soziales_kapital
Charlotte Sweet, Franz Schiermayr
.
“
Gegen jeden Common Sense – durch Widerspruch zur Sozialen Innovation.
”
soziales_kapital, no. 26 (2022). Rubrik „Einwürfe/Positionen“. Linz. Printversion:
http://www.soziales-kapital.at/index.
php/sozialeskapital/article/view/756/1421.pdf
_
Soziale Innovation
26. Ausgabe Juni 2022
Zusammenfassung
Der Artikel problematisiert die Orientierung der Sozialen Arbeit an einem scheinbar unreektierten
„Common Sense“, durch welchen vorgegebene Ideen zur sozialen Ausgestaltung der Gesellschaft zur
Norm erhoben werden. Durch die bevorzugte individuumsorientierte Herangehensweise und Methodik
der Sozialen Arbeit werden in Unterstützungsprozessen Möglichkeiten vielfach eingeschränkt und
Hilfesuchende eher pädagogisch diszipliniert als partizipativ begleitet. Dieser Artikel begreift Widerstand
als innovative Anregung innerhalb sozialer Prozesse und legt dar, welches Potential zur Weiterentwicklung
von Sozialer Arbeit in diesem Konikt identiziert werden kann. Innovation bedeutet demnach, dass
Verhandlungs- und Anerkennungsprozesse sowohl auf individueller als auch auf struktureller Ebene in
den methodischen Vorgehensweisen und Verfahren verankert werden. Damit wird einem herrschaftlichen
„Engineering of Compliance“ im Sinne Edward Bernays (1947), welches demokratiepolitisch wenig
wünschenswert ist, vorgebeugt. Die Autor*innen schlagen drei Gruppen von Instrumenten vor, die ein
„Navigieren zum vielfältigen Konsens“ ermöglichen: Beobachtungsinstrumente, Navigationsinstrumente
und Prozessgestaltungsinstrumente.
Schlagworte:
Widerspruch, Compliance, Innovation, Verhandlung, Soziale Arbeit, Macht,
Navigationsinstrumente
Abstract
The article problematizes the orientation of social work towards a seemingly unreected “common sense”,
through which predened ideas on the social design of society are elevated to the status of a norm. The
preferred individual-oriented approach and methodology of social work often limits possibilities in support
processes and accompanies those seeking help in a pedagogically disciplined rather than participatory way.
Using resistance as an innovative stimulus within social processes, the potential for the further development
of social work in this conict is presented. In this context, innovation means anchoring negotiation and
recognition processes on an individual as well as on a structural level in the methodological approaches
and procedures. This should prevent a domineering “engineering of compliance”, which is undesirable for
democratic politics and policies. To this end, three tools—observation tools, navigation tools, and process
design tools—are proposed that enable “navigating towards a diverse consensus.”
Keywords:
contradiction, compliance, innovation, negotiation, social work, power, navigation tools
1
Einleitung
Der „Father of Spin“ Edward Bernays war der Meinung, dass „consent“ durch „engineering“ herbeigeführt
werden müsse (vgl. Bernays 1947). Die Zustimmung der Bevölkerung zur Gestaltung und Entwicklung
der Gesellschaft sei keineswegs etwas, das einfach so passiere, sondern vielmehr sei es die Aufgabe
der Elite, diese Zustimmung systemisch-technisch herzustellen. Mittels sorgfältiger Zielgruppen- und
Kommunikationsanalyse wollte er die Demokratie dadurch stabilisieren, dass die ignoranten Massen von
der gebildeten Elite ideologisch gelenkt werden. Bernays beschrieb ausführlich und eindrucksvoll die
Bedeutung von Propaganda in einer demokratischen Gesellschaft und setzte seine Ideen auch in die Tat
um – nicht zuletzt mit einer Kampagne, die die neugewonnene Freiheit der Frauen durch eine „Torch of
Freedom“ zum Ausdruck bringen sollte, den „Glimmstengel der Freiheit“ (Amos/Haglund 2000: 4). Anhand
dieses Beispiels darf schon bezweifelt werden, ob Eliten tatsächlich naturgegeben hochwertige Ideen
hervorbringen und das Mandat haben sollten, eine vermeintlich ignorante Masse zu erziehen. Bereits
zu Beginn des 20. Jahrhunderts beschrieb Antonio Gramsci vielmehr, dass Eliten eine Legitimationsnot
haben, der sie mit der mechanischen Herstellung eines ideologischen Common Sense begegnen, d.h. sie
versuchen, die Beherrschten ideologisch zu indoktrinieren, um ihre eigene Höherwertigkeit abzusichern
(vgl. Rupert 2009: 183). Dafür lieferte Bernays mit seinem „engineering of consent“ (Bernays 1947: 113) das
perfekte Rezept, aber sein Argument für die grundlegende Legitimation der Elite zur Manipulation der Masse
bleibt im wahrsten Sinne des Wortes „präpotent“, ein übermächtiger Übergri.
Die Grundannahme, dass die Masse ignorant und die gebildete Elite höherwertig sei, legitimiert sich
nicht von selbst und entbehrt auch jeder Verizierbarkeit oder Falsizierbarkeit. Moralisch-ethische Werturteile
entziehen sich – trotz nachhaltiger Versuche, universelle Werthaltungen zu beschreiben (vgl. Schwartz 2012)
– scheinbar grundsätzlich naturwissenschaftlich-systematischer Methodik: Keine Aufbereitung kann die
systemischen Kontextabhängigkeiten des realen menschlichen Lebens und seiner Bewusstseinszustände
so umfassend darstellen, dass für jede mögliche Situation alle perspektivischen Kontingenzen berücksichtigt
wären. Auch könnte eine systematische Aufbereitung der Entwicklung von Vorstellungen in der Bevölkerung
keinen Aufschluss darüber geben, ob diese grundsätzlich als „gut“ oder „schlecht“ einzustufen sind, da
Werte-Label in Abhängigkeit von den möglichen Zielsetzungen variabel bleiben. Folglich ist auch nicht zu
sagen, wessen oder welche Ideen als höherwertig einzustufen sind oder eine bessere Chance haben, eine
Demokratie zu stabilisieren.
In diesem Artikel werden wir uns an die Haltung Paul Feyerabends anlehnen, der die Wissenschaft
von den dogmatischen Fesseln der modernen Vernunft befreit wissen wollte, um neue Erkenntniswege
beschreiten zu können (vgl. Feyerabend 1975: 479f.). Uns geht es allerdings nur sekundär um die Wissenschaft,
sondern primär um die wissenschaftsgestützte Funktion der Sozialen Arbeit in der Gesellschaft. Aktuell
verorten wir in der Sozialen Arbeit mit ihrer überwiegend individuumsorientierten Methodik eine Tendenz
zum „engineering of compliance“ – Bernays revisited – die sich als Empowerment tarnt.
In der apolitisch aufbereiteten Methodik der sozialarbeiterischen Beratungstätigkeit nden sich
Grundsätze wie das Arbeiten auf „Augenhöhe“, der „authentische“ Umgang und Ausdruck, die „Empathie“
mit Klient*innen und deren Lebenssituation (vgl. Wendt 2021; Ritscher 2005). Teils stehen diese Grundsätze
im diametralen Gegensatz zum Arbeitgeber*innen-Mandat, welches die Praktiker*innen ausschickt, um
größere Compliance mit Regulativen herzustellen. Klient*innen haben dann die Freiheit, sich für oder
gegen mehr Compliance zu entscheiden, wobei Letzteres mit Sanktionen verknüpft ist, d.h. dass die
Beratungsumstände viel weniger eine freie Entscheidung nahelegen als eher einen Zwang zur zumindest
teilweisen Unterwerfung.
Sozialpädagog*innen beispielsweise „wissen“, wie man Kinder am besten pegt, bespaßt und
psychisch entwickelt, wie der Haushalt am ökonomischsten funktioniert. Die Sozialarbeiter*innen im
Wohnungslosenbereich „wissen“, wie man arbeiten geht, Geld verdient, eine Wohnung erhält, mit Süchten
umgeht. Nur das Entscheidende können sie nicht: den Bedürftigen eine Wohnung geben und eine Arbeit,
die sie auch bewältigen können und die ausreichend bezahlt wird, um den Lebensunterhalt zu bestreiten.
Professionell müssen sie auch Abstand halten, denn Fürsorge von Mensch zu Mensch wäre „unethisch“.
Als Privatperson kann ich „Nachbar*in in Not“ einfach Geld in die Hand drücken, als professionell Helfende*r
geht das keinesfalls.
Die Frage, die sich für uns in diesem Kontext stellt, ist folgende: Woher kommen alle diese, eigentlich
von intrinsischer Logik befreiten Annahmen? Wer erzeugt die vielen Common-Sense-Ideen, die zu einer
gegebenen Zeit in einer gegebenen Gruppe dominant, aber oensichtlich nicht alternativlos sind? Und
letztlich, noch viel entscheidender: Wie könnte man die Dominanz einer herrschaftlichen Gruppe dadurch
eingrenzen, dass mehr Alternativen ständig im System verhandelbar bleiben?
2
Biopolitische Gouvernementalität und die Annehmlichkeiten der Überwachung
Heutzutage sind wir es gewohnt, dass Institutionen uns pädagogisch behandeln. Das Gesundheitssystem
sagt uns, wann Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen fällig sind, wann unsere Mammographie oder Koloskopie
ansteht und wann wir welche Impfung brauchen. Das Finanzsystem signalisiert, wer unser Geld verwalten
soll (die Banken) und dass Arbeitslosigkeit eine Art Krankheit ist, die möglichst an der Wurzel bekämpft
werden muss (durch Ausbildung). Das Ausbildungssystem sagt uns, was Wissen ist und Kompetenz und
wozu diese verwendet werden dürfen. Das Justizsystem reglementiert unsere Wertannahmen und unsere
Interaktionen. Das Verwaltungssystem schreibt uns vor, unter welchen psychischen und physischen
Voraussetzungen ein Fahrzeug gelenkt werden darf. Das virtuelle Buchgeschäft empehlt uns jene Bücher, die
uns voraussichtlich am meisten interessieren – auf der Basis unseres bisherigen Kaufverhaltens in Abgleich
mit einer riesigen Stichprobe anderer. Dass wir an diese Dinge gewöhnt sind, hat Michel Foucault (2020: 291)
als Gouvernementalität bezeichnet: „[…] die Machtbeziehungen sind zunehmend ‚gouvernementalisiert‘,
das heißt in der Form oder unter den Auspizien der staatlichen Institutionen elaboriert, rationalisiert und
zentralisiert worden.“ Wir sind dazu erzogen worden, uns erziehen und regieren zu lassen. Dass zutiefst
in unsere Privatsphäre hineinreguliert wird – wie etwa in der Medizin, welche in Klinikumgebungen
die Normalparameter des menschlichen Funktionierens gerne als Verwaltungsparameter heranzieht
–, bezeichnete er als Biopolitik (vgl. Foucault 2020: 1020). Die Notwendigkeit dieser Phänomene leitete
Foucault von der Dominanz der neoliberalen Ideologie ab – alles, auch das Privatleben des Individuums,
wird einer ökonomischen Logik unterworfen.
Nun kann man darüber streiten, bis zu welchem Grad ökonomische Überlegungen „natürlicherweise“
das Leben einzelner Menschen bestimmen. Niemand ist unabhängig von der Infrastruktur, die die täglichen
Überlebensnotwendigkeiten bereitstellt, und jederfrau*man braucht auch sozialen Austausch zum Überleben.
Das absolute Minimum an existenzsichernden Notwendigkeiten bedingt allerdings höchstwahrscheinlich
noch keine Massenproduktion, keine Logik des kontinuierlichen wirtschaftlichen Wachstums oder der
ständigen Steigerung der menschlichen und technologischen Intelligenz. Wenn wir also davon ausgehen,
dass diese Ausprägungsform der ökonomischen Logik, die unsere Gesellschaft zutiefst durchdringt und
Machtverhältnisse bedingt, kein Naturgesetz darstellt, dann dürfen wir uns fragen, ob sie überhaupt als
Grundlage für Soziale Arbeit geeignet sein kann.
Soziale Arbeit in ihrer gegenwärtigen Professionalisierungsform hat dennoch vielerorts die Annahme
internalisiert, dass ihre Services ezient und adäquat an Frau*Mann gebracht werden müssen. Je nach
nationalem Erscheinungsbild der Wohlfahrtsstrukturen ist sie mehr oder weniger dezitorientiert, d.h.
Bedürftige müssen ihre Bedürftigkeit glaubhaft machen. Wenn diese dann im Zuge der Beantragung von
Mitteln dokumentiert ist, mutiert die Bedürftigkeit zur Erziehungsgrundlage (vgl. Kleve 2007: 228f.). Die
Leute – so hört man immer wieder von Professionist*innen – können nicht mehr haushalten, mit ihrem
Geld nicht umgehen, sich nicht mit ihren Kindern beschäftigen; sie ernähren sich nicht adäquat, entwickeln
Süchte, obwohl sie wissen sollten, dass ihnen gewisse Substanzen oder Verhaltensweisen nicht gut tun,
etc.
Diesen Ausführungen folgend lässt sich erkennen, dass die Symptomatik am Individuum gerne
in den Fokus genommen wird. Individualpsychologische Theorien und Erkenntnisse eignen sich gut,
um mit Einzelnen im Rahmen des Case Managements zu arbeiten. Auf dieser Ebene wird auch gerne
„systemisch“ vorgegangen: das Familiensystem der Menschen wird beleuchtet, Ressourcen werden
in der unmittelbaren Lebenswelt der Betroenen ausgemacht und generell wird darauf abgestellt, einen
vermeintlichen „Idealzustand“ des Lebens zumindest anzuvisieren – immer im Bewusstsein, dass man
davon aber noch meilenweit entfernt ist. Hosemann attestiert dazu unter der Überschrift „Förderung der
eigenen Wirkungslosigkeit“:
„Der Verzicht auf die Untersuchung konkreter Wechselwirkungen kann nicht durch die
Addition normativer Ziele ersetzt werden. […] Die Reduktion des Handelns auf einen
Kontext, in dem es zu reagieren gilt, macht die eigenen Optionen unsichtbar,
verschleiert die eigene Verantwortung, wesentliche Teile der Reexionsbasis der
Profession gehen verloren und damit Professionalität.“ (Hosemann 2021: 47,
Herv.i.O.)
Wichtig ist, dass Klient*innen der Sozialen Arbeit ihre Selbstwirksamkeit wieder erfahren können, dass
sie Empowerment erleben. Empowerment wird von Herriger deniert als mutmachender Prozess der
Selbstbemächtigung, in dem benachteiligte oder ausgegrenzte Menschen beginnen, ihre Angelegenheiten
selbst in die Hand zu nehmen und eigene Kräfte zu einer selbstbestimmten Lebensführung nutzen lernen
(vgl. Herriger 2020: 20). Empowerment will sowohl Einzelne fördern als auch die Stärkung von Gruppen und
Netzwerken betreiben und somit Machtbarrieren für Betroene identizieren und abbauen. Somit forciert
Empowerment gesellschaftspolitische Verteilungskonikte mit dem Ziel demokratischer Partizipation. Ein
Grundproblem von Empowerment ist dabei, dass die Selbstbefähigung durch Außenstehende erfolgen soll
(vgl. Wendt 2021: 39). Da der Ansatz in der Praxis vielfach individualistisch verstanden und eingesetzt wird,
kann er dazu beitragen, dass Machtverhältnisse eher verschleiert werden und die Sozialarbeiter*innen sich
noch mehr an herrschaftlichen Strukturvorgaben orientieren (vgl. Sagebiel/Pankhofer 2015: 136–138).
Trotzdem scheinen Professionist*innen selten Zweifel zu haben, wenn das Zauberwort Empowerment
erscheint. Wie erlebt denn ein Flüchtling Empowerment? Indem sie*er „motiviert“ Deutsch lernt, jeden
noch so schlechten Job annimmt, sich „untertänigst“ um alles bemüht, was verlangt wird, und dafür mit
Sozialhilfe-Neu belohnt wird? Oder eine wohnungslose Person, die zweifelsohne Schlimmes erlebt hat und
ohne besondere Absicht in die gegenwärtige Situation geschlittert ist? Indem sie*er die Hausregeln der
niederschwelligen Organisation befolgt, in der sie*er gnädiger Weise ein paar Stunden bleiben darf (und
dafür auch ein paar Euro selbst bezahlen muss, als Solidarbeitrag oder Eigenleistung), bis entweder wieder
der einsame Kampf (gegen die Polizei) oder die nächste Hausregelut auf sie*ihn hereinprasselt? Diese
konkreten Beispiele illustrieren, wie hier die Perspektive zahlreicher „Systemfehler“ auf die Perspektive einer
in sich fast geschlossenen, an einem kreierten Ideal im Sinne Bernays orientierte gesellschaftliche Ordnung
trit. Eine Einsicht, dass der Systemfehler nicht „abnormal“ ist, fehlt gänzlich.
Versuchen wir eine ähnliche Illustration am Beispiel systemadäquater Individuen. Sie sind erfolgreich,
haben Arbeit, Geld, scheinbar Selbstwirksamkeit und Anerkennung. Sie können sich kontinuierlich
optimieren; auch sie können psychosoziale Dienstleistungen in Anspruch nehmen, um noch besser leben
zu können. Sie werden von ihren smart devices analysiert, ihr Verhalten wird immer wieder vermessen, was
dazu führt, dass ihnen das angeboten werden kann, was der Wirtschaft Geld und ihnen noch mehr Chancen
zur Selbstoptimierung bietet. Was fehlt hier? Sind diese Menschen das Beispiel für Empowerment, wie es
den Klient*innen der Sozialen Arbeit fehlt? Oder sind sie vielmehr Rädchen in einem Getriebe, das sich ohne
ihre eigene Zustimmung und kreative Einussnahme fortbewegt, bis sie alle verbraucht sind?
Zweifellos ist es so, dass die Standardisierung und Transparenz von Angeboten und deren
Abstimmung mit Mehrheitspräferenzen Vorteile bietet. Ein Überangebot an Möglichkeiten, wie es sich
heute mancherorts darstellt, führt bei Individuen schnell zu Orientierungslosigkeit, Frust und Desinteresse.
Wenn Werthaltungen durch Diversität und globalen Austausch relativiert werden, Individuen gleichzeitig
dazu angehalten sind, selbstverantwortlich zu leben und zu handeln, ohne einen Überblick oder eine innere
Orientierung behalten zu können, dann folgen Isolation und Angst. Diese Verunsicherung wiederum bereitet
den besten Nährboden für eine führungshungrige Masse an Menschen, die sich bereitwillig lenken lassen,
solange dies ihre Sicherheit und Bequemlichkeit fördert.
Wir verstehen also, warum Gouvernementalität, Biopolitik und Überwachungskapitalismus (vgl.
Zubo 2018) von der Bevölkerung nicht gänzlich abgelehnt werden. Dennoch möchten wir in Zweifel ziehen,
ob die Soziale Arbeit sich nicht aus ihrer Rolle der „Krankenschwester des Kapitalismus“ (Stark 2007: 4)
emanzipieren müsste, um grundlegende Menschenrechte zu gewährleisten und strukturelle Alternativen
zu erschließen, die eine tatsächliche Ermächtigung und Teilhabe aller Menschen an ihren jeweiligen
(demokratischen) Regierungsformen ermöglicht.
3
Widerstand als Innovation – vermitteln statt verwalten
Wenn Klient*innen in der Sozialen Arbeit vorstellig werden, dann geschieht dies in der überwiegenden
Mehrheit der Fälle unfreiwillig. Der grundsätzliche Widerstand, der solchen Begegnungen zugrunde liegt,
gilt im Allgemeinen als etwas, das überwunden werden soll bzw. muss (vgl. Conen/Checcin 2007). Es
wurden zusätzlich auch Zugänge entwickelt, Widerstand gegenüber dem Klient*innenverhalten auf Seite
der Professionist*innen einzusetzen, allerdings in erster Linie als individuelle Intervention, wie gewaltloser
Widerstand und elterliche Präsenz von Omer und von Schlippe (2004). Wir beziehen uns in diesem Artikel
auf einen Widerstand, den wir als strukturell und inhaltlich angelegt begreifen, und möchten hier dafür
plädieren, ihn als verständliche Reaktion ernst zu nehmen und dafür zu nutzen, Alternativen zu entwickeln.
Widerstand stellt einen Teil von Machtbeziehungen dar und tritt immer dann auf, wenn Menschen ihr
Leben nicht in der Weise gestalten können, die sie für sich selbst als möglich und richtig erachten. Widerstand
tritt also in Interaktionsprozessen von sozialen Systemen immer als Erstes auf, wenn Individuen nicht das
tun können, was sie wollen und ist in diesen Prozessen sämtlichen Kräften überlegen. Die wesentliche
Wirkung dabei ist, dass durch Widerstand Machtverhältnisse dazu genötigt werden, sich zu verändern, im
besten Falle sich weiterzuentwickeln (vgl. Foucault 2020: 916). Bereits passiert ist dies beispielsweise in der
Jugendbetreuung. Da viele Jugendliche einen ausgeprägten Widerstand gegen vollbetreute Wohnformen
zum Ausdruck brachten, und weil das System sich mit den vielen „getürmten“ Individuen überfordert fühlte,
begann man, exiblere und autonomere Wohn- und Betreuungsformen zu entwickeln, die heutzutage mit
Erfolg Jugendliche auf das Erwachsenenleben vorbereiten. Ähnlich entwickelte sich das „Housing First“
Projekt aus der Erkenntnis, dass es wohnungslosen Klient*innen in erster Linie an Wohnraum fehlt, ganz
abgesehen von ihren anderen Problemlagen.
Daher fragen wir uns, ob es nicht möglich wäre, den Koniktbogen von Anfang an methodisch
aufzuspannen, um diese Widerstände und Ambiguitäten dafür zu nutzen, passende Angebote zu entwickeln
und strukturelle Innovation voranzutreiben. Dabei denken wir an Verhandlungsräume, die eine tatsächlich
zweiseitige Verhandlungsbasis bieten. Tatsächlich werden Klient*innen der Sozialen Arbeit in Hilfeprozessen
sehr wohl eingebunden, es wird ihnen aber kein Verhandlungsspielraum auf Augenhöhe zugestanden.
Die Behörde, deren Maßnahmen umgesetzt werden sollen, diktiert die Spielräume und versorgt die
Sozialarbeiter*innen bzw. Sozialpädagog*innen mit ausreichend Dokumentationsarbeit. Wie bereits Max
Weber (1985) analysierte, dienen Verwaltungsaufgaben der Aufrechterhaltung der Herrschaft und laden nicht
zu Innovation ein. Dokumentiert wird alles, was die Verantwortung für die Problematik bei den Klient*innen
verortet und die adäquate Intervention seitens Professionist*in bzw. Behörde bestätigt. Eine geteilte
Verantwortung für selbstwirksame Menschenleben oder Vielfalt hinsichtlich der Lebensgestaltung wird
nirgends sichtbar. Die Ausführenden haben notwendigerweise auch viel zu viel Angst davor, nicht „richtig“
interveniert zu haben, als dass sie Klient*innen Entscheidungsspielraum oder Vielfalt einfach zugestehen.
Als Alternative dazu soll ein Hilfeprozess vorgestellt werden, in dem auch die Anliegen der Verwaltung vor
dem Hintergrund ihres partiellen Versagens in grundsätzlichen gesellschaftlichen Angelegenheiten konkret
verhandelt werden können.
4
Nachhaltige soziale Innovation – Navigieren zum vielfältigen Konsens
Methoden der Sozialarbeit richten sich zunehmend nach verschiedenen therapeutischen Konzepten
und sind damit oftmals individualistisch ausgerichtet und an einer idealtypischen Idee der menschlichen
Entwicklung orientiert. Diese Schwerpunktsetzung im Sinne des Humanismus soll an dieser Stelle nicht
prinzipiell in Frage gestellt werden, allerdings beinhaltet sie eine Einschränkung, wie auch Foucault ([1988]
2020: 965) konstatiert:
„Was mir am Humanismus nicht behagt, ist, dass er eine bestimmte Form unserer
Ethik zum Muster und Prinzip der Freiheit erklärt. Ich glaube, dass es mehr
Geheimnisse gibt, mehr mögliche Freiheiten und weitere zukünftige Erndungen, als
wir uns dies im Rahmen des Humanismus vorstellen können, […].“
Bei der Arbeit mit „Systemfehlern“, die darüber hinaus unfreiwillig zur Beratung kommen bzw. Unterstützung
suchen (müssen), ist dieser Ansatz mit einer idealtypischen Voreinstellung zur menschlichen Entwicklung
mit Vorsicht zu genießen. Allzu leicht gerät man ins Fahrwasser der Pädagogisierung der Allgemeinheit,
besonders im Präventionsbereich, welcher sich an oenbar unverhandelbaren Normvorstellungen orientiert
und sich mit demokratiepolitischer Vielfalt schlecht verträgt. Um diese Gefahr hintanzuhalten, schlagen wir
vor, dass in den Unterstützungsprozessen der Sozialen Arbeit folgende Instrumente zum Einsatz kommen
sollen:
a.
Beobachtungsinstrumente (zweiseitig und auf Augenhöhe)
Innerhalb eines sozialarbeiterischen Hilfeprozesses reektieren alle beteiligten
Parteien die Problemlage und identizieren relevante Faktoren ohne
Schuldzuweisungen. Die Beobachtungen umfassen so unterschiedliche Perspektiven,
wobei keine zur allgemeingültigen erhoben wird. Vielmehr liegt der Fokus darauf, wie
die ungünstige systembezogene Navigation und Kommunikation der Beteiligten zur
Einschränkung ihrer jeweiligen Möglichkeiten führen.
b.
Navigationsinstrumente (zwischen sozialen Systemen verhandelnd und ankoppelnd)
Alle beteiligten Parteien priorisieren ihre Anliegen in Anbetracht der Tatsache, dass
der Idealfall nicht eintreten konnte und ein systemisches Versagen vorliegt. Man
beschäftigt sich mit der Frage, wie eine bessere Verhandlungs- und
Kommunikationsbasis die Optionen aller Beteiligten erweitern kann. Nach einem
partizipativen Verhandlungsprozess kann ein Ergebnis wieder in neuer Runde
diskutiert und somit eine Rückkopplungsschleife in Gang gesetzt werden, die
nachhaltige Prozesse zur gängigen Methode in einem dynamischen
Gesellschaftssystem macht. Luhmann (2020: 161) beschrieb dies mit dem
Begri Reentry: Beobachtungen und damit Unterschiedsbildungen werden wieder
in das Beobachtungssystem hineingeführt und damit entwickelt sich das
(Beobachtungs-)System weiter. Somit ist es möglich, den Zustand von Systemen zu
betrachten, bevor Unterscheidungen getroen wurden, und mit der Wiedereinführung
der Dierenz die möglichen Veränderungen zu reektieren.
c.
Prozessgestaltungsinstrumente (vermittelnde Ebene der Sozialen Arbeit)
Alle Beteiligten verhandeln ihre wichtigsten Anliegen, um einen sozial verträglichen
Prozess zu gestalten. Die Sozialarbeitenden nehmen eine vermittelnde Haltung ein.
Um diese innovative Prozessgestaltung zu ermöglichen, erscheint es notwendig,
die Zielgruppen Sozialer Arbeit mit Interessensvertretungen auszustatten, welche
die jeweiligen Bedürfnisse und Perspektiven in priorisierter Form wahren können. Als
Beispiel für eine derartige Vertretung und Darstellung von Interessen in einem
Verhandlungsprozess könnte das Modell des Kinderbeistandes (vgl. Kinderbeistand
Gesetz 2009) dienen.
Allzu weit entfernt sind wir von der Gestaltung dieser Prozesse gar nicht. In den letzten Jahrzehnten
haben wir zahlreiche Veränderungen erlebt, die durch Verhandlung mit Stakeholdern in der Gesellschaft
tiefgreifende Veränderungen der Struktur hervorgebracht haben. Sexuelle Orientierung wurde weniger
problematisch und strarei, Emails ersetzten Briefe als ozielle Dokumente, Diskriminierung auf der Basis
von Rassenvorstellungen, Geschlecht, Alter, Aussehen u.v.m. wurden weniger salonfähig bzw. sogar
strafbar, ein Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz (vgl. BGStG 2005) fordert die gleichberechtigte
Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigung in allen Lebensbereichen. Man könnte fast annehmen, es
gäbe die von uns oben beschriebenen Verhandlungsspielräume bereits. Ganz so ist es allerdings leider noch
nicht. Zeitgleich zur Liberalisierung vieler Vorstellung vollzieht sich meist ein Rückschritt aus Angst, eine
Kehrtwende zum Traditionellen aus Verunsicherung (vgl. Baumann 2018: 10f.). Wenn daher keine nachhaltigen
Rückkopplungsprozesse bestehen und Verwaltungsapparate sich als Autoritäten identizieren, anstatt als
Vermittler, dann verschwinden errungene Freiheiten auch leicht wieder, Alternativen werden blinde Flecke,
die man vor Unsicherheit, Frust, bequemer Verregulierung und vermeintlicher Transparenz nicht mehr sehen
kann oder will.
Menschen sollen nicht vordergründig verwaltet und sanktioniert, sondern perspektivisch beteiligt und
anerkannt werden im demokratischen Miteinander. Schon Honneth (2018: 260f.) stellt fehlende Anerkennung
und soziale Missachtung als potentielle Rahmen für Konikte und Widerstand dar, welche zu einem „Kampf
um Anerkennung“ führen, um die persönliche Integrität aufrechterhalten zu können. Diese Instrumente
sollen eine Erweiterung der bestehenden Methodik in der Gestaltung des „Sozialen“ beschreiben, um in der
praktischen Umsetzung nicht lediglich Lösungen zu entwickeln, welche sich innerhalb einer bürokratischen
Verwaltungspraxis wiedernden müssen. Hier dienen sie als Ausblick und Illustration dafür, was im Gegensatz
zum „Engineering of Compliance“ die demokratiepolitische Aufgabe der Sozialen Arbeit sein könnte – das
„Navigieren zum vielfältigen Konsens“.
Literaturverzeichnis
Amos, Amanda/Haglund, Margaretha (2000): From social taboo to ‚“torch of freedom”: the marketing of
cigarettes to women. In: Tobacco Control, 2000/9, S. 3–8.
Bauman, Zygmunt (2018): Retrotopia. 2. Au. Berlin: Suhrkamp.
Bernays, Edward L. (1947): The Engineering of Consent. In: The ANNALS of the American Academy of
Political and Social Science, 250(1), S. 113–120. https://doi.org/10.1177/000271624725000116.
BGStG – Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz (2005): BGBl. I Nr. 82/2005 (NR: GP XXII
RV 836 AB 1028, S. 115. BR: AB 7341, S. 724) https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.
wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=20004228 (18.04.2021).
Conen, Marie-Luise/Cecchin, Gianfranco (2007): Wie kann ich Ihnen helfen, mich wieder loszuwerden?
Therapie und Beratung in Zwangskontexten. Heidelberg: Carl Auer.
Feyerabend, Paul K. (1975): Über einen neueren Versuch, die Vernunft zu retten. In: Stehr, Nico/König,
Rene (Hg.): Wissenschaftssoziologie. Studien und Materialien. Kölner Zeitschrift für Soziologie und
Sozialpsychologie. Sonderheft 18. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 479–514.
Foucault, Michel (2020): Wahrheit, Macht, Selbst. Ein Gespräch zwischen Rux Martin und Michel Foucault.
In: Defert, Daniel/Ewald, Francois (Hg.): Michel Foucault. Schriften in vier Bänden. Bd. 4. 2. Au. Frankfurt
am Main: Suhrkamp, S. 959–966.
Foucault, Michel (2020): Michel Foucault, ein Interview: Sex, Macht und die Politik der Identität. In: Defert,
Daniel/Ewald, Francois (Hg.): Michel Foucault. Schriften in vier Bänden. Bd. 4. 2. Au. Frankfurt am Main:
Suhrkamp, S. 909–924.
Foucault, Michel (2020): Subjekt und Macht. In: Defert, Daniel/Ewald, Francois (Hg.): Michel Foucault.
Schriften in vier Bänden. Bd. 4. 2. Au. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 269–294.
Foucault, Michel (2020): Die Geburt der Biopolitik. In: Defert, Daniel/Ewald, Francois (Hg.): Michel Foucault.
Schriften in vier Bänden. Bd. 4. 2. Au. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 1020–1028.
Herriger, Norbert (2020): Empowerment in der Sozialen Arbeit : eine Einführung. Stuttgart: W. Kohlhammer.
Honneth, Axel (2018): Kampf um Anerkennung. 10. Au. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Hosemann, Wilfrid (2021): Systemtheoretische Entwürfe Sozialer Arbeit. Weinheim/Basel: Beltz Juventa.
Kinderbeistand-Gesetz (2009): 137. Bundesgesetz: Kinderbeistand-Gesetz (NR: GP XXIV RV 486 AB 563, S.
49. BR: 8218 AB 8230, S. 780).
Kleve, Heiko (2007): Postmoderne Sozialarbeit. 2. Au. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Luhmann, Niklas (2020): Einführung in die Systemtheorie. 8. Au. Heidelberg: Carl Auer.
Omer, Haim/Schlippe, Arist von (2004): Autorität durch Beziehung. Gewaltloser Widerstand in Beratung und
Therapie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Ritscher, Wolf (2005): Systemische Modelle für die Soziale Arbeit. 2. Au. Heidelberg: Carl Auer.
Rupert, Mark (2009): Antonio Gramsci. In: Edkins, Jenny/Vaughan-Williams, Nick (Hg.): Critical Theorists
and International Relations. London/New York: Routledge, S. 176–186.
Sagebiel, Juliane/Pankhofer, Sabine (2015): Soziale Arbeit und Machttheorien. Freiburg im Breisgau:
Lambertus.
Schwartz, Shalom H. (2012): An Overview of the Schwartz Theory of Basic Values. In: Online Readings in
Psychology and Culture, 2(1). http://dx.doi.org/10.9707/2307-0919.1116.
Stark, Christian (2007): Politisches Engagement in der Sozialarbeit. In: Lallinger/Rieger (Hg.): Repolitisierung
Sozialer Arbeit. Stuttgart: Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, S.69–82.
Weber, Max (1985): Wirtschaft und Gesellschaft. Altenmünster: Jazzybee Verlag Jürgen Beck.
Wendt, Peter-Ulrich (2021): Lehrbuch Methoden der Sozialen Arbeit. 3. Au. Weinheim/Basel: Beltz Juventa.
Zubo, Shoshana (2018): Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. Frankfurt am Main: Campus.
Über die Autor_Innen
FH-Assistenzprof. Charlotte Sweet, MA, MA
charlotte.sweet@fh-linz.at
Kulturwissenschafterin, Linguistin, Assistenzprofessur an der Fachhochschule Oberösterreich, Studiengang
Soziale Arbeit in Linz.
Franz Schiermayr, MSc
franz.schiermayr@fh-linz.at
Sozialarbeiter, Systemischer Familientherapeut, Kinder- und Jugendtherapeut, Supervisor und
Erlebnispädagoge, Professur für Praxis an der Fachhochschule Oberösterreich, Studiengang Soziale Arbeit
in Linz.
Gegen jeden Common Sense – durch Widerspruch zur
Sozialen Innovation
Charlotte Sweet, Franz Schiermayr