soziales_kapital
Bereiter,
Kathrin
. “
Macht im Maßnahmen-vollzug. Eine qualitative Untersuchung von Macht und Widerstand in der totalen
Institution des österreichischen Maßnahmenvollzugs
.” soziales_kapital, no. 26 (2022). Rubrik „Sozialarbeitswissenscha“.
Linz. Printversion:
https://soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/view/755/1393
_
Macht im Maßnahmenvollzug
Eine qualitative Untersuchung von Macht und
Widerstand in der totalen Institution des österreichischen
Maßnahmenvollzugs
Kathrin
Bereiter
Soziale Innovation
26. Ausgabe Juni 2022
Zusammenfassung
In diesem Artikel wird der Frage nachgegangen, mit welchen Machttechniken psychisch kranke
Straftäter*innen, die im österreichischen Maßnahmenvollzug angehalten werden, konfrontiert sind und mit
welchen widerständigen Praxen sie auf diese Herausforderungen reagieren. Theoretischer Ausgangspunkt
ist die Überlegung, dass Subjekte danach streben, Autonomie herzustellen, indem sie subjektiv sinnvolle
Praxen bedienen, um die individuellen Möglichkeitsräume zu erweitern. Mittels qualitativer Forschung
mit Betroenen und unter Anwendung oener Kodierverfahren konnten zentrale Machtstrategien im
Maßnahmenvollzug identiziert werden: Strafen und Privilegien, Fixierung und Isolierung, Zwangsmedikation
und Zwangsheilung, Überwachung und Kontrollen sowie die ‚Macht der unbestimmten Dauer‘. Diese
Machttechniken werden im Folgenden beschrieben und die daraus resultierenden widerständigen Praxen
und ihre Auswirkungen auf die Handlungsfähigkeit der Insass*inn*en und Patient*inn*en aufgezeigt.
Schlagworte:
Maßnahmenvollzug, psychisch kranke Straftäter*innen, Machttechniken, Widerstand,
Zwangskontext
Abstract
This paper deals with power strategies in the Austrian forensic psychiatric commitment and with the question
of how law breakers being mentally ill cope with and also challenge dierent power techniques within that
system. Power strategies such as penalties and privileges, xation and isolation, compulsory medication
and treatment, discipline and controls, and ‘the power of perpetuity’ were identied by means of qualitative
research with imprisoned clients and patients by using open coding methods. A further epistemological
interest lies on the eects of these strategies on the clients, particularly their individual empowerment and
their resistance strategies. Theoretical starting point is that subjects are striving for autonomy by using
meaningful forms of resistance strategies with the aim to open up individual spaces of opportunities.
Keywords:
forensic psychiatric commitment, mentally ill oenders, power strategies, resistance, enforcement
context
1.
Einleitung
Der österreichische Maßnahmenvollzug (oziell: mit Freiheitsentziehung verbundene vorbeugende
Maßnahme) behält sich vor, sogenannte geistig abnorme Rechtsbrecher*innen auf unbestimmte Zeit in
speziellen Anstalten unterzubringen, um so die Sicherheit der Öentlichkeit gewährleisten zu können. Diese
Möglichkeit der unbegrenzten Festhaltung stellt einerseits einen rechtlichen Missstand dar, da diese Praxis
nur schwer mit der Europäischen Menschenrechtskonvention zu vereinen ist. Andererseits hat dies negative
Folgen für die Eingewiesenen, welche oft über Jahre mit der Unsicherheit leben müssen, nicht zu wissen, wann
sie wieder entlassen werden. Auch nach der Anhaltung in einer „Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher“
werden die Betroenen nicht in Selbstständigkeit entlassen. Das österreichische Strafgesetzbuch sieht im
Falle der bedingten Entlassung aus einer mit Freiheitsentziehung verbundenen vorbeugenden Maßnahme
eine Probezeit von fünf bis zehn Jahren vor, welche großteils mit weiteren gerichtlichen Weisungen, wie
z.B. die Wohnsitznahme in einer betreuten Einrichtung, regelmäßige psychiatrische Kontrollen, Kontrolle
der Medikamenteneinnahme, Drogen- und Alkoholabstinenz, verbunden ist. Für diese Zielgruppe bedeutet
dies auch nach der bedingten Entlassung eine jahre- bis jahrzehntelange Betreuung im Zwangskontext. Bei
Betrachtung dieser Praxis des Maßnahmenvollzugs liegt die Annahme nahe, dass psychisch beeinträchtigte
Straftäter*innen im Laufe ihrer Unterbringung Strategien entwickeln, mit dieser Situation der längerfristigen
Kontrolle ihrer Lebensführung umzugehen.
Durch meine frühere Tätigkeit als Sozialarbeiterin in einer Nachsorgeeinrichtung des österreichischen
Maßnahmenvollzugs war ich häug mit Erzählungen von Betroenen über ihre Zeit im Maßnahmenvollzug
konfrontiert, was mich dazu angeregt hat, diesen Kontext mithilfe qualitativer Methoden zu untersuchen.
Ausgangspunkt war dabei, die Maßnahmenklient*inn*en, Patient*inn*en oder Insass*inn*en abseits des medial
verbreiteten, dichotomen Gut-böse-Diskurses entweder als ‚Systemopfer‘ oder ‚böse Gewalttäter*innen‘ zu
verstehen. Sie sind handlungsfähige Subjekte, die sich in dem System dieser totalen Institutionen bewegen
und ihr Leben aktiv (mit)gestalten.
Eine totale Institution lässt sich nach Erving Gomann (1973: 11) „als Wohn- und Arbeitsstätte einer
Vielzahl ähnlich gestellter Individuen denieren, die für längere Zeit von der übrigen Gesellschaft abgeschnitten
sind und miteinander ein abgeschlossenes, formal reglementiertes Leben führen“. Im Zuge einer qualitativen
Analyse wurden die Machttechniken, die im System Maßnahmenvollzug angewendet werden, und die
daraus resultierenden widerständigen Praxen im Sinne von Handlungsoptionen, welche von den Betroenen
eingesetzt werden, um in dieser Institution handlungsfähige Subjekte zu bleiben, analysiert. Diese Analyse
beruht auf theoretischer Ebene auf der Annahme, dass Menschen danach streben, Autonomie herzustellen
und auf die Einschränkung ihrer Freiheit reagieren. Sie verdankt sich dem Rekurs auf Überlegungen Michel
Foucaults (1994), demzufolge Macht auf freie Subjekte ausgeübt werden kann, wodurch Freiheit und Macht
keine Gegensätze bilden, sondern sich gegenseitig bedingen. Die Reaktionsweisen der Klient*inn*en auf
diese Techniken werden als widerständige Praxen bezeichnet, denn „wo es Macht gibt, gibt es Widerstand“
(Foucault 1983: 96). Eine weitere Grundannahme ist, dass diese widerständigen Praxen für die Betroenen
relevant sind, da sie schlussendlich bedeuten, dass sie trotz der Macht dieses Systems handlungsfähig sind.
Handlungsfähigkeit wird folgend mit dem Konzept der subjektiven Möglichkeitsräume nach Klaus Holzkamp
(1983) beschrieben und mit individuellen Narrationen zum Maßnahmenvollzug untermauert. Die vorliegende
qualitative Studie untersuchte folglich einerseits die Machttechniken, die in diesem System angewendet
werden, sowie andererseits widerständige Praxen, welche Maßnahmeninsass*inn*en entwickeln, um mit
diesen umzugehen.
2.
Methodisches Vorgehen
Um die oben dargestellten Thesen zu untersuchen, wurde auf qualitative Methoden zurückgegrien, da
es sich um eine erste explorative Annäherung handelt. Durchgeführt wurden zwei narrativ biograsche
Interviews nach Gabriele Rosenthal (1995) mit (ehemaligen) Insass*inn*en des Maßnahmenvollzugs. Dem
Prinzip des theoretischen Samplings nach Strauss und Corbin (1996) folgend, wurden diese zwei Interviews
mittels oener Kodierverfahren ausgewertet. Auf Grundlage daraus resultierender erster Erkenntnisse
wurden die folgenden zwei Interviews mit der Methode des problemzentrierten Interviews nach Andreas
Witzel (1982) durchgeführt. Zudem wurden neben den Einzelinterviews drei Gruppendiskussionen
abgehalten. Die Gruppendiskussionen zielten nicht mehr primär darauf ab, Einzelmeinungen zu
erfassen, sondern „kollektive Orientierungsmuster“ zu eruieren (Bohnsack 2007: 374). Im Gegensatz zu
Einzelinterviews nden in Gruppendiskussionen diskursive Rückbezüge statt, die Teilnehmenden reagieren
auf und reektieren Äußerungen und Erfahrungen anderer, was kollektive Muster erkennbar macht. Dabei
wird davon ausgegangen, „dass Sinn- und Bedeutungszuschreibungen, Lebensorientierungen usw.
primär sozial konstituierten, gemeinsamen Erfahrungsräumen entstammen und sich im Miteinander von
Menschen mit gleichen oder ähnlichen Erfahrungen zeigen“ (Hirth/Ziegler 2005: 7–8). Begleitend zu der
formellen Datenerhebung mittels Einzel- und Gruppeninterviews wurden informelle Daten gesammelt,
die der Kontextualisierung dienen und im Sinne der Erhöhung der theoretischen Sensibilität zu verstehen
sind. Diese informellen Gespräche und Beobachtungen im Feld wurden anschließend zeitnah aus dem
Gedächtnis protokolliert. Insgesamt wurden mit 19 (ehemaligen) Klient*inn*en des Maßnahmenvoll-zugs
formelle (14 Personen) und informelle Erhebungen (fünf Personen) geführt, verschriftlicht und oen kodiert
sowie mit acht Mitarbeiter*innen (Sozialarbeiter*innen, Psycholog*inn*en, Ärzt*inn*en) aus elf verschiedenen
Einrichtungen in sechs österreichischen Bundesländern.
3.
Ergebnisse der qualitativen Analysen
Anhand der durchgeführten Interviews sowie Beobachtungen konnten die zentralen Machttechniken Strafen
und Privilegien, Fixierung und Isolierung, Zwangsmedikation und Zwangsheilung, Überwachung und Kontrollen
sowie die ‚Macht der unbestimmten Dauer‘ identiziert werden, welche im Folgenden zusammenfassend
dargestellt werden. Auf diese Ergebnisse aufbauend werden in Anschluss die widerständigen Praxen, die
von den Betroenen als Antwort auf die Machttechniken des Systems angewendet werden, beschrieben.
3.1
Strafen und Privilegien
Jede totale Institution verfügt über ein großes Repertoire an Verordnungen und Vorschriften, die es einzuhalten
gilt. Goman (1973: 54) bezeichnet dies als „Privilegiensystem“, welches den Insass*inn*en den „Rahmen für
die persönliche Reorganisation“ bietet und aus drei Elementen besteht: Erstes Element ist die Hausordnung,
die den Tag der Patient*inn*en strukturiert und deren Leben nach diesen Vorschriften ausgerichtet werden
muss. Zweitens, gewisse Privilegien, welche als Belohnungen für regelkonformes Verhalten verwendet
werden, und schließlich die Strafen als drittes Element. Strafen bestehen oftmals im Entzug bereits
erworbener Privilegien. Dabei können Privilegien allerdings nicht als Sonderrechte im eigentlichen Wortsinn
verstanden werden, vielmehr sind es Rechte, die vor dem Eintritt in die totale Institution selbstverständlich
waren (Goman 1973: 55–56). Mit Strafen belegt werden jegliche Handlungen, welche nicht konform sind,
und dies meint demzufolge jegliches Nichteinhalten institutioneller Regeln. Foucault (1977: 232) schreibt:
„Die Disziplinarstrafe hat die Aufgabe, Abweichungen zu reduzieren. Sie ist darum wesentlich korrigierend“
und beurteilt „Verhaltensweisen und Leistungen auf einer Skala zwischen Gut und Schlecht“ (Foucault 1977:
233). Daher wird eine „Dierenzierung [vollzogen] – nicht der Taten, sondern der Individuen selber: ihrer
Natur, ihrer Anlagen, ihres Niveaus, ihres Wertes“ (Foucault 1977: 234).
Dierenzierungen und Klassizierungen, welche mit einem Verlust von Privilegien einhergehen,
nden sich im Maßnahmenvollzug häug. Eine wirkmächtige Strafe, die an Privilegienverluste geknüpft
ist, ist das sogenannte Zurückstufen der forensischen Klient*inn*en: Nach längerer Zeit in der Anhaltung
und im Besonderen bei guter Führung erlangen die Insass*inn*en Vergünstigungen, die größere Autonomie
bedeuten. Diese können bei nicht regelkonformem Verhalten wieder entzogen werden. Dieser Vorgang
wird von den interviewten Personen als Zurückstufung bezeichnet. Ein häug erwähnter Privilegienverlust
ist der Entzug der Privatkleidung. Üblich ist es, dass neue Klient*inn*en vorerst keine Privat- oder
Straßenkleidung tragen dürfen. Je nach Unterbringungseinrichtung und Verhalten variiert diese Praxis in
der Dauer ihrer Anwendung. Andere berichtete Sanktionsformen sind z.B. die Streichung der Ausspeisung,
was bedeutet, dass die Insass*inn*en keine Einkäufe innerhalb der Institution tätigen können, das Verbot der
Teilnahme an Sozialtrainings (begleitete Ausgänge als Resozialisierungsmaßnahme), das Verbot oder die
Einschränkung von Telefonverkehr und das Untersagen von Besuchen bzw. dass diese nur unter besonderen
Sicherheitsvorkehrungen empfangen werden können.
3.2
Fixierung und Isolierung
Die Machttechnik der Fixierung ist in der Psychiatrie weit verbreitet und wird im Falle einer Selbst- und
Fremdgefährdung angewendet. Geregelt ist diese freiheitsbeschränkende Maßnahme im österreichischen
Unterbringungsgesetz (UbG). Darin ist sinngemäß zu lesen, dass Beschränkungen der*des Kranken nur
zulässig sind, wenn sie der Abwehr von Gefahren dienen und von den behandelnden Ärzt*inn*en angeordnet
werden. Die Anordnung muss dokumentiert werden und unverzüglich dem*r gesetzlichen Vertreter*in des*r
Kranken mitgeteilt werden (UbG 1990, §33). Beschränkungen der Freiheit sind laut Unterbringungsgesetz
ebenso hinsichtlich des Verkehrs mit der Außenwelt und durch Entzug der Privatkleidung möglich, stets unter
der Prämisse, Gefahren gegen sich oder andere abzuwenden (UbG 1990, §34/§34a). Diese Machttechnik
wird laut dem empirischen Material häug angewendet. Zurückzuführen ist die Anwendung dieser
Machttechnik laut Aussagen des befragten Personals u.a. auf fehlende personelle Ressourcen, mangelnde
Standards und Ausbildungen bezüglich Deeskalationsstrategien. Mitarbeiter*innen aus vier verschiedenen
Maßnahmenvollzugsanstalten berichteten, dass größtenteils weder die Justizwachbeamt*inn*en noch
das Pegepersonal in verbalen Deeskalationsstrategien geschult seien. Ausgebildet seien die dort tätigen
Psycholog*inn*en und Sozialarbeiter*innen, welche aber aufgrund des Betreuungsschlüssels häug nicht
zu Krisensituation hinzugezogen werden können. Aufgrund dessen wird bei Eskalationen die Justizwache
und der*die behandelnde Ärzt*in gerufen, um eine Zwangsmedikation oder Fixierung und Isolierung zu
ermöglichen.
3.3
Zwangsmedikation und Zwangsheilung
Da sich Maßnahmenklient*inn*en aufgrund einer psychischen Erkrankung in diesem System benden, ist
Zwangsmedikation eine Machttechnik, die eingesetzt wird, um den Vollzugszweck, folglich die Verringerung
bzw. Beseitigung der Gefährlichkeit, welche aufgrund der Erkrankung besteht, erreichen zu können. Diese
Machtstrategie geht weit über die Anhaltung in einer Maßnahmenvollzugseinrichtung hinaus. Auch nach
der bedingten Entlassung wird durch eine gerichtliche Weisung die Auage zur zwangsweisen Einnahme
von Medikamenten erteilt. In der Praxis lässt sich beobachten, dass die Nichteinnahme der verordneten
Medikation zu einer längeren Anhaltung im System führt, da dies von Seiten der Psychiatrie und/oder
der Gutachter*innen als Non-Compliance bzw. fehlende Adhärenz gewertet wird. Die Nichteinhaltung
therapeutischer und ärztlicher Ratschläge oder Pichten erschwert die bedingte Entlassung aus dem
Maßnahmenvollzug. Zwangsmedikation bezieht sich allerdings nicht nur auf die Ebene der gerichtlichen
Weisung zur Medikamenteneinnahme, sondern ist eine Machttechnik, die bei psychiatrischen Notfällen
eingesetzt wird, wie zum Beispiel im Zuge der Fixierung. Dort erfüllt sie den Zweck einer Sedierung bzw.
Ruhigstellung.
3.4
Überwachung und Kontrollen
Überwachungen und Kontrollen sind im System des Maßnahmenvollzugs selbstverständlich integriert,
handelt es sich doch um eine totale Institution an der Schnittstelle von Psychiatrie und Gefängnis.
Überwachung ist eine zentrale Disziplinartechnik und somit eine Machttechnik, da sie die Insass*inn*en zu
konformem Verhalten zwingt: „Jeder ist an seinem Platz sicher in eine Zelle eingesperrt, wo er dem Blick des
Aufsehers ausgesetzt ist; [...] er wird gesehen, ohne selbst zu sehen“ (Foucault 1977: 257). Das Ziel dieser
stetigen Überwachung deniert Foucault fol-gendermaßen: „Sind die Gefangenen Sträinge, so besteht
keine Gefahr eines Komplottes, eines kollektiven Ausbruchsversuches […]; handelt es sich um Kranke,
besteht keine Ansteckgefahr; sind es Irre, gibt es kein Risiko gegenseitiger Gewalttätigkeiten“ (Foucault
1977: 257). Hier zeigt sich die zentrale Funktion von Überwachung, nämlich „die Schaung eines bewußten
und permanenten Sicherheitszustandes beim Gefangenen, der das automatische Funktionieren der Macht
sicher-stellt“ (Foucault 1977: 258).
Was in manchen Gefängnissen der Überwachungsturm ist, der architektonisch im Zentrum
der Anstalt steht, ist im Maßnahmenvollzug, speziell in der forensischen Psychiatrie, das Fenster zum
Patient*inn*enzimmer. Ein*e Teilnehmer*in einer Gruppendiskussion schildert in eindringlicher Weise
die Machttechnik der Überwachung. Er*Sie bendet sich seit vielen Jahre im Rahmen der forensischen
Psychiatrie in einem Zimmer (mit weiteren sechs Mitpatient*inn*en), welches über ein Fenster verfügt,
das es dem Personal ermöglicht, von außen in das Zimmer sehen zu können. Es ist baulich dauerhaft
vorhanden, dient also einerseits dazu, die Patient*inn*en überwachen zu können, andererseits wird dadurch
diese Machttechnik stetig sichtbar. Das konforme Verhalten und das Verhindern von Gefährlichkeit werden
somit permanent. Das Pegepersonal muss gar nicht erst durch das Fenster blicken, um den gewünschten
Überwachungseekt zu erzielen. Das Fenster selbst reicht aus, um Disziplinarmacht auszuüben.
Nicht alle Maßnahmenvollzugseinrichtungen verfügen über ein ‚panoptisches Fenster‘, dennoch
ist Überwachung eine Machttechnik von essenzieller Bedeutung, die in jeder Einrichtung Anwendung
ndet. Häug geschieht Überwachung im Sinne von Kontrollen. Interessanter Weise wurden beim Thema
der Überwachung und Kontrolle die oensichtlichen Machtstrategien, z.B. das Eingesperrt-Sein und die
damit verbundenen Techniken wie Eingangskontrollen, versperrte Zimmer oder Wohngruppen, Mauern
und Metalldetektoren, Kameraüberwachung, Wegnahme persönlicher Gegenstände und somit die
beinahe vollständige Kontrolle sozialer Außenkontakte, nicht dezidiert erwähnt. Dies kann dem Umstand
geschuldet sein, dass die täglichen Kontrollen und Überwachungen allgegenwärtig sind, wodurch sie im
Laufe der Zeit aus dem Fokus der Wahrnehmung rücken. Zusätzlich zu den oben dargestellten Maßnahmen
werden beispielsweise Zimmer und Zellen auf illegalisierte Substanzen untersucht und Drogenharn-
sowie Alkoholkontrollen durchgeführt. Nach der bedingten Entlassung wird die Einnahme der verordneten
Medikamente mittels regelmäßiger Blutspiegelkontrollen sichergestellt.
3.5
Die Macht der unbestimmten Dauer
Das bedeutendste Unterscheidungsmerkmal zwischen dem Straf- und Maßnahmenvollzug ist, dass die
Anhaltung nach § 21 öStGB (öStGB 1974) auf unbestimmte Zeit ausgesprochen wird. Eine bedingte Entlassung
wird erst veranlasst, nachdem die Gefährlichkeit, welche zur Einweisung in den Maßnahmenvollzug geführt
hat, nicht mehr gegeben ist. Obwohl nachvollziehbar ist, dass der Gesetzgeber die Dauer der Anhaltung
nicht begrenzt, da das Verringern einer Gefährlichkeit von verschiedenen und vor allem individuellen Faktoren
abhängt, ist es dennoch eine Praxis, welche das Verhalten der Insass*inn*en wirkmächtig steuert. Jegliches
konformes und nonkonformes Verhalten wird dokumentiert und aufgrund dessen werden die Betroenen
von dem hierarchisch strukturierten Mitarbeiter*innenstab klassiziert. Das so gewonnene vermeintlich
objektive Wissen über die Klient*inn*en determiniert schlussendlich die tatsächliche Dauer der Anhaltung,
wodurch die Anhaltung auf unbestimmte Dauer zu einer Technik der Macht wird.
Der Maßnahmenvollzug ist ein stark hierarchisch gegliedertes System mit klaren Zuständigkeiten
hinsichtlich der Verteilung der Macht. Foucault (2015: 15) beschreibt die Psychiatrie generell als ein System
der „Machtverteilung“. Aufgrund derer kann „ein als krank Geltender aufhör[en], krank zu sein“ oder eben
weiterhin als gefährlich und krank gelten. Im Maßnahmenvollzug werden Patient*inn*en einerseits durch
Diagnosen und andererseits durch Gutachten und Gefährlichkeitsprognosen disziplinarisch klassiziert,
wobei diese als objektive medizinische Erkenntnisse gelten. Die Einteilungen passieren durch Personen,
welche in einem hierarchischen Verhältnis zueinanderstehen: Peger*innen und Ärzt*inn*en dokumentieren
Verhalten, Gutachter*innen schätzen die Folgen des spezischen Verhaltens hinsichtlich der Gefährlichkeit
ein und Richter*innen entscheiden darüber, was dieses erlangte Wissen schlussendlich für die Betroenen
bedeutet und entscheiden über den weiteren Verbleib im Maßnahmenvollzug.
Basis der Gutachten bilden u.a. Akten, die bspw. von Ärzt*inn*en geführt werden. Die Macht, welche
Ärzt*inn*en zukommt, ist immens. Sie beurteilen, ob ein Mensch als ‚krank‘ oder ‚gesund‘ bewertet wird.
Pegepersonal und der Justizwache kommt in diesem System ebenso Macht zu. Ihre Beobachtungen,
Dokumentationen und Diskurse bilden schlussendlich das ärztliche Wissen, wie Foucault feststellt. Die
Dokumentation in Akten ermöglicht es selbst dem ‚untersten Glied‘ in der Hierarchie der Mitarbeiter*innen,
Macht auf die Klient*inn*en auszuüben. Ugelvik (2014: 57) bezeichnet dies als „administrative power which
puts up barriers, which constrains, which controls the prisoner’s bodies and keeps them on the right side of
the right door at the right time“. Hinsichtlich des Maßnahmenvollzugs lässt sich noch ergänzen, dass diese
administrative Macht nicht nur bestimmt, wer zu welcher Zeit an welchem Ort sein muss, sondern wie lange
die Zeit in diesem System letzten Endes tatsächlich sein wird.
Insgesamt lässt sich die unbestimmte Dauer der Anhaltung als eine Technik der Macht fassen, da
sich jegliches Verhalten der Patient*inn*en im Maßnahmenvollzug auf diese auswirkt. In dem hierarchisch
gegliederten System kommt allen Akteur*inn*en die Freiheit zu, das Handeln der Patient*inn*en zu
dokumentieren und zu beurteilen, stets mit Blick auf die ‚objektiv‘ notwendige Dauer der Anhaltung. Dass
dieses Wissen trotz aller Versuche, valide Gefährlichkeitsprognosen zu erstellen, trotzdem subjektiv ist, wird
anhand der empirischen Quellen deutlich (Bereiter 2019: 62–70). Die Interviewpassagen zeigen zudem, dass
den Insass*inn*en die Wirkmächtigkeit dieser Machttechnik dauerhaft bewusst ist. Sie richten ihr alltägliches
Handeln danach, wodurch die ‚Macht der unbestimmten Dauer‘ einen ‚panoptischen‘ Eekt entfaltet.
3.6
Widerstand und Handlungsfähigkeit
Macht und Widerstand sind untrennbar miteinander verbunden, was nach Daniel Hechler und Axel Phillips
zu dem logischen Schluss führt: „Macht ist überall. Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand. Ergo: Widerstand
ist überall.“ (Hechler/Phillips 2008: 7) Macht wird nach Foucault im zweifachen Sinne verstanden, nämlich
als „Unterwerfung und Widerstand“ (Flügel-Martinsen 2014: 44). Für Foucault greift es zu kurz, Macht einzig
als repressives Moment der Unterdrückung und Zwang zum Gehorsam zu deuten. Er betont die doppelte
Seite der Macht, im Sinne der juridischen und produktiven Macht.
Den Begri der juridischen Macht führt Foucault in seinem Buch Wahnsinn und Gesellschaft
(1961) ein, in dem er zeigt, dass historisch stets unterschiedliche Methoden der Ausschließung praktiziert
wurden, um ‚die Irren‘ von der Gesellschaft zu trennen. Die juridische Macht lässt sich jedoch nicht auf
bloße Repressionen reduzieren, dann nämlich würde die produktive Seite vernachlässigt. Erst durch eine
Erweiterung um eine positive Konzeption von Macht kann nach Foucault herausgearbeitet werden, wie Macht
konkret funktioniert: „In Wirklichkeit ist die Macht produktiv; und sie produziert Wirkliches. Sie produziert
Gegenstandsbereiche und Wahrheitsrituale: das Individuum und seine Erkenntnis sind Ergebnisse dieser
Produktion.“ (Foucault 1977: 250) Diese produktive Seite der Macht ist es, die bewirkt, dass eine Bestrafung
nicht nur als Akt der Unterdrückung bewertet wird, sondern beispielsweise als Handlung, welche dem
Schutze der Gesellschaft dient. Dadurch hilft die produktive Seite der Macht letztendlich, Machtverhältnisse
aufrechtzuhalten (vgl. Polat 2011: 30).
Dieser Zugang zu Macht kann auch am Beispiel der psychisch kranken Straftäter*innen veranschaulicht
werden: Die juridische Seite der Macht zeigt sich darin, dass diese von einem Gericht dazu verurteilt
werden, von der Gesellschaft separiert zu leben und in Institutionen des Maßnahmenvollzugs verschiedenen
Machttechniken, wie z.B. Fixierung und Zwangsmedikation, unterworfen zu sein. Die produktive Seite
kommt insofern zum Ausdruck, als die Anhaltung im Maßnahmenvollzug mit der Sicherheit der Gesellschaft
sowie der Genesung bzw. Hilfe der psychisch Kranken begründet wird. Somit wird die juridische, repressive
Macht u.a. durch die Diskurse um Sicherheit und das Helfen von Kranken gestützt. Macht und Diskurs
bedingen sich also gegenseitig, „der Diskurs ist eine Reihe von Elementen, die innerhalb eines allgemeinen
Machtmechanismus operieren“ (Foucault 2003: 595). Würde der Maßnahmenvollzug nur als repressives
System betrachtet und diskutiert werden, welches ausschließlich der Internierung und Bestrafung dient,
hätte es, so ist zu vermuten, nicht bis heute Bestand und wird folglich durch die produktive Seite der Macht
stabilisiert und schlussendlich aufrechterhalten.
Die hier ausgeführte Konzeption von Macht ist nicht nur aufgrund der doppelten Perspektive
hilfreich, sondern auch dahingehend, wie handelnde Subjekte gefasst werden. Foucault (1994) schreibt,
dass Machttechniken und Machtformen Individuen in Subjekte verwandeln, insofern sie im Alltagsleben
Unterteilungen, Klassizierungen und Kategorisierungen unterliegen und ihnen so Identitäten zugewiesen
werden.
Das Wort ‚Subjekt‘ hat dabei zwei Bedeutungen: Es bezeichnet das Subjekt, das der
Herrschaft eines anderen unterworfen ist und in seiner Abhängigkeit steht; und
es bezeichnet das Subjekt, das durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis an seine
eigene Identität gebunden ist. (Foucault 1994: 245)
Auch die Klient*inn*en des Maßnahmenvollzugs dürfen also nicht als handlungsunfähige, machtlose
Objekte verstanden werden, sondern als Subjekte, welche ebenso mit Macht ausgestattet sind und
widerständige Praxen als Mittel der Selbstermächtigung nutzen, um auch in repressiven Strukturen
handlungsfähige Subjekte zu bleiben.
Widerständiges Handeln konnte im empirischen Material an zahlreichen Stellen entdeckt werden.
Widerstand zeigt sich in verschiedensten oenen, aber auch verdeckten, scheinbar nebensächlichen
alltäglichen Handlungen, wie z.B. der ständige Blick auf die Uhr während einer unfreiwilligen Gruppensitzung,
beharrliches Nicht- oder Falsch-Verstehen von Aufträgen, versteckte Nichteinnahme der Medikamente und
Verweigerung der Teilnahme an Therapien oder Sozialprogrammen. Den zahlreichen Machttechniken und
dem autoritären, hierarchischen Aufbau des Maßnahmenvollzugs ist es vermutlich geschuldet, dass oener
Widerstand selten ist. Oene Widerstandspraxen, die berichtet wurden, sind vereinzelte Fluchtversuche,
die Verweigerung der Medikationen und Therapien, Angrien auf das Personal und Störaktionen mit dem
Ziel, die Betreuungspersonen zu ärgern. Widerständige Praxen in restriktiven totalen Institutionen, welche
zudem mit der Macht ausgestattet sind, die Dauer in der Anhaltung ohne Obergrenze oder neuer-liches
Strafverfahren zu verlängern, manifestieren sich vermehrt in alltäglichen Handlungen, welche aber subjektiv
sinnvoll sind, um Handlungsfähigkeit herzustellen.
Hinsichtlich der theoretischen Konzeption von Handlungsfähigkeit bietet Holzkamp (1983) eine
fruchtbare Perspektive. Im Gegensatz zur ‚traditionellen‘ Psychologie verknüpft die Kritische Psychologie
das Handeln von Subjekten mit gesellschaftlichen Verhältnissen, Begebenheiten und den spezischen
Bedingungen, die daraus entstehen. Somit sind gesellschaftliche Verhältnisse in der Kritischen Psychologie,
wie Wiebke Scharathow (2014: 113) ausführt, keine „determinierten Bedingungen für das Handeln und
Leben der Menschen“, sondern werden als „gesellschaftliche und soziale Bedeutungen […] in konkreten
Situationen und Kontexten für Subjekte in spezischer Weise relevant“. Zentral ist demnach, dass handelnde
Subjekte ihre Lebenswelt deuten, interpretieren und sich in den spezischen Handlungsspielräumen
verhalten. Diese Handlungsoptionen nennt Holzkamp (1983) subjektive Möglichkeitsräume. Holzkamp
unterscheidet zwischen Handlungsmöglichkeiten, die darauf abzielen, die Bedingungen hinzunehmen
(restriktive Handlungsfähigkeit) oder diese Bedingungen zu verändern (verallgemeinerte Handlungsfähigkeit)
(vgl. Holzkamp 1983: 355).
Auch aus dieser Perspektive lässt sich ableiten, dass Menschen stets Handlungsfähigkeit
besitzen und prinzipiell die Möglichkeit haben, ihre Lebensbedingungen zu verändern, wie Scharathow
(2014: 117) einwirft – zumindest potenziell. Im Kontext der vorliegenden Studienergebnisse
bedeutet dies, dass Handlungsfähigkeit in gewissem Ausmaß stets möglich ist, selbst für deutlich
stigmatisierte und bisweilen eingesperrte Personen. Handlungsfähigkeit, Handeln welches
subjektive Möglichkeitsräume erönet, erfüllt eine zentrale Funktion hinsichtlich der Selbstermächtigung
dieser Menschen, die durch die zuvor beschriebenen widerständigen Praxen erreicht werden kann. In dieser
Studie wurden widerständige Praxen und ihre Auswirkungen auf die Handlungsfähigkeit der Insass*inn*en
und Patient*inn*en anhand der individuellen Subjektkonstruktionen von drei Interviewpartnern beschrieben
(Bereiter, 2019, S. 70–92).
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich in den analysierten Interviews Unterschiede
aber auch Gemeinsamkeiten zeigen. Alle Interviewpartner verwenden verschiedene widerständige Strategien
als Antwort auf die Macht, welche auf sie ausgeübt wird. Ziel der widerständigen Praxen ist es, punktuell
handlungsfähig zu sein bzw. subjektive Möglichkeitsräume zu entwerfen und zu erweitern. Die Befragten handeln
subjektiv sinnvoll, selbst wenn sich ihre widerständigen Praxen auf die Dauer der Anhaltungen auswirken. Dies ist
speziell bei einem Interviewpartner anzunehmen, welcher zehn Jahre in einer Maßnahmenvollzugseinrichtung
verbringen musste. Er reagierte auf die Machttechniken des Systems durch Verweigerung der Krankheits-
und Delikteinsicht, durch Verdrängen und Verleugnen als Abwehrmechanismen. Schlussendlich lernte er
sich zu fügen, indem er schwieg. Ähnlich ergeht es einem weiteren Interviewteilnehmer. Dieser reagiert
anfänglich mit oenem Widerstand, wird aggressiv, verübt Sachbeschädigungen und tätliche Angrie.
Aufgrund jugendlicher Naivität glaubt er, durch diese widerständigen Praxen entlassen zu werden. Er
strebt deutlich danach, Autonomie zu erlangen und seinen subjektiven Möglichkeitsraum zu erweitern.
Durch die wiederholte Anwendung der Machttechnik des Fixierens lernt auch er zu schweigen. Der dritte
Interviewpartner hingegen hat schon vor dem Maßnahmenvollzug erfasst, dass Streiten und Kämpfen
häug nicht zielführend sind. Seine Strategien sind die des sich Fügens, Galgenhumor und ebenso das
Schweigen. Die Gemeinsamkeit ist somit oensichtlich: Schweigen ist die zentrale Widerstandsstrategie im
Maßnahmenvollzug.
Schweigen als widerständige Praxis zu begreifen, welche zudem noch relevant für die Handlungsfähigkeit
sein soll, scheint auf den ersten Blick abwegig. Schweigen in einem System, welches Sprechen als zentrales
Klassikations- und somit Objektivierungselement braucht, ist allerdings eindeutig als widerständige
Praxis zu werten und entfaltet sich als Antwort auf die Machttechniken des Maßnahmenvollzugs. Damit
der Vollzugszweck erreicht werden kann, somit die Reduzierung der Gefährlichkeit der Untergebrachten
zum Schutze der Gesellschaft, braucht es nämlich das Mitwirken an verschiedenen Therapien, die sich auf
Sprache und Sprechen als Artikulationsmodus stützen. Schweigen ist eine Form, sich diesen Machttechniken
des Systems zu entziehen. Schweigen als widerständige Praxis bringt dadurch das handlungsfähige und
gleichzeitig ‚schweigende Subjekt‘ hervor.
4.
Fazit zu Macht und Widerstand im Maßnahmenvollzug
Bei Betrachtung der Ergebnisse dieser qualitativen Studie, insbesondere in Hinblick auf die gefundenen
Machttechniken und ihre Auswirkung auf die Betroenen, kommt eine Menschenrechtsprofession wie
die Soziale Arbeit nicht umhin, sich die Frage nach der eigenen Beteiligung in diesem System zu stellen.
Interessant ist, dass im empirischen Material Erlebnisse mit den Pegepersonen, Ärzt*inn*en und den
Justizwachebeamt*inn*en häug angesprochen werden, Sozialarbeiter*innen jedoch nicht erwähnt werden.
Daraus kann abgeleitet werden, dass diese eventuell nicht als entscheidungstragende Instanz erlebt
werden, obwohl ihre Expertisen und die Dokumentationen in die Beurteilung zu den bedingten Entlassungen
einießen. Dieser Umstand nimmt Sozialarbeiter*innen allerdings nicht aus der Verantwortung, welche
ihnen aufgrund von professionsethischen Richtlinien zukommt. Machttechniken und Zwangshandlungen,
wie Fixierungen und Isolierungen, werden zwar nicht von Sozialarbeitenden durchgeführt. Eine Kritik an
solchen Praxen kann und soll dennoch ihre Aufgabe sein, selbst wenn dadurch die eigene Institution kritisch
hinterfragt werden muss.
Zwangsmaßnahmen können die Betroenen traumatisieren, ein Umstand, den die Soziale Arbeit,
welche das Ziel verfolgt, Schaden zu verhindern, nur schwer akzeptieren kann. Sozialarbeitende in den
Maßnahmenvollzugseinrichtungen könnten das ‚moralische Gewissen‘ dieser totalen Institution sein. Dafür
wäre es allerdings nötig, das eigene Handeln und das strukturelle Agieren der Institution zu beanstanden,
selbst wenn es individuelle Nachteile mit sich bringen könnte. Men-schenrechtlichethische Aspekte müssen
in der Arbeit mit forensischen Klient*inn*en kontinuierlich diskutiert werden. Unumgänglich ist es dabei
m. E., sich der eigenen Macht bewusst zu werden. Denn auch wenn sich Sozialarbeitende häug als
‚machtlose Auftragsempfänger*inn*en‘ im Sinne des Tripelmandats erleben, ist die Soziale Arbeit ebenso
eine „Normierungsmacht“ (Foucault 1977: 392), denn „wir leben in der Gesellschaft des Richter-Professors,
des Richter-Arztes, des Richter-Pädagogen, des Richter-Sozialarbeiters; sie alle arbeiten für das Reich des
Normativen“ (ebd.: 392–393). Sich dieser eigenen Normierungsmacht bewusst zu werden und daher den
Fokus auf das eigene individuelle und institutionelle Handeln zu richten, scheint mir ein unumgänglicher
Schritt zu sein, um die professionelle Arbeit mit dieser Zielgruppe zu gestalten. Ein erster Schritt kann
dabei sein, nicht mehr ausschließlich von einem Zwangskontext zu sprechen, sondern dezidiert von
einem Machtkontext, in welchem in einem foucaultschen Sinne, allen darin handelnden Subjekten Macht
zukommt. Weder sind demzufolge Klient*inn*en machtlose und handlungsunfähige Subjekte noch sind
Sozialarbeitende, Psycholog*inn*en, Peger*innen, Ärzt*innen machtlos den institutionellen gesetzlichen
Vorgaben, der juridischen Macht, unterworfen. Um es abschließend mit Foucault zu sagen: „Die Macht ist
nicht etwas, was man erwirbt, wegnimmt, teilt, was man bewahrt oder verliert; die Macht ist etwas, was
sich von unzähligen Punkten aus und im Spiel ungleicher und beweglicher Beziehungen vollzieht.“ (Foucault
1983: 94)
Verweise
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Im Laufe des Auswertungsprozesses stellte sich bezüglich mancher informeller Daten heraus, dass diese interessante Aspekte für die Auswertung
beinhalten. In diesen Fällen wurden die betroenen Klient*inn*en im Nachhinein um Erlaubnis zur Verwendung der Daten gefragt. Konkret wurden die
Aussagen und Erzählungen der Klient*inn*en in der bereits verschriftlichten Form vorgelegt und die Zustimmung zur Verwendung mündlich eingeholt.
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Über die Autorin
Kathrin Bereiter, BA MA
kathrin.bereiter@fh-linz.at
Grundberuf Sozialarbeiterin, tätig als Assistenzprofessorin an der FH Linz für Soziale Arbeit und Doktorandin
der Bildungs- und Erziehungswissenschaften an der Universität Graz. Forschungs-schwerpunkte:
Intersektionalität und intersektionale Sozialforschung, Maßnahmenvollzug, Macht in der Sozialen Arbeit.