widerspricht FehlerkulturDie Forschung zum stationären Bereich der Kinder- und Jugendhilfe (vgl. Höllmüller 2019) macht deutlich, dass rund ein Drittel der Kinder und rund ein Viertel der Jugendlichen nicht in der Einrichtung sein wollen, in der sie sich benden. Befragt wurden 129 Jugendliche und 62 Kinder. Diese Kinder und Jugendlichen leiden unter der Fremdunterbringung, die ihnen eigentlich helfen sollte – und das gesamte System tut so, als wäre das ein zu akzeptierender Nebeneekt. Dieser Zwang in den stationären Einrichtungen spielt zusammen mit dem (expliziten und impliziten) Zwang der BVBs gegenüber Eltern, sich den Vorgaben zu unterwerfen. Diese Unterwerfung wird öfters auch noch partizipativ verbrämt. Um nicht missverstanden zu werden: Kinderschutz berechtigt zu Interventionen gegen den Willen von Eltern und Kindern – aber wir wissen rein gar nichts über die Tresicherheit der Kinder- und Jugendhilfe. Zu den Gefahr-im-Verzug-Maßnahmen gibt es bis dato keine einzige wissenschaftliche Forschung. Zum Thema Zwang formuliert auch das Positionspapier eher vage: „‚Hilfe im Zwangskontext‘ und damit verbunden auch das Thema ‚Arbeit mit unfreiwilligen Klientinnen und Klienten‘ bestimmt maßgeblich Soziale Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe. Die Notwendigkeit des teils ‚wohlfahrtspolizeilichen Handelns‘ fordert die Soziale Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe in besonderer Art und Weise.“ (Forstner et al. 2021: 13)Die Frage stellt sich, wieso es keinen Fachdiskurs zum Zwang in der Kinder- und Jugendhilfe gibt, wieso es keine eigenen Konzepte und Methoden gibt, die diesen Zwang berücksichtigen. Die Berufsethik des österreichischen Berufsverbandes spricht einfach nicht von diesem Zwang, so als würde er dann verschwinden (vgl. OBDS 2020).5 Theoretische BezügeNaheliegend bei einer Auseinandersetzung in diesem Journal soziales_kapital ist die theoretische Rückbindung dieser Phänomene an Bourdieu und sein Habitus-Konzept bzw. seine Formen der Kapitalien. Bourdieu hat nicht nur ein deskriptives Verständnis vom sozialen Kapital als Netzwerk von Beziehungen im Sinn. Soziales ist für ihn nicht automatisch uneigennützig, auch hier lässt sich Prot anstreben. Wissenschaftliche Analyse „muss sich deshalb bemühen, das Kapital und den Prot in allen ihren Erscheinungsformen zu erfassen und die Gesetze zu bestimmen, nach denen die verschiedenen Arten von Kapital (oder, was auf dasselbe herauskommt, die verschiedenen Arten von Macht) gegenseitig ineinander transformiert werden.“ (Bourdieu 1983: 185) Wer akkumuliert soziales Kapital und damit Macht in der Kinder- und Jugendhilfe? Welcher Habitus besteht in der Kinder- und Jugendhilfe? Welche Akteur*innen tragen diesen Habitus? Es gibt dazu wenig Forschung. Wenn, dann geht es um die Beziehungen nach Außen, aber nicht um die sozialen Strukturen innerhalb des Systems. Ein zweiter theoretischer Bezug ist die soziologische Systemtheorie von Luhmann, die die Verschiebung von Handlung auf Kommunikation konstatiert: Es zählt, was kommuniziert wird, und jede Handlung wird nur durch Kommunikation real (vgl. Luhmann 1999). Die Euphemismen in der Kinder- und Jugendhilfe bei gleichzeitigem Fehlen von (wieder kommuniziertem) Feedback der Adressat*innen verweist auf die Fähigkeit des Systems, sich kommunikativ an seine Umwelten anzupassen. Ein extremes Beispiel für beschönigende Sprachregelung ist die Bezeichnung für einen speziellen Raum, den es in einer teilgeschlossenen und inzwischen von der Behörde aufgelassenen stationären Einrichtung gab. Der Name dieses Raumes war „Antiaggressionsraum“. Dort befand sich ein Gurtenbett mit fünf Gurten, wo Jugendliche festgeschnallt wurden (vgl. Land Brandenburg 2013). Im Unterschied zu Österreich gibt es in Deutschland die Möglichkeit, Kinder- und Jugendliche im Kontext der Kinder- und Jugendhilfe geschlossen unterzubringen, sie also in ihrer Bewegungsfreiheit einzuschränken. Diese Einrichtung wurde zwar nach mehreren Skandalen geschlossen, war aber über ein Jahrzehnt aktiv und über diese „Antiaggressionsräume“ wurden oen gesprochen. Andere Erklärungsmodelle für die Phänomene, wider besseren (Fach-)Wissens zu agieren, kommen aus der Psychologie: Cognitive bias sind inzwischen gut beforschte „Denkfehler“, bei denen die Komplexität von Welt auf eindeutig verzerrende Weise reduziert wird. Einer ist die moralische Lizenzierung als ein Gefühl von moralischer Überlegenheit: „Es scheint also so, als benutzten wir die vermeintliche moralische Überlegenheit als Rechtfertigung für schlechtes Verhalten. Genauso wie Menschen glauben wollen, dass sie klüger sind als der Durchschnitt (ein gut beobachtetes Phänomen namens ‚Overcondence Bias‘), scheinen sie auch glauben zu wollen, dass sie moralisch überlegen sind.“ (Democraseeds 2021) Aus dem Selbstverständnis heraus, Gutes zu tun, zu helfen, zumindest zu unterstützen, ist es einfacher, auch etwas schlechtes oder schädliches zu tun. In anderen Worten: die gute Sache legitimiert Intransparenz und geheime Absprachen bis zu Absprachen bei Auftragsvergaben. Ein zweites Modell zu Erklärung ist Groupthink nach dem Psychologen Irving Janis (1972). Das Modell zeigt, wie Gruppenentscheidungen wider besseren Wissens massive und für die Betroenen auch sehr schmerzhafte Fehlentscheidungen werden können: „Groupthink bezeichnet das dem kritischen Einzelverstand entgegengesetzte Gruppengeist-Denken. Dabei ordnet der Einzelne im Team seine eigene, kritische Meinung dem scheinbaren Konsens der Teammehrheit unter. Nicht der eigene Sachverstand, sondern die Gruppennorm dient als Orientierung für Entscheidungen […] Dieses Verhalten ist meist dadurch motiviert, die Harmonie im Team zu erhalten und den Zusammenhalt zu fördern, führt allerdings tendenziell dazu, Konikte zu vermeiden und träge zu werden. […] Besonders kritisch ist, dass verschiedene Studien immer wieder neu belegen, dass ein erheblicher Prozentsatz von Personen das eigene Urteil selbst dann dem Urteil der Gruppe anpasst, wenn dieses oensichtlich falsch ist.“ (soft-skills o.J.) 4.4 Wer erhält dieses System aufrecht und ist somit verantwortlich dafür?Systemanalysen psychologisieren nicht. Es sind entsprechend nicht einzelne Personen, die dem System der Kinder- und Jugendhilfe ihren Stempel aufdrücken. Und trotzdem haben in diesem hierarchischen System mit paternalistischer und expertokratischer Leitkultur Einzelpersonen in entsprechenden Entscheidungspositionen eine große Gestaltungsfreiheit, solange sie systemkonform kommunizieren. Je nach Person kann also vieles in die eine oder andere Richtung gehen. Es fehlt aber bisher der Reexionsraum, um die Mechanismen dieses Systems zu diskutieren. Erst in solchen Räumen könnte die Disziplin Soziale Arbeit mit der Profession in einen Austausch kommen, der strukturelle Veränderungen ermöglicht. Game-Changer gäbe es genug. Dazu wieder das Positionspapier mit seinen fachlichen Forderungen: „Verpichtende Umsetzung Sozialer Diagnostik. Einführung des Familienrats als Bestandteil der Hilfeplanung in jedem Bundesland. Ausbau von familienanalogen Betreuungsformen und Professionalisierung des Pegeelternwesens. Externe Analysen laufender Unterbringungsfälle im Sinne einer Continuity of Care Unit“ (Forstner et al. 2021: 19).Inzwischen sind es die Personen auf den Leitungsebenen der Behörden und privaten Organisationen, die das System aufrechterhalten. Nicht die Mitarbeiter*innen, die mit den Adressat*innen zu tun haben und teilweise hoher Fluktuation in den Teams ausgesetzt sind. Die Personen auf den Leitungsebenen akkumulieren soziales, symbolisches und auch ökonomisches Kapital (Wie transparent sind Gehälter von pädagogischen Leitungen, Geschäftsführungen und Abteilungsleitungen?) und verfestigen damit einen Habitus, der zwar Innovationen im System zulässt und manchmal geradezu fordert, aber keine Innovation des Systems.LiteraturverzeichnisBiesel, Kay/Wol, Reinhart (2014): Aus Kinderschutzfehlern lernen. Bielefeld: Transcript.Bourdieu, Pierre (1983): Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In: Kreckel, Reinhard (Hg.): Soziale Ungleichheiten. Göttingen: Soziale Welt, Otto Schwartz und Co, S. 183–198.Democraseeds (2021): Moralische Lizenzierung erkennen und moderieren. 24. März 2021. https://democraseeds.de/moralische-lizenzierung-erkennen-und-moderieren/ (10.04.2021).Forstner, Marianne/Höllmüller, Hubert/Radauer, Hans Peter (2021): Kinder und Jugendhilfe in Österreich. 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Eine elementare Einführung, Springer VS 2022.