soziales_kapitalJulia Märk. “Vom Scheitern in der Sozialen Arbeit.” soziales_kapital, no. 26 (2022). Rubrik „Junge Wissenscha“. Vorarlberg. Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/view/753/1403.pdf_Vom Scheitern in der Sozialen ArbeitJulia MärkSoziale Innovation 26. Ausgabe Juni 2022ZusammenfassungDie (Klinische) Soziale Arbeit begegnet dem Scheitern täglich. In der Sozialen Arbeit wird vermehrt mit Menschen gearbeitet, die in ihren Lebensverhältnissen als gescheitert wahrgenommen werden. Trotz dieser Allgegenwärtigkeit des Scheiterns, befasst sich die Soziale Arbeit im deutschsprachigen Raum kaum mit der empirischen Erforschung und theoretischen Rahmung des Scheiterns. Dieser Artikel basiert auf der Masterarbeit Von der Bedeutung des Scheiterns in der Sozialen Arbeit. Eine diskursanalytische Betrachtung (2020). Die Masterarbeit unternimmt eine kritische Diskkursanalyse nach Jäger, die an die Diskurstheorie von Foucault angelehnt ist. Dafür wurden Schreibbeiträge von Sozialarbeiter*innen aus Vorarlberg zum Scheitern analysiert, welche im Forschungsprozess erhoben wurden. Der Artikel schat einen Einblick ins Thema Scheitern in der Sozialen Arbeit und kann als Inspiration dienen, um sich vertiefend mit dem Thema auseinanderzusetzen und somit dem Forschungsdesiderat zum Scheitern entgegenzutreten. Schlagworte: Scheitern, Scheitern in der Sozialen Arbeit, Klinische Soziale Arbeit, Kritische Diskursanalyse, Schreibbeiträge, Reexion Abstract(Clinical) social work faces failure every day. Social work increasingly works with people who are perceived as failed on many occasions in their life circumstances. Despite this ubiquity, social work in the German speaking area hardly deals with the empirical research and theoretical framing of failure. The article is based on the master‘s thesis Von der Bedeutung des Scheiterns in der Sozialen Arbeit. Eine diskursanalytische Betrachtung (2020). The thesis undertakes a Critical Discourse Analysis according to Jäger, which is based on Foucault´s discourse theory. For this purpose, writing contributions from experienced social workers from Vorarlberg/Austria on failure were analyzed. The paper provides insights into the subject of failure in social work and can serve as an inspiration to deal with the issue of failure in depth and thus address the existing research desideratum on failure. Keywords: failure, failure in social work, clinical social work, critical discourse analyses, written contributions, reection 1 EinleitungDas Wort scheitern stammt aus dem Altgermanischen und kann auf den Ausdruck „gespaltenes Holzstück“ zurückgeführt werden. Geschichtlich hat das Verb die Bedeutung „zerschellen, in Stücke gehen“. Bis heute wird in der Seefahrt von einem gescheiterten Schi gesprochen, wenn ein Schi verunglückt. Ebenso ist der Begri in der Kunst präsent, wo er verwendet wird, um Verzweiung auszudrücken. Heute wird das Verb scheitern mit „misslingen, versagen, erfolglos“ verbunden (vgl. Burmeister/Steinhilper 2015: 15–16). Scheitern begleitet Menschen über die gesamte Lebenszeit: In der Kindheit scheitern die ersten Gehversuche, in der Jugendzeit scheitert (meist) die erste große Liebe, im Laufe der Jahre scheitern Beziehungen und gesetzte Ziele werden nicht erreicht (vgl. Burmeister/Steinhilper 2015: 11–12). Gesellschaftliche Strukturen und soziale Ungleichheit führen zu Scheiter-Erfahrungen von Menschen. Im Arbeitsbereich wird der Leistungsdruck stark erhöht, prekäre Arbeitsverhältnisse und die Zahl der sogenannten working poor nehmen zu. Im Bereich Wohnen scheitert es an bezahlbaren Mietpreisen und adäquaten Wohnmöglichkeiten, die Zahl der von Wohnungs- und Obdachlosigkeit betroenen Personen ist hoch. Eine besondere Dimension des Scheiterns stellen der derzeit herrschende Umgang mit geüchteten Menschen und die regelmäßigen Menschenrechtsverletzungen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union dar. Im Bereich Klimaschutz scheitert es derzeit vielfach an nachhaltigen Strategien, um die globale Klimaerwärmung zu verlangsamen bzw. einzudämmen. Trotz der Präsenz des Scheiterns bleibt Scheitern oftmals unausgesprochen und tabuisiert (vgl. Junge/Lechner 2004: 8–10). Auch befasst sich die Soziale Arbeit im deutschsprachigen Raum kaum mit der empirischen Erforschung und den theoretischen Grundlagen des Scheiterns. In der Sozialarbeitsliteratur wird auf dieses Forschungsdesiderat hingewiesen, tendenziell in Beiträgen zur Professionalisierung der Sozialen Arbeit (vgl. Mörgen 2020: 341; Junge 2014: 22–23; Biesel 2008: 8–10). Soziale Arbeit bewegt sich ihrem Verständnis nach stets an der Schnittstelle zwischen den Bedürfnissen von Klient*innen, Ansprüchen der Institutionen und Forderungen von Politik und Öentlichkeit (vgl. Staub-Bernasconi 2007: 12). In diesem Spannungsfeld ist eine vertiefte Auseinandersetzung mit Scheitern zentral, da eine Konfrontation in der Praxis der Sozialen Arbeit mit Scheitern unausweichlich ist. In der Auseinandersetzung mit dem Scheitern in unterschiedlichen Bezugswissenschaften der Sozialen Arbeit zeigt sich ein Trend, das ‚Scheitern als Chance‘ zu begreifen oder vom ‚produktiven Scheitern‘ zu sprechen. Dadurch ndet eine Transformation des Konzepts statt – von Niederlage oder Versagen zur Chance oder zum Neubeginn. Dies kann kritisch betrachtet werden, denn somit wird Scheitern in einen anderen Bezugsrahmen eingebettet und folglich inakzeptabel. Das Wahrnehmen und das Erfassen des Scheiterns an sich, ohne sofortige positive Umwandlung, ist dann tabuisiert und nicht geduldet (vgl. Junge/Lechner 2004: 7–8; Märk 2020: 12). Die Denition des Scheiterns ist stets von der betrachtenden Person und von Perspektiven und Bewertungen abhängig. Scheitern ist eine soziale Konstruktion und wird von den unterschiedlichen Beurteilungen und Ansprüchen von Sozialarbeiter*innen, Adressat*innen, Institutionen und gesellschaftlichen und politischen Strukturen bedingt. Scheitern kann folglich als ein Ergebnis von Interpretationen und Erlebnissen wahrgenommen werden (vgl. Zimm/Bergthaler 2019: 97–99). Derzeitige politische und gesellschaftliche Strukturen und soziale Ungleichheit führen vermehrt zu Individualisierungsprozessen. Die Verantwortung über das Gelingen und/oder Scheitern wird zunehmend an die einzelnen Individuen delegiert. Somit ist eine Individualisierung des Scheiterns erkennbar, da soziale Verhältnisse, die ein Scheitern der Adressierten auslösen beziehungsweise Aspekte des Scheiterns bedingen, ignoriert werden. Ebenso werden soziale Probleme immer stärker individualisiert und privatisiert. Klinische Soziale Arbeit arbeitet häug mit Personen und Gruppen am Rande der Gesellschaft, welche tendenziell öfter Scheiter-Erfahrungen gemacht haben. Im herrschenden öentlichen Diskurs werden die Scheiter-Erfahrungen dieser Personen häug als selbstverschuldet begrien. Diese gesellschaftlichen Tendenzen erfordern von der Sozialen Arbeit einen wachen und kritischen Blick in Hinblick auf soziale Probleme und soziale Verhältnisse. Ebenso benötigt es von Sozialarbeiter*innen einen oenen Umgang mit eigenen Scheiter-Erfahrungen, um den Arbeitsalltag voller Ungewissheit und Ambivalenzen auszuhalten (vgl. Biesel 2011: 36–39; Märk 2020: 13, 17–18). 2 Die Forschungsarbeit im Überblick Aufgrund der Gegenwärtigkeit des Themas Scheitern wurde die Masterarbeit Von der Bedeutung des Scheiterns in der Sozialen Arbeit. Eine diskursanalytische Betrachtung (2020) verfasst. Die Masterthesis beschäftigt sich mit dem Scheitern, also dem nicht erfolgreichen Handeln in der Klinischen Sozialen Arbeit. Die Masterarbeit hatte zum Ziel, die Wirkung des Diskurses und die Bedeutung des Scheiterns in der Sozialen Arbeit zu beleuchten. Im Zentrum der Analyse stand die Frage, wie der Diskurs rund um das Thema Scheitern in der Klinischen Sozialen Arbeit gestaltet ist und wie Sozialarbeiter*innen Scheitern in der Sozialen Arbeit und ihr eigenes Scheitern beschreiben und erleben. Den theoretischen Rahmen bildete die Kritische Diskursanalyse nach Jäger, angelehnt an die Diskurstheorie nach Foucault (2019). Sie wurde verbunden mit der Handlungstheorie nach Staub-Bernasconi (2018), wobei der Umgang mit Macht in der Sozialen Arbeit insbesondere fokussiert wurde. Für den methodischen Teil wurde die Methodologie der Kritischen Diskursanalyse nach Jäger (2015) herangezogen. Aufgrund der fehlenden Forschung zum Thema Scheitern in der Sozialen Arbeit wurde selbstständig erhobenes Datenmaterial ausgewertet und analysiert. Ziel der Datenerhebung war es, Sozialarbeiter*innen einen Raum zu schaen, in dem ein Nachdenken und eine Reexion über Scheitern möglich ist, und somit auch den Diskurs zum Scheitern anzuregen. Um Sozialarbeiter*innen diesen Reexionsraum zu geben, wurden Schreibbeiträge verfasst und ausgewertet. Die teilnehmenden Sozialarbeiter*innen wurden aufgefordert, in einem Zeitraum von zwei Wochen Gedanken, Reexionen, Erlebnisse und Wahrnehmungen zum Thema Scheitern in der Sozialen Arbeit aufzuschreiben. Im Zuge der theoretischen und methodischen Auseinandersetzung zeigte sich, dass in sozialwissenschaftlichen Diskursanalysen tendenziell sekundäre Daten der Analyse unterzogen werden (vgl. Traue/Pfahl/Schürmann 2014: 501–502). Diese Ansicht teilt die Kritische Diskursanalyse nach Jäger nicht. Diese lehnt Standardisierung im Forschungsprozess ab und fordert Oenheit und kreatives Denken. Die Kritische Diskursanalyse kann als Werkzeugkiste betrachtet werden, welche verwendet, adaptiert und erweitert werden kann. Es gibt einige Projekte von Jäger (vgl. z.B. Jäger 1993; Jäger 2015), in denen selbst erhobenes Datenmaterial verwendet wird. Bei der eigenen Erhebung des Datenmaterials ist bedeutend, dass die Datenerhebung auf keinen standardisierten Fragen basiert. Vielmehr ist darauf zu achten, dass Teilnehmer*innen möglichst frei zum Forschungsthema Stellung nehmen können, damit eine starke Beeinussung des Diskurses vermieden wird (vgl. Jäger/Zimmermann 2019: 119). Bei der Wahl von Schreibbeiträgen als Datengrundlage wurden mehrere Aspekte berücksichtigt. Der Vorteil von schriftlichen Befragungen ist, dass die eigenen subjektiven Erfahrungen und Erlebnisse der Forschungsteilnehmer*innen im Fokus stehen. Ziel war es, einen Reexionsprozess bei den teilnehmenden Sozialarbeiter*innen zu fördern. Hier zeigt sich, dass die zeitliche Dimension von zwei Wochen die reexive Auseinandersetzung mehr steigern kann als beispielsweise ein Interview, welches nach kurzer Zeit abgeschlossen ist. Ebenso wurde davon ausgegangen, dass die oene und ehrliche Thematisierung des vielfach tabuisierten Scheiterns in schriftlicher Form leichter fällt als im direkten Gespräch. Darüber hinaus waren die Teilnehmer*innen zeitlich exibel, sie konnten selbst wählen, wann und wo geschrieben wird. Für das Schreiben konnte ein selbstgewählter inspirierender Raum aufgesucht werden. Außerdem wurden während der Auseinandersetzung mit dem Thema Scheitern die Auswirkung und Beeinussung der Befragten durch die Forscherin berücksichtigt. Es wurde die Annahme getroen, dass bei Interviews die Dimension „Junge Frau als Interviewerin“ auf die Sozialarbeiter*innen unterschiedlich wirken könnte und somit eine stärkere Beeinussung des Diskurses stattnden könnte als in schriftlicher und anonymisierter Form. Für die Schreibbeiträge wurden Sozialarbeiter*innen aus verschiedenen Arbeitsbereichen der Klinischen Sozialen Arbeit ausgewählt, welche als sognannte front-line social worker arbeiten. Die Suche und Auswahl der Teilnehmer*innen erfolgte über unterschiedliche Wege. Der Gesamtkorpus besteht aus elf Schreibbeiträgen von Sozialarbeiter*innen, die in der Praxis der Sozialen Arbeit in Vorarlberg (Österreich) tätig sind. Alle Schreibbeiträge sind im Zeitraum von Mai bis August 2020 entstanden. Die Schreibbeiträge wurden mittels Kritischer Diskursanalyse analysiert. Dabei wird erfasst, was in einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort sagbar ist beziehungsweise war. Ebenso beinhaltet die Diskursanalyse Strategien, um das noch zu Sagende und das Verschwiegene in die Analyse einzubeziehen und zu erfassen. Diskurse zeigen, welches Wissen zu einem gegebenen Zeitpunkt in einem bestimmten sozialen Kontext vorhanden ist und als normativ und richtig bewertet wird. Oftmals besteht die Annahme, dass Diskurse die Wirklichkeit abbilden. Die Kritische Diskursanalyse teilt diese Vorstellung nicht, vielmehr geht sie davon aus, dass Diskurse ein Teil der Wirklichkeit sind und diese formen und prägen. Folglich zeigt sich, dass Diskurse nicht Realitäten abbilden, sondern vielmehr selbst Realitäten und Vorbilder für gesellschaftliches und individuelles Handeln sind (vgl. Jäger 2015: 170–171). Nach Foucault bilden Diskurse einen Macht-Wissenskomplex. Foucault schreibt dazu: „Der Diskurs […] ist dasjenige, worum und womit man kämpft; er ist die Macht, deren man sich zu bemächtigen sucht.“ (Foucault 2019: 11) Diskurse wirken also auf das Verhalten ein und können Macht- und Herrschaftsverhältnisse legitimieren. Über die gesamte Forschungsarbeit hinweg wurde die eigene Rolle als Forscherin kritisch reektiert. Die Forscherin bewegt sich in der Auseinandersetzung mit und Bewertung der Thematik stets innerhalb von Diskursen. Hierbei ist bedeutend, dass sich forschende Personen auf ethische Grundlagen berufen. Eine Positionierung ist deshalb nie die endgültige Wahrheit, sondern das Ergebnis eines diskursiven Prozesses (vgl. Jäger/Zimmermann 2019: 21). Foucault beschreibt dazu, dass Kritik vor allem aus einer ethischen und moralischen Haltung heraus vorgenommen wird und es sich dabei um eine subjektive Wahrheit handelt, die im Forschungsprozess thematisiert werden muss (vgl. Foucault 1992: 12; Jäger/Zimmermann 2019: 21). Nach Foucault ist Kritik „eine moralische und politische Haltung, eine Denkungsart, welche ich nenne: Die Kunst nicht regiert zu werden bzw. die Kunst nicht auf diese Weise und um diesen Preis regiert zu werden“ (Foucault 1992: 12). Kritische Diskursanalysen haben niemals den Anspruch, allgemeingültige Antworten zu liefern. Diskursstränge dürfen nie isoliert betrachtet werden, sondern müssen stets einen Zusammenhang mit dem gesamtgesellschaftlichen Diskurs aufweisen. Foucault stellt diesbezüglich fest, dass der gesamtgesellschaftliche Diskurs in seiner unendlichen Größe keiner vollumfänglichen Analyse unterzogen werden kann. Entsprechend hat die Kritische Diskursanalyse nicht das Ziel, das gesamte Wissen einer Analyse und Kritik zu unterziehen, sondern vielmehr, tabuisierte Themen in einer bestimmten Zeit an einem bestimmten sozialen Ort zu beschreiben und zu betrachten (vgl. Jäger 2015: 92–93; Jäger/Zimmermann 2019: 122). 3 Von der Bedeutung des Scheiterns in der Sozialen Arbeit Die Forschungsanalyse und Auswertung der Schreibbeiträge zeigt, dass ein Konsens darüber besteht, dass die Soziale Arbeit dem Scheitern begegnet und es ein bedeutendes Thema für die Professionellen darstellt.1 Scheitern wird als alltäglich und als Teil des Menschseins beschrieben. Es zeigt sich in den Schreibeiträgen in all seinen Facetten und voller Individualität. Somit lässt sich deutlich erkennen, dass Scheitern nicht normativ beantwortbar ist und es keinen normativen Bezugsrahmen im Umgang mit Scheitern gibt. Trotz der Diversität von Scheiter-Erfahrungen treten im Diskurs viele Überschneidungen, Verstrickungen und Verechtungen auf. Die Analyse der Beiträge zeigt deutlich die Positionierung der Sozialen Arbeit als Profession. In den Schreibbeiträgen wird berichtet, dass hohes Fachwissen benötigt wird, um die Komplexität des Arbeitsalltags und der Fallkonstellationen zu erkennen und zu intervenieren. „Sozialarbeiter*innen und Institutionen müssen lernen, sich in der Komplexität der Moderne zu positionieren und zu bewegen, komplizierte und zu scheitern scheinende Fallsituationen auszuhalten und im Tanz mit der Ungewissheit zu intervenieren.“ (Märk 2020: 18) Zudem zeigt sich, dass das Stillschweigen bezüglich ausgrenzender gesellschaftlicher Strukturen und damit verknüpft das Nicht-Wahrnehmen des politischen Auftrags als Scheitern der Sozialen Arbeit wahrgenommen wird. Mehrfach wird in den Schreibbeiträgen explizit für die Wahrnehmung und Stärkung des politischen Auftrags der Sozialen Arbeit plädiert. Diese Forderung spiegelt sich auch im deutschsprachigen sozialarbeitswissenschaftlichen Diskurs wider. Staub-Bernasconi (2007) beschreibt, dass die Soziale Arbeit als Profession im deutschsprachigen Raum noch Entwicklungsbedarf hat. Sie fordert ein Professionsverständnis, dem entsprechend Handeln wissenschaftlich begründet und reektiert wird, und dass sich gezielt in unterschiedliche transdisziplinäre Diskurse eingebracht wird. Die Soziale Arbeit als Profession hat nach Staub-Bernasconi den Auftrag, sich vermehrt in den sozialpolitischen Diskurs einzumischen, eine Rolle im sozialpolitischen Gestaltungsprozess einzunehmen und somit politische Entscheidungen mit fachlicher Expertise zu beeinussen (vgl. Staub-Bernasconi 2007: 9–13). Die Analyse zeigt deutlich, dass die Profession Soziale Arbeit in einem Feld agiert, in dem Scheitern zum Alltag gehört. Besonders strukturelle Rahmenbedingungen führen zu Scheiter-Erfahrungen von Sozialarbeiter*innen in der Praxis. Gesellschaftliche und politische Rahmenbedingungen wirken auf die Klient*innen der Sozialen Arbeit und deren Lebensbedingungen. Die Beiträge heben deutlich die fehlenden Angebote und Barrieren zum Hilfesystem hervor, durch welche Adressat*innen ausgegrenzt und die Würde des Menschen gefährdet wird. Ein*e Teilnehmer*in hält beispielsweise fest: „Er kommt heute zu mir ins Büro völlig starke und kaum aushaltbare Neurodermitis. Er eht um eine Creme, die die Schmerzen lindert. Im System ist er nicht… ich kann ihn nicht zum Arzt schicken, da er keine e-card besitzt, sprich keinen Zugang zur gesundheitlichen Versorgung. […] Was mache ich als SA? Wenn das System so dermaßen versagt? Ich brauche ein Rezept […] ein Rezept bekommt er aber nur bei einem Arzt?!! Der Kreislauf beginnt …. Und das nur weil das System versagt und die ‚Randständigen‘ noch mehr zu ‚Randständigen‘ macht.“ Ebenso wird in den Schreibbeiträgen vermehrt auf die knappen Zeit- und Personalkapazitäten im Arbeitsalltag hingewiesen. Dies zeigt sich einerseits in der Arbeit mit Adressat*innen, beispielsweise an der fehlenden Zeit für Beziehungsarbeit, und andererseits wirkt dies auf die bio-psycho-soziale Ebene der einzelnen Sozialarbeiter*innen. Fehlende Ressourcen, knappe Kapazitäten und Arbeitsbelastungen können bei Sozialarbeiter*innen zu Ohnmachtsgefühlen, Stress und Energielosigkeit führen. Folgende Zitate aus den Schreibbeiträgen zeigen dies in eindrucksvoller Weise: „Scheitern auf struktureller Ebene: jedes Jahr zu Urlaubszeit wird es besonders eng – wer übernimmt die ganzen Vertretungen? Wie immer: großes Schweigen, da alle am Limit sind. […] Ich erlebe das Scheitern unserer Stelle und unserer Strukturen. Zudem steht eine Reduzierung, budgetär und personell im Sozialbereich an – wie soll das funktionieren?“ „Es heißt ja, wir sollten uns strukturell, politisch für unsere Klient*innen und ein gutes soziales Sicherungssystem, gerechte Verteilung etc. etc. etc. einstehen (das wäre wirklich wirklich wichtig). Ehrlich? Das schae ich nicht. […] Ich muss nach Feierabend akribisch darauf achten, dass meine Energien wieder gefüllt werden.“ „Vielleicht haben wir bereits das Vertrauen in die Politik und an Veränderung verloren und die einstige Wut wurde zum Ohnmachtsgefühl.“ In den Beiträgen ist erkennbar, dass strukturell dezitäre Rahmenbedingungen vielfach individuelle und bedürfnisspezische Interventionen sowie neue kreative Problembearbeitungen verhindern. Dies zeigt sich in den folgenden Zitaten aus den Schreibbeiträgen von unterschiedlichen Sozialarbeiter*innen deutlich: „Ganz schlimm nde ich es, wenn von unserer Seite her gemeinsam mit solch einem ‚Systemsprenger‘ eine passende Anschlussperspektive erarbeitet wurde, diese aber nicht nanziert werden möchte, obwohl es die einzige adäquate Option wäre.“ „Dabei werden Projekte nicht nanziert, weil diese bürokratischen Vorschriften nicht ganz entsprechen. Diese Projekte, welche von anderen Bundesländern sehr wohl Zuspruch erfahren, werden nicht nanziert. Zuvor ist es mehr rechtens den Jugendlichen auf der Straße leben zu lassen. Dass ist für mich eine unbürokratische & unmenschliche Politik, die einer meiner Erfahrungen zum Thema Scheitern in der Sozialen Arbeit darstellt.“ Klinische Soziale Arbeit hat die Möglichkeit, multikomplexe Problemlagen mit ihrem spezischen Wissen und ihren Kompetenzen ganzheitlich zu betrachten und ihnen entgegenzutreten, scheitert jedoch oftmals genau daran. Es lässt sich in aller Deutlichkeit feststellen, dass Sozialarbeiter*innen zukünftig stärker zusammenarbeiten müssen, um Arbeitsbedingungen zu schaen, die eine innovative und adäquate Arbeit im Sinne der ganzheitlichen Betrachtung ermöglichen. Scheitern wird in den Schreibbeiträgen als großes gesellschaftliches Tabuthema beschrieben. In einer Gesellschaft, die stark an Leistung und Erfolg orientiert ist, ist Scheitern laut den Teilnehmenden durchwegs negativ konnotiert. Über alle Schreibeiträge hinweg ist sichtbar, dass Scheitern im kleinen sicheren Rahmen thematisierbar ist – institutionell oder gar gesellschaftlich ist ein oener und ehrlicher Umgang mit Scheitern bisher verstellt. In den Schreibbeiträgen wird deutlich, dass die Arbeit mit multiproblembelasteten Menschen durch Krisen, Abbrüche und neuerliche Versuche geprägt ist. Besonders in der Beziehungsarbeit im klinischen Arbeitskontext benötigt es vielfach Geduld von Sozialarbeiter*innen als auch Adressat*innen. In einem Schreibbeitrag wird beschrieben, dass es ein Scheitern wäre „nicht dranzubleiben, wenn es einmal schwierig wird.“ Ebenso werden im Materialkorpus Kollektivsymboliken verwendet, um Interventionsversuche und herausfordernde Situationen zu beschreiben: „Ich habe es mit Verständnis, Milde, Strenge und scharfen Worten versucht – nichts kam durch diesen Nebel der Psychose […]. Ich war sehr müde dann. Die Frau hat mir leidgetan, weil sie keinen Platz für sich gefunden hat und vor allem nicht in sich.“ Gerade aufgrund dieses herausfordernden Arbeitsumfeldes ist ein oener Umgang mit Scheitern essenziell. Scheitern wird als schmerzhaftes Ereignis wahrgenommen und ist mit negativen Gefühlen verknüpft. Umso wichtiger sind Räume, die ein Ansprechen von Scheiter-Erfahrungen von Klient*innen als auch dem eigenen Scheitern ermöglichen. Gerade für die Klinische Soziale Arbeit mit ihrem ganzheitlichen Fokus ist die Thematisierung des eigenen als auch gesellschaftlichen Scheiterns unerlässlich. Die Auseinandersetzung mit dem Scheitern wirkt unterstützend, fördert die eigene Identität und stärkt die Professionalität. Ebenso unterstützt das Ansprechen des Scheiterns den Umgang und die Bewältigung mit eben diesem und trägt somit zur Gesundheit und Selbstsorge von Sozialarbeiter*innen bei (vgl. Frühmann 2014: 198–200). Die Analyse der Schreibbeiträge zeigte, dass diese einen hohen Grad an Reexivität aufweisen. „Insgesamt lässt sich durch alle Texte hindurch feststellen, dass tägliche sozialarbeiterische Arbeit mit all ihren Facetten und Dimensionen des Scheiterns und trotz der ‚Monstertage‘ und ‚harten Wochen‘ voller Wertschätzung und Liebe ist.“ (Märk 2020: 84) 4 Über den Nutzen der Auseinandersetzung mit dem Scheitern in der Sozialen Arbeit Mit der Forschungsarbeit wurde ein Beitrag zur Enttabuisierung des Scheiterns geleistet und somit nach Jäger und Zimmermann die Etablierung eines Gegendiskurses in Hinblick auf die vorherrschende gesellschaftliche Tabuisierung geschaen. Hier wird ein Aspekt des politischen Anspruchs der Kritischen Diskursanalyse sichtbar (vgl. Jäger/Zimmermann 2019: 98–99). Hauke Witzel stellt die Forderung auf, dass eine kritische Soziale Arbeit bei ihrer Tätigkeit mit Adressat*innen in multikomplexen Problemlagen den Wunsch nach perfekten Interventionsprozessen einer kritischen Begutachtung unterziehen muss, da die Sehnsucht nach Perfektion zu einer Verfälschung von Wahrnehmungen führen kann (vgl. Witzel 2018: 223–225). Besonders klinische Sozialarbeiter*innen, die täglich mit Menschen arbeiten, welche gesellschaftlich als gescheitert wahrgenommen werden, sollten kritisch reektieren, inwieweit die Konfrontation mit Scheitern in der täglichen Praxis eine Aktivierung eigener Ängste mit sich bringt. Für emotionale Oenheit und ehrliche Beziehungsgestaltung ist eine Reexion des eigenen Scheiterns notwendig und unerlässlich (vgl. Märk 2020: 87). In den Arbeitsfeldern Sozialer Arbeit ist Perfektion und Eindeutigkeit nie vorhanden. Eine kritische Auseinandersetzung und Reexion des Scheiterns in der Sozialen Arbeit ist bedeutend, denn sobald Sozialarbeiter*innen die eigenen Konzepte idealisieren, erfolgt eine Immunisierung gegen Kritik. Soziale Arbeit braucht eine kritische Haltung und darf niemals aufhören, Fragen zu stellen (vgl. Pantucek/Posch 2009: 22–33). Der Nutzen und das Potenzial von Diskursanalysen liegen besonders in der Entwicklung und Förderung der Reexivität der Sozialen Arbeit. Diskursanalysen ermöglichen Sozialarbeiter*innen, ihr eigenes Handeln für einen Moment zu verlangsamen und die eigene Sprache einer theorie- und methodenbasierten Analyse und Reexion zu unterziehen. Insbesondere zeigen sich mittels einer kritischen Analyse Machtdimensionen der Sprache (vgl. Kessl 2011: 313–314, 319–320). Kessl setzt sich für diskursanalytische Herangehensweisen ein, um damit die professionelle Reexivität zu fördern (vgl. Kessl 2011: 313–314). Dabei geht es nicht nur darum, was gesagt wird, sondern auch wie es gesagt wird. 5 FazitDie Reexion des Diskurses zeigt deutlich, dass es in der Sozialen Arbeit Erfahrungen des Scheiterns gibt, die eine politische Positionierung ermöglichen beziehungsweise gar fordern. Das oene Ansprechen der sozialen Dimensionen des Scheiterns ist unausweichlich. Soziale Arbeit als Profession muss die eigene Sichtbarkeit in der Öentlichkeit stärken und sich einmischen, einbringen und ehrlich zu Wort melden. Die Masterarbeit hat sich intensiv mit dem teils tabuisierten Thema Scheitern auseinandergesetzt. Die Schreibeiträge der Masterarbeit sind diesmal anonymisiert, doch vielleicht wird schon beim nächsten Mal und vor großem Publikum über Scheitern gesprochen – kritisch, oen und laut.Verweise1 Bei den Darstellungen der Ergebnisse im folgenden Kapitel handelt es sich, wenn nicht mit anderen Quellen angegeben, um Auszüge aus der Masterarbeit (vgl. Märk 2020). Ebenso werden direkte Zitate aus dem Materialkorpus zu Verdeutlichung der Thematik herangezogen.LiteraturverzeichnisBiesel, Kay (2011): Wenn Jugendämter scheitern. Zum Umgang mit Fehlern im Kinderschutz. Bielefeld: Transcript. Biesel, Kay (2008): Zwischen Fehlervermeidung und -oenheit. Wo stehen die sozialen Hilfesysteme? In: Sozial Extra. Beruf und Qualikation, 11/12 (2008), S. 6–10.Burmeister, Lars/Steinhilper, Leila (2015): Gescheiter scheitern. Eine Anleitung für Führungskräfte und Berater. 2. Au. Heidelberg: Carl-Auer. Foucault, Michel (2019): Die Ordnung des Diskurses. 15. Au. Frankfurt am Main: Fischer.Foucault, Michel (1992): Was ist Kritik? Berlin: Merve.Frühmann, Renate (2014): Selbsterfahrung, Selbstreexion und Selbstsorge in Therapie, Beratung und Supervision. Reexionen aus 45 Jahren Praxis und Lehre. In: Gahleitner, Silke B./Reichel, René (Hg.): Wann sind wir gut genug? Selbstreexion, Selbsterfahrung und Selbstsorge in Psychotherapie, Beratung und Supervision. Weinheim/Basel: Beltz Juventa, S. 194–213. Jäger, Siegfried (2015): Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung. 7. Au. Münster: Unrast. Jäger, Siegfried (1993): BrandSätze. Rassismus im Alltag. 3. Au. Duisburg. DISS-Studien. Jäger, Siegfried/Zimmermann, Jens (2019): Lexikon Kritische Diskursanalyse. Eine Werkzeugkiste. Hg. in Zusammenarbeit mit der Diskurswerkstatt im DISS. 2. Au. Münster: Unrast.Junge, Matthias (2014): Scheitern in Moderne und Postmoderne. In: John, René/Langhof, Antonia (Hg.): Scheitern – Ein Desiderat der Moderne? Wiesbaden: Springer VS, S. 11–24.Junge, Matthias/Lechner, Götz (2004): Scheitern. Aspekte eines sozialen Phänomens. Wiesbaden: Springer. Kessl, Fabian (2011): Diskursanalytische Vorgehensweisen. In: Oelerich, Gertrud/Otto, HansUwe (Hg.): Empirische Forschung und Soziale Arbeit. Ein Studienbuch. Wiesbaden: VS Verlag, S. 313–322.Märk, Julia (2020): Von der Bedeutung des Scheiterns in der Sozialen Arbeit. Eine diskursanalytische Betrachtung. Masterarbeit. Fachhochschule Vorarlberg. Mörgen, Rebecca (2020): In Beziehung treten: Etablierungsprozesse von Beratungs- und Arbeitsbeziehungen im Felder der aufsuchenden Sozialen Arbeit. Eine Ethnographie im Kontext Prostitution. Weinheim/Basel: Beltz Juventa.Pantucek, Peter/Posch, Klaus (2009): Die Theorie-Praxis Frage in der Sozialen Arbeit. Eine Einführung in einige ihrer Problemstellungen In: Riegler, Anna/Hojnik, Sylvia/Posch, Klaus (Hg.): Soziale Arbeit zwischen Profession und Wissenschaft. Vermittlungsmöglichkeiten in der Fachhochschulausbildung. Wiesbaden: VS Verlag, S. 15–30.Staub-Bernasconi, Silvia (2018): Soziale Arbeit als Handlungswissenschaft. Soziale Arbeit auf dem Weg zu kritischer Professionalität. 2. Au. Opladen u.a.: Barbara Budrich. Staub-Bernasconi, Silvia (2007): Vom beruichen Doppel- zum professionellen Tripelmandat. Wissenschaft und Menschenrechte als Begründungsbasis der Profession Soziale Arbeit. In: SIO. Sozialarbeit in Österreich, 02/07, S. 8–17.Traue, Boris/Pfahl, Lisa/Schürmann, Lena (2014): Diskursanalyse. In: Baur, Nina/Blasius, Jörg (Hg.): Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung. Wiesbaden: Springer VS, S. 493–508. Witzel, Hauke (2018): Zur Kritik der Erkenntnis kritischer Sozialer Arbeit. Potenzial einer psychoanalytischen Perspektive. In: Brehm, Alina/Kuhlmann, Jakob (Hg.): Reexivität und Erkenntnis. Facetten kritisch-reexiver Wissensproduktion. Gießen: Psychosoziale Verlag, S. 217–235.Zimm, Johannes/Bergthaler, Kathrin (2019): Sucht und Ernüchterung. Normalisierung des Scheiterns in Suchtbehandlungssystemen. In: soziales_kapital. Wissenschaftliches Journal österreichischer Fachhochschul-studiengänge Soziale Arbeit. Bd. 22 (2019), S. 94–108Über die AutorinJulia Märk, BA MAjulia.maerk@outlook.at Studierte an der Fachhochschule Vorarlberg Soziale Arbeit und absolvierte nach dem Bachelor berufsbegleitend den Masterstudiengang Klinische Soziale Arbeit. Derzeit arbeitet sie im Arbeitsfeld der Wohnungs- und Obdachlosenhilfe und leitet eine niederschwellige Notschlafstelle.