soziales_kapital
Hanna Vettori, Alexandra Winkler.
“
Gemeinwesenarbeit zielgruppenübergreifend und selbstorganisiert:
Zukunsbilder für St. Pölten und andere Sozialräume.
” soziales_kapital, no. 26 (2022). Rubrik „Junge Wissenscha“.
St. Pölten. Printversion:
http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/view/760/1411.pdf
_
Soziale Innovation
26. Ausgabe Juni 2022
Zusammenfassung
Der Artikel beruht auf Erkenntnissen der Masterarbeit Gemeinwesenarbeit neu gedacht und
selbstorganisiert, die an der Fachhochschule St. Pölten verfasst wurde. Einleitend werden theoretische
Grundsätze der Gemeinwesenarbeit (GWA) und Selbstorganisation umrissen, um darauf aufbauend den
Ansatz der zielgruppenübergreifenden Selbstorganisation vorzustellen. Exemplarisch werden bestehende
GWA-Ansätze und Ideen von Bürger:innen St. Pöltens zur nachhaltigen Gestaltung ihres Sozialraumes
beschrieben. Abschließend wird ein Konzept für professionelle GWA, für ein soziales Miteinander und gutes
Leben für unterschiedlichste Menschen vorgestellt. Das Konzept zeigt, wie vorhandene Potenziale genutzt
und Voraussetzungen für die nachhaltige Verbesserung der Lebensbedingungen von Einwohner:innen
geschaen werden können.
Schlagworte:
Gemeinwesenarbeit, zielgruppenübergreifende Selbstorganisation, Sozialraum
St. Pölten, Stärkung des sozialen Miteinanders, Bürger:innenpartizipation
Abstract
This article is based on the results of the master’s thesis Gemeinwesenarbeit neu gedacht und selbstorganisiert,
which was written at the University of Applied Sciences of St. Pölten. By way of introduction, the article
outlines theoretical principles of community work and self-organization in order to present the approach
of cross-target group self-organization. It describes existing GWA approaches and ideas of citizens of St.
Pölten for a sustainable co-creation of their social environment. Finally, it provides a concept for professional
community work for a social coexistence and good life for all. The concept shows how existing potentials
can be used and how conditions for a sustainable improvement of the living conditions and a better social
coexistence can be created.
Keywords:
community work, self-organization across target groups, strengthening the social, citizen
participation
1
Einleitung
Wir blicken nun auf zweieinhalb Jahre Corona-Krise zurück, eine Zeit der globalen Unsicherheit und der
Verschärfung sozialer Ungleichheiten. Auch in Österreich rechnen Expert:innen mit einem Anstieg von
Wohnungslosigkeit und Armut (vgl. Die Armutskonferenz 2021; BAWO 2021). Abgesehen von den Auswirkungen
der Corona-Krise und einem Krieg in Europa stehen wir vor vielen weiteren gesellschaftspolitischen
Herausforderungen wie Rechtspopulismus, Korruption und Entdemokratisierung. Viele selbstorganisierte
Bürger:inneninitiativen versuchen diesen Entwicklungen entgegenzuwirken: Jugendliche kämpfen für
eine klimagerechte Zukunft; ‚Omas‘ protestieren gegen den Rechtsruck; Nachbar:innen unterstützen sich
in der Corona-Krise; 50.000 Menschen gehen für black lives matter gegen rassistische Gewalt auf die
Straße. Diese Liste an Bottom-up-Bewegungen lässt sich lange weiterführen. Sie sind Ausdruck für das
Bedürfnis von Bürger:innen nach mehr politischer und sozialer Mitgestaltung. Aus einer sozialarbeiterischen
Perspektive stellt sich dabei die Frage, welchen Beitrag Gemeinwesenarbeit (GWA) leisten kann, um mehr
Teilhabemöglichkeiten für Bürger:innen zu ermöglichen.
Dieser Artikel präsentiert die Forschungserkenntnisse der Masterarbeit Gemeinwesenarbeit neu
gedacht und selbstorganisiert (2020). Im ersten Teil werden die Leser:innen mit dem GWA-Verständnis
bekannt gemacht, das dem gegenständlichen Forschungsprojekt zu Grunde liegt. Dabei wird der im Rahmen
des Projektes eigens entwickelte Ansatz der zielgruppenübergreifenden Selbstorganisation skizziert. Im
zweiten Teil werden Potentiale und Ansätze von GWA und zielgruppenübergreifender Selbstorganisation
vorgestellt. Der Beitrag endet mit der Vorstellung eines Konzepts für sozialarbeiterische GWA in Städten und
Gemeinden.
Die empirischen Erkenntnisse stützen sich auf Erhebungen aus dem Sozialraum St. Pölten sowie auf
drei österreichweite Umsetzungsbeispiele für GWA: ein Stadtteilzentrum in Innsbruck, ein von Bürger:innen
selbstorganisiertes Nachbarschaftszentrum in Wien und eine soziale Einrichtung für geüchtete Menschen
mit GWA-Ansätzen in Linz. Methodisch wurde dem Ansatz der kollaborativen Aktionsforschung gefolgt.
Die Durchführung von Expert:inneninterviews, Gruppendiskussionen und leitfadengestützten Interviews
komplettierte die Datenerhebung. Darüber hinaus kamen Sozialraumbegehungen (ebenfalls eine Methode
der GWA) im Zuge der Datenerhebung zur Anwendung. Die aus dem Forschungsprozess hervorgehende
Masterarbeit wurde von neun Studierenden in einem soziokratischen Prozess gemeinsam verfasst. An dieser
Stelle danken wir unseren Kolleg:innen Rosanna Drochter, Sophie Fichtinger, Susanne Gahleithner, Elena
Kundrat, Melina Minassians, Alexander Kopp und Michelle Trestl sowie unseren Lehrenden Michaela Moser
und Elisabeth Rücker herzlich für die inspirierende Zusammenarbeit.
2
Ein theoretischer Blick auf GWA und Selbstorganisation
2.1Gemeinwesenarbeit: zielgruppenübergreifend und brückenbauend
GWA ist ein facettenreiches Handlungsfeld der Sozialen Arbeit, das diverse Theorien, Ansätze und
Methoden bereithält. Im Gegensatz zur Einzelfall- und Gruppenarbeit in der Sozialen Arbeit setzt GWA nicht
beim Individuum, dessen gesellschaftlicher Interaktion und vorherrschenden strukturellen Bedingungen
an, sondern fokussiert gezielt übergreifende Themen und arbeitet in größeren sozialen Zusammenhängen
(vgl. Stövesand/Stoik 2013: 16). Die GWA-Theoretiker:innen Stövesand und Stoik (2013: 21) denieren
Gemeinwesenarbeit wie folgt:
„Gemeinwesenarbeit richtet sich ganzheitlich auf die Lebenszusammenhänge
von Menschen. Ziel ist die Verbesserung von materiellen (z.B. Wohnraum,
Existenzsicherung), infrastrukturellen (z.B. Verkehrsanbindung, Einkaufsmöglichkeiten,
Grünächen) und immateriellen (z.B. Qualität sozialer Beziehungen, Partizipation,
Kultur) Bedingungen unter maßgeblicher Einbeziehung der Betroenen.“
Neben Denkanstößen aus der Theorie war für die Masterarbeit das GWA-Verständnis der „demokratiefördernden
Brückenbauerin“ nach Riede (2017; 2019) prägend. Riede beschreibt die GWA im Kontext von heterogenen
Nachbarschaften und Flucht wie nachstehend:
„Gemeinwesenarbeit bedeutet Demokratieentwicklung durch Teilhabe-, Bildungs-
und Partizipationsmöglichkeiten für Alle. Damit Gemeinwesenarbeit in heterogenen
Nachbarschaften wirken und Brücken bauen kann, gilt es in vielfältiger werdenden
Nachbarschaften und in der Nähe neuer Unterkünfte neutrale Begegnungsorte zu
schaen und professionell zu begleiten.“ (Riede 2017: o.A.)
GWA adressiert dem entsprechend zielgruppenübergreifend alle Menschen im Sozialraum und kreiert
gemeinsam mit Bürger:innen Möglichkeitsräume für Selbsthilfe, Selbstorganisation, Partizipation
und Demokratieentwicklung (vgl. Riede 2017). GWA verfolgt per se einen zielgruppenübergreifenden
Handlungsansatz, da die Aktivitäten auf Bedürfnissen mehrerer Zielgruppen bzw. Bürger:innen eines
Sozialraumes beruhen (vgl. Lüttringhaus 2011: 278).
Inspiriert durch die Literatur, durch Impulse aus der Praxis sowie die empirischen Forschungsergebnisse
wurde folgendes GWA-Verständnis entwickelt: GWA als ein Handlungsfeld der Sozialen Arbeit hat die
Aufgabe, gemeinsam mit Bürger:innen eine nachhaltige Verbesserung der Lebenssituationen und der
gesellschaftlichen sowie politischen Partizipation von Bürger:innen im Sozialraum zu bestärken. Ebenso
sind zentrale Anliegen der GWA: Demokratisierung, Chancengleichheit und Abbau von Ungerechtigkeiten.
Außerdem reagiert GWA auf die zunehmende Spaltung der Gesellschaft und Entdemokratisierung mit einer
Kräftigung des sozialen Miteinanders, Förderung des kollektiven Empowerments und Selbstermächtigung
des Individuums. Dies kann nur durch einen intersektionalen Zugang und zielgruppenübergreifend für alle
Menschen eines Sozialraumes geschehen. Zielgruppenspezische Angebote sind dennoch notwendig, um
möglichst viele Menschen zu adressieren (vgl. Drochter et al. 2020: 72).
2.2
Zielgruppenübergreifende Selbstorganisation bedeutet…
Der Ansatz der zielgruppenübergreifenden Selbstorganisation fügt zwei Grundpfeiler der GWA zusammen:
Selbstorganisation und einen zielgruppenübergreifenden Arbeitsansatz. Er wurde anhand von theoretischen
Grundlagen und empirischen Forschungsergebnissen entwickelt.
Bei der zielgruppenübergreifenden Selbstorganisation ist es zentral, widersprüchliche und diverse
Zugänge wahrzunehmen. Im Zuge des Forschungsprozesses zeigte sich, dass die untersuchten Zugänge
der GWA widersprüchliche und diverse Auassungen von Selbstorganisation aufweisen. Das hat u.a. mit
den jeweiligen Strukturen der Institutionen und selbstorganisierten Initiativen zu tun. Daraus lässt sich
schlussfolgern, dass Selbstorganisation ein kontextabhängiger und mehrperspektivischer Prozess ist
und stark von den beteiligten Akteur:innen abhängt. Weiters zeigt sich, dass zielgruppenübergreifende
Selbstorganisation ehrenamtlich tätige Personen, Aktivismus, Expertise, zeitliche und nanzielle Ressourcen
sowie Transparenz hinsichtlich wirkender Hierarchien benötigt (vgl. Drochter et al. 2020: 255f.).
Ein weiteres Merkmal ist die Förderung von Diversität. Die empirischen Erkenntnisse zeigen, dass
zielgruppenübergreifende Selbstorganisation GWA-Expertise und Kenntnisse zu den Zielgruppen im
Sozialraum benötigt. Neben zielgruppenübergreifenden Aktionen sind auch zielgruppenspezische Angebote
von Relevanz, um möglichst viele und auch benachteiligte Zielgruppen zu erreichen. Zeitgleich fördert sie
Diversität in Nachbarschaften. Der Ansatz schaut gezielt und parteilich auf benachteiligte Menschen im
Sozialraum und stärkt deren Partizipationsmöglichkeiten. Eine intersektionale Perspektive ist unentbehrlich,
um die Wechselwirkung von Dierenzkategorien und daraus resultierende Ungleichheiten im Sozialraum
aufzuzeigen (vgl. ebd.).
Die Forschungsergebnisse machen deutlich, dass zielgruppenübergreifende Selbstorganisation
Vernetzung im Sozialraum und niederschwelliger Zugänge für alle Bürger:innen bedarf. Durch
zielgruppenübergreifende Selbstorganisation werden kreative kollektive Räume und Kommunikationsräume
gebildet, wie Räume des Experimentierens und der Umsetzung von Ideen von Bürger:innen. Dabei benötigen
kreative Räume zu ihrer Entfaltung auch physische Räume (vgl. ebd.: 262).
Die Untersuchung hat ergeben, dass Soziale Arbeit bei zielgruppenübergreifender Selbstorganisation
die Rolle der Vernetzerin, Vermittlerin und Moderatorin einnehmen kann. Soziale Arbeit verfügt über Konzepte,
um selbstorganisierte Initiativen zu unterstützen und zielgruppenübergreifend wirksam zu sein. Zudem kann
sie auch parteilich Stellung beziehen, um Teilhabemöglichkeiten von marginalisierten Zielgruppen zu stärken
(vgl. ebd.: 258f.).
Die Forschungsergebnisse zeigen, dass selbstorganisierte Initiativen Machthierarchien aufweisen.
Diese Machthierarchien zeigen sich vor allem beim Treen von Entscheidungen und bezüglich der
Mitbestimmungsmöglichkeiten. Beispielsweise konnten Bürger:innen in einem untersuchten GWA-
Projekt nur durch eine Mitgliedschaft – die nanzieller als auch sozialer Ressourcen bedarf – vollständig
an Entscheidungsprozessen teilhaben. In einem anderen untersuchten GWA-Projekt ist der Zugang zu
Räumlichkeiten für die Ausübung von selbstorganisierten Aktivitäten hochschwellig, da eine Raumreservierung
stets durch die Leitung der Organisation genehmigt werden muss. Um solchen Hierarchien entgegenzuwirken,
bedarf es einer kritischen, intersektionalen Perspektive auf Ungleichheit erzeugende sowie exklusiv
wirkende Aspekte, eines partizipativen Prozesses von Beginn an und eines niederschwelligen Zugangs
für alle Bürger:innen. Soziale Arbeit ist in diesem Prozess damit konfrontiert, stets die Balance zwischen
Empowerment und Bevormundung zu halten.
Eine weitere diesbezügliche Erkenntnis bezieht sich auf den sozialarbeiterischen Konjunktiv.
Viele selbstorganisierte Initiativen sind meist ohne sozialarbeiterische Unterstützung wirksam, weshalb
der Konjunktiv angebracht ist: Soziale Arbeit könnte, muss aber nicht als potentielle Unterstützerin
Selbstorganisationen zur Seite stehen. Das bedeutet gleichzeitig aber auch, dass sie sich ggf. zurücknehmen
bzw. im Laufe des Prozesses vollständig herausnehmen muss (vgl. ebd.: 261.). Im Zuge des Austauschs
mit Sozialarbeiter:innen konnte eine Skepsis gegenüber Selbstorganisation erkannt werden. Diese Skepsis
bezieht sich laut Moser (2013) auf die sich erönenden Spiel- und Handlungsräume von Selbstorganisation:
Selbstorganisation bewirkt, dass die Machtverhältnisse, Rollenverständnisse und Notwendigkeiten von
Sozialarbeiter:innen infrage gestellt und reektiert werden müssen (vgl. Moser 2013: 145).
3
GWA in die Praxis tragen: Erkenntnisse aus St. Pölten
3.1
Ansätze von GWA und Selbstorganisation in St. Pölten – ein Einblick
Die Masterarbeit beschäftigte sich anhand des städtischen Beispiels St. Pölten mit der Frage, welche
Akteur:innen es für eine gelingende GWA und zielgruppenübergreifende Selbstorganisation bereits gibt.
In Folge wurden bestehende Ansätze von GWA in St. Pölten untersucht und dadurch Anknüpfungspunkte
für diverse Initiativen herausgearbeitet. Ersichtlich wurde dabei, wo institutionalisierte GWA und
zielgruppenübergreifende Selbstorganisation andocken und aktiv werden könnten. Riede beschreibt in
dem Artikel „Gemeinwesenarbeit als demokratiefördernde Brückenbauerin“ (2019: 79.) konzeptionelle
Grundlagen und Prinzipien einer GWA, an denen sich die dem Beitrag zu Grunde liegende Forschungsarbeit
orientiert:
•
Gruppenübergreifendes Handeln – Vielfalt erlebbar machen
•
Orientierung an den Bedürfnissen und Themen der Menschen
•
Kommunikative Vermittlung zwischen unterschiedlichen Lebenswelten
•
Förderung von kollektivem Empowerment und Selbstorganisation
•
Partizipative (Bildungs-)Möglichkeiten schaen
•
Nutzung der vorhandenen Ressourcen
•
Ressortübergreifendes Handeln
•
Vernetzung und Kooperation
•
Komm- und Gehstruktur
•
Nachhaltige Gesellschaftsentwicklung im Blick
Auf diese Prinzipien hin wurden Initiativen und Projekte in St. Pölten untersucht, wobei sich keines als GWA-
Projekt versteht. Nachstehend bieten zwei ausgewählte Initiativen einen Einblick:
Im
Sonnenpark
wird versucht, unterschiedliche Menschen an einem Ort zusammen zu bringen, die
diesen miteinander gestalten (vgl. Sonnenpark o.A.). Er steht im Norden St. Pöltens allen Bürger:innen zur
Verfügung. Dort ndet man nicht nur einen Erholungsort, sondern auch einen Natur- und Kulturpark. Der
Park beherbergt Gemeinschaftsgärten, oene Bücherschränke, Näh- und Upcycling-Werkstätten und vieles
mehr. Laut Riede (2019: 79f.) fördern solche Angebote des oenen Begegnens kollektives Empowerment
und Selbstorganisation sowie gruppenübergreifendes Handeln. Der Park versteht sich als Energieort ohne
Konsumzwang, der als Lebensraum für Tier- und Panzenarten und als Freiraum betrachtet wird. Bei diversen
Veranstaltungen, Festen und Workshops ist er auch ein Ort für nachbarschaftliche Kommunikation und ein
sozio-kulturelles Bindeglied unterschiedlicher Generationen (vgl. Sonnenpark o.A.). Der Sonnenpark dient
als partizipativer Lernort nach Riede, wo diverse Projekte wie bspw. ein sogenanntes Klimaforschungslabor
umgesetzt werden. Im Klimaforschungslabor wird Umweltwissen vermittelt, nutzbar und zugänglich
gemacht, was nach Riede heißt, eine nachhaltige Gesellschaftsentwicklung in den Blick zu nehmen (vgl.
Riede 2019: 81).
Die zweite näher betrachtete Initiative ist das
Diversity Café
. Es bietet Raum für Treen und
möchte „Menschen verschiedenster Herkunft und mit verschiedensten Interessen zusammen[bringen]“ (St.
Pölten News 2021). Das Diversity Café wird vom Büro für Diversität des Magistrats St. Pölten nanziert
und soll Bürger:innen mit Flucht_Migrationserfahrung, interessierten Bürger:innen, Vertreter:innen aus
unterschiedlichen Initiativen sowie Einrichtungen als Raum für Austausch und Informationsvermittlung zur
Verfügung stehen. Das Diversity Café ist ein niederschwelliger Trepunkt, der zwischen unterschiedlichen
Lebenswelten vermittelt (vgl. Riede 2019: 80). Auch hier werden die Nutzer:innen ermutigt, sich einzubringen
und mitzugestalten. Aus der Initiative des Diversity Cafés entwickelten sich weitere Angebote, wie Kreativ-
Workshops, Mitmachzirkus für Kinder etc. (vgl. St. Pölten News 2021). Hier wird ein weiteres GWA-Prinzip
sichtbar, das Riede (2019: 80) als Orientierung an den Bedürfnissen und Themen der Menschen beschreibt.
Die skizzierten Beispiele weisen vielfältige Ressourcen und Potenziale zum Andocken für eine
institutionalisierte GWA und zielgruppenübergreifende Selbstorganisation auf. Viele Akteur:innen, wie
Bürger:innen, soziale und kulturelle Vereine (z.B. Sonnenpark, Kulturhauptstart-Initiative ), Ämter und soziale
Organisationen (Büro für Diversität, Qualify for Hope), äußerten den Bedarf nach der Implementierung
von GWA, um die bestehenden Angebote zu professionalisieren, niederschwelliger und damit nutzbarer
zu machen. Verschiedene Herausforderungen bedingen, warum eine institutionalisierte GWA in St. Pölten
noch nicht implementiert werden kann. Dabei sind die fehlende Sichtbarkeit verschiedener Projekte und
die damit verbundene Schwierigkeit der Nutzbarkeit genauso relevant wie fehlende Ressourcen (zeitlich,
nanziell, infrastrukturell). Ebenso sind das Bewusstsein und Wissen darüber, was GWA ist und bieten kann,
auf politischer, organisationaler und zivilgesellschaftlicher Ebenen gering. Um auch politisches Interesse
für GWA zu wecken und die Etablierung nachhaltiger GWA voranzutreiben, bedarf es der Förderung eines
tragfähigen GWA-Konzepts.
GWA verfolgt den Anspruch, dass sie Menschen ermutigt und ermächtigt, ihre eigenen
Lebensverhältnisse nachhaltig zu verbessern und selbst aktiv zu werden. Verschiedene Akteursgruppen
(selbstorganisierte Bürger:innengruppen und andere soziale und kulturelle Initiativen) in St. Pölten bemühen
sich bereits um eine nachhaltige Verbesserung von Lebensbedingungen. Es wäre wichtig, auch die Politik für
eine nachhaltige Verbesserung der Lebensverhältnisse von Bürger:innen durch die Implementierung von GWA
zu begeistern. Die Politik hätte auf regionaler und kommunaler Ebene die Möglichkeit, Rahmenbedingungen
(z.B. nanzielle und infrastrukturelle Ressourcen) für eine GWA-Implementierung zu schaen.
3.2
Zukunftswerkstatt: St. Pölten mitgestalten und Ideen umsetzen
Erste Erkenntnisse der Untersuchung deuteten auf wenig Diversität bezüglich bestehenden
Partizipationsprozessen von Bürger:innen und zielgruppenübergreifender Selbstorganisation hin.
Aufgrund dessen wurde in Kooperation mit der KulturhauptSTART-Initiative im Sinne der kollaborativen
Aktionsforschung ein Diversität förderndes Angebot in Form einer Zukunftswerkstatt (ZKW) umgesetzt. Dabei
wurde ein niederschwelliger Zugang genutzt und es wurden verschiedene Faktoren für eine gelingende und
inklusive Zukunftswerkstatt deniert:
•
niederschwellige, barrierefreie Einladung in einfacher Sprache
•
Zusammenarbeit mit verschiedenen sozialen Einrichtungen, zivilgesellschaftlichen
Initiativen und Vereinen für eine breite Bewerbung der Zukunftswerkstatt und zur
Förderung des Abbaus von Hemmschwellen, um eine möglichst diverse Gruppe von
Menschen anzusprechen
•
mehrsprachige Kinderbetreuung während der Zukunftswerkstatt
•
ein Veranstaltungsort (Saal der Begegnung), der im Sozialraum bekannt ist und
zentral liegt
•
inklusive Methoden für eine wertschätzende Zusammenarbeit auf Augenhöhe (vgl.
FH St. Pölten 2019: 5f.)
Rund 60 Bürger:innen nahmen die Einladung an, über die Gestaltung St. Pöltens mitzudenken. Die Gruppe
umfasste sowohl Personen, die bereits seit mehreren Jahrzehnten in St. Pölten lebten, als auch solche, die
erst seit ein paar Tagen in St. Pölten wohnhaft waren. Menschen mit diversen Erstsprachen, Behinderungen,
Armutserfahrungen und aus unterschiedlichen Altersstufen bildeten eine diverse Gruppe. Eine Aufstellung
zu Beginn ergab, dass einige Teilnehmer:innen zum ersten Mal bei Bürger:innen-Beteiligungsprozessen
mitwirkten, andere wiederum hatten bereits Erfahrung mit solchen Prozessen gesammelt (vgl. ebd.: 7.).
Die Zukunftswerkstatt wurde als Methode zur Gestaltung des Beteiligungsprozesses gewählt, um
die Bürger:innen in ihrer Expert:innenrolle zu ermutigen und eine kreative Atmosphäre zu schaen. Robert
Jungk entwickelte die ZKW als ein Instrument der Selbstorganisation und Demokratisierung und sie ist
bereits seit über 50 Jahren erprobt (vgl. ÖGUT 2021). Der Ablauf einer Zukunftswerkstatt gliedert sich in
drei Phasen: (1) In der Kritikphase geht es um eine Analyse der Situation bzw. Probleme: „Was gefällt
mir überhaupt nicht in St. Pölten?“ (2) In der Visionsphase wird an Ideen und Wünschen gearbeitet, die
auch utopisch sein dürfen. In dieser Phase widmeten sich die Teilnehmer:innen der Frage: „Was braucht
St. Pölten, um die schönste, großartigste Stadt zu sein, in der ich mich persönlich wohl fühle?“ (3) In der
dritten und letzten Phase der Zukunftswerkstatt werden konkrete Vorschläge erarbeitet und geplant (vgl.
Partizipation 2022). Kreative Tools (Lego, Playmais usw.) und das Arbeiten in Kleingruppen mit angeleiteter
Moderation ermöglichten dabei die egalitäre Beteiligung aller Teilnehmer:innen.
In der Kritikphase wurde von den Teilnehmer:innen zusammengetragen, was in St. Pölten nicht
gut läuft. Verbesserungsbedarf wurde hinsichtlich der Deckung materieller Bedürfnisse aufgezeigt. Dazu
gehören leistbarer Wohnraum und Arbeitsplätze und divers ausgerichtete Angebote, die als Basisversorgung
beschrieben wurden wie Kinderbetreuungseinrichtungen, Notschlafstellen, Essensausgaben,
Kassenkinderärzt:innen, mehrsprachige Ärzt:innen, Dolmetsch-Angebote usw. (vgl. Drochter et al. 2020:
370f.). Zudem kritisierten Bürger:innen den geringen Zusammenhalt untereinander und wenig vorhandenen
interkulturellen Austausch. Sie nannten Schwierigkeiten, miteinander in Kontakt zu kommen und sich zu
vernetzen (vgl. ebd.: 379).
In der Visionsphase wurden in denselben Gruppen Wünsche für das Leben in St. Pölten erarbeitet.
Dabei wurden Szenarien diskutiert, gezeichnet und gebastelt: Ein St. Pölten ohne Rassismus, mit mehr
Radwegen, Trinkbrunnen, Gemeinschaftszentren, Hundezonen, mit leistbarem Wohnraum, Spielplätzen,
gemeinschaftlichen Grünächen für Gemüsebeete, Live-Musik-Events und vielem mehr (vgl. FH St. Pölten
2019: 14.).
In der Planungsphase diskutierten die Teilnehmer:innen darüber, welche Ideen wie realisiert werden
können, was dafür benötigt wird und wer welche Schritte übernehmen könnte (vgl. ebd.: 18). Infolge
dessen entstanden verschiedene Projektideen, die auf ein sozialeres Miteinander abzielen. Dabei konnten
gemeinsame Schwerpunkte festgemacht werden: Begrünung St. Pöltens, Aktivierung und Nutzbarmachung
von Parks, Schaung von Kultur- und Begegnungsräumen sowie Ausbau des öentlichen Verkehrs (vgl.
Drochter et al. 2020: 435.).
Damit verständlicher wird, wie konkrete Lösungsideen und Schritte aussehen, die von den
Bürger:innen überlegt wurden, wird hier exemplarisch die Aktivierung und Nutzung von Parks anhand
des Sparkassenparks dargestellt. Durch die Aktivierung und Nutzung des Sparkassenparks könnten
konsumfreie Räume geschaen werden. Erste Ideen der Bürger:innen zu selbstorganisierten und
zielgruppenübergreifenden Handlungsschritten umfassten die Organisation verschiedener Aktionen, wie ein
gemeinsames Grillfest, mobile Parkbetreuung, Trinkwasserbrunnen, das Aufstellen legaler Grati-Wände
im Park sowie ein mehrsprachiger Bücherschrank. Bürger:innen sprachen sich für die Recherche von good-
practice-Beispielen aus, die es für die Belebung von Parks bereits gibt. Sie merkten an, dass die Gestaltung
eines Gemeinschaftsgartens ein wertvoller Beitrag sein könnte (vgl. FH St. Pölten 2019: 19).
Anhand des Beispiels der bedürfnisorientierten Parkgestaltung und -nutzung könnten mögliche
Aufgaben einer GWA wie folgt aussehen: Eine professionelle GWA kann eine zentrale Anlaufstelle sein,
Bürger:innen zusammenbringen, sie empowern, begleiten und (mit) ihnen relevante Rahmenbedingungen
(er)klären. Sie kann bei Konikten vermitteln, ihr Netzwerkwissen zur Verfügung stellen, vorhandene
Ressourcen aufzeigen und Gespräche moderieren. GWA-Mitarbeiter:innen können Synergieeekte nutzen,
zivilgesellschaftliche Strukturen stärken und helfen, neue Wege in der Stadtentwicklung zu gehen (vgl.
Drochter et al. 2020: 447). Ein GWA-Zentrum kann die Infrastruktur bieten, um sich mit interessierten
Bürger:innen auszutauschen und Schritte für eine nachhaltige und partizipative Parkgestaltung zu planen
(vgl. ebd.: 439f.). Außerdem kann institutionalisierte GWA mittels Sozialraumanalysen mit Bürger:innen
gemeinsam untersuchen, wieso – in diesem Beispiel – der Sparkassenpark wenig genützt wird und welche
weiteren Aktionen einen positiven Eekt auf die Parknutzung haben könnten.
Abb.1: Bürger:innen bei der Zukunftswerkstatt (eigene Aufnahme).
Die Zukunftswerkstatt war eine inspirierende Veranstaltung, bei der erste Schritte für zielgruppenübergreifende
Selbstorganisation gesetzt werden konnten. Viele Ideen traten zu Tage, an denen lösungsorientiert und
konstruktiv gemeinsam gearbeitet wurde. Direkt nach der Veranstaltung brachten zwei Bürger:innen ein,
dass sie sich gerne wieder treen würden und Unterstützung bei weiteren Schritten benötigen. Ein:e weitere:r
Bürger:in meldete zurück, dass er:sie gerne bei zukünftigen Beteiligungsprozessen mitwirken möchte.
Durch die Zukunftswerkstatt wurden wertvolle Projektideen der Bürger:innen entwickelt, die alle die
Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen fokussieren (vgl. Drochter et al. 2020: 446). Dabei
artikulierten diverse Akteursgruppen den Bedarf für GWA und die damit verbundenen Chancen für die Stadt
St. Pölten. Eine professionelle GWA könnte das vorhandene Potential zum Erblühen bringen und gemeinsam
mit der Lokalpolitik eine nachhaltige Gesellschaftsentwicklung in den Blick nehmen (vgl. ebd.: 361).
Ausgehend davon wurde ein Konzept entwickelt, das sich mit der Umsetzung von GWA auseinandersetzt,
und nachfolgend vorgestellt wird.
4
Ein Konzept für GWA: Ready, steady, go!
Die folgende Darstellung gibt einen Überblick über das entwickelte GWA-Konzept.
Abb. 2: Gemeinwesenarbeit. Ein Konzept (eigene Darstellung).
4.1
Infrastruktur, Bürger:innenbeteiligung, Finanzierung und digitaler Raum
Für eine gelingende Implementierung von GWA sind Anlauf- und Organisationsstellen in Form von
Stadtteilzentren relevant. Bei der Standortwahl der Stadtteilzentren im Norden, Zentrum und Süden
der Stadt könnte bereits auf einen partizipativen Ansatz der GWA zurückgegrien werden. Mit Hilfe von
Beteiligungsprozessen können die Standorte, die Gestaltung der Stadtteilzentren und Ausstattung
gemeinsam mit Bürger:innen erarbeitet werden. Damit die Zentren für alle Bürger:innen zugänglich und
erreichbar sind, sind folgende Kriterien jedenfalls wichtig: Barrierefreiheit, gute Anbindung ans öentliche
Verkehrsnetz, großzügige Freiächen (Grün- und Gartenächen), eine Großküche, ein großer Seminarraum
für bis zu 100 Personen sowie Büroräumlichkeiten für GWA-Mitarbeiter:innen für Einzelgespräche mit
Bürger:innen und als ruhiger Arbeitsplatz. Zudem ist eine adäquate Ausstattung der Räumlichkeiten mit
Materialien, Mobiliar und digitalen Anschlüssen notwendig (vgl. Drochter et al. 2020: 425.).
In Bezug auf die Finanzierung ist es von großer Bedeutung, dass die Stadtteilzentren langfristig,
für mindestens fünf Jahre, nanziert sind. GWA braucht genügend Ressourcen, um sich zu etablieren und
Bürger:innen zu erreichen. Außerdem benötigen zielgruppenübergreifende Selbstorganisationsprozesse
und nachhaltige GWA-Prozesse Zeit und Vertrauen der Bürger:innen. Aufgrund dessen schlägt das Konzept
vor, mehrere Jahre nach Erönung der Stadtteilzentren einen Tätigkeitsbericht an die Fördergeber:innen zu
erbringen (vgl. ebd.: 422, 428). Ebenso braucht es genügend nanzielle Ressourcen für die Durchführung von
Projekten, die Verpegung für Feste und einen nanziellen Spielraum zur Durchführung von Veranstaltungen
im Sinne der bewegten Kulturräume (vgl. ebd.: 427).
Angesichts der Erfahrungen aus der Corona-Pandemie ist der digitale Raum als Sozialraum von
großer Relevanz. Sei es durch Aktionen im digitalen Raum, virtuelle Veranstaltungen, Vernetzung der
Bürger:innen und Öentlichkeitsarbeit auf sozialen Medien. An aktuellen Entwicklungen ausgerichtete GWA
sollte den Anspruch haben, auch in digitalen Sozialräumen aktiv zu sein.
4.2
Diverses Team und Rolle der Freiwilligen
Was die personellen Ressourcen betrit, so ergaben Empfehlungen aus anderen Stadtteilzentren einen
Schlüssel von einer GWA-Arbeitsstunde pro 100 Einwohner:innen. Für St. Pölten, eine Stadt mit ca. 55.000
Einwohner:innen, errechnet sich ein Personalschlüssel von 15 Mitarbeiter:innen für drei Stadtteilzentren,
aufgeteilt nach Einwohner:innenzahl des jeweiligen Sozialraumes. Bei der Zusammensetzung des Teams
ist auf Diversität hinsichtlich der Professionen (z.B. Sozialarbeiter:innen, Landschaftsplaner:innen,
Sozialpädagog:innen, Ergotherapeut:innen etc.), der Sprachkompetenzen sowie des GWA-Wissens zu
achten. Aufgaben dieser GWA-Mitarbeiter:innen sind beispielsweise, die Anliegen der Bürger:innen zu hören
und deren Umsetzung zu begleiten, Schnittstellenarbeit mit anderen Institutionen, aufsuchende Stadtteilarbeit,
Mediation, Einzelfallarbeit sowie andere organisatorische und administrative Aufgaben. Bei einem diversen
Team mit 15 Mitarbeiter:innen kann davon ausgegangen werden, dass sich die Teammitglieder gut in ihren
Kompetenzen ergänzen und für unterschiedliche Menschen des Sozialraums einen niederschwelligen
Zugang und Begleitung schaen können.
4.3
Bewegte Kulturräume
Die Idee bewegter Kulturräume wurde bei der Zukunftswerkstatt erarbeitet. Das Konzept zielt auf die
Erweiterung und Nutzbarmachung von kulturellen Angeboten ab. Konkrete Anregungen der Bürger:innen
waren, kulturelle Einrichtungen zu besuchen, an der Nutzbarkeit des bereits bestehenden Kulturpasses zu
arbeiten sowie kulturelle Austauschtreen im öentlichen Raum zu initiieren. Das Angebot der Kulturräume
soll partizipativ erarbeitet werden und regelmäßig stattnden (vgl. ebd.: 427). Freiräume in den GWA-Zentren
könnten solche kulturellen Initiativen unterstützen, da sie soziale, kollektive und unkonventionelle Räume für
alle Bürger:innen wären, wo Ausprobieren und Experimentieren möglich und erlebbar gemacht wird (vgl.
ebd.: 423).
Neben dem dargestellten Konzept für GWA im Raum St. Pölten wurden zwei weitere Konzepte für
GWA in St. Pölten erarbeitet. Diese beiden Konzepte stellen reduzierte Versionen des zuvor vorgestellten
Konzepts dar. Sowohl Personalressourcen als auch die zur Verfügung gestellte Infrastruktur sind reduziert.
Eines der beiden Konzepte schlägt die Etablierung nur eines GWA-Zentrums (im Gegensatz zu drei GWA-
Zentren beim Erstkonzept) vor, während das andere lediglich die Finanzierung von GWA-Mitarbeiter:innen für
bereits bestehende Initiativen fokussiert. Das vorhergehend ausgeführte Konzept kann einen maßgeblichen
Beitrag für eine nachhaltige Etablierung von GWA in St. Pölten oder in vergleichbaren Städten leisten. Die
beiden anderen Konzepte eignen sich bei geringeren Finanzierungsmöglichkeiten dafür, erste Akzente für
die Etablierung von GWA zu setzen.
5
Resümee
Das hier vorgestellte Konzept schlägt GWA und zielgruppenübergreifende Selbstorganisation für Städte
und Gemeinden ohne institutionalisierte GWA vor. Dies könnte durch die Etablierung von Stadtteilzentren
geschehen, deren Standort und Gestaltung partizipativ mit Bürger:innen gewählt wird. Von besonderer
Relevanz sind dabei infrastrukturelle, nanzielle und personelle Fragen, digitale Sozialräume, bewegte
Kulturräume (Erweiterung und Nutzbarmachung kultureller Angebote), ein diverses Team (Professionen und
Fähigkeiten) und natürlich die Freiwilligen.
Gerade in Zeiten, in denen soziale Ungleichheiten stärker spürbar sind, kann das soziale Miteinander
durch die Etablierung einer professionellen GWA gestärkt werden. Die zielgruppenübergreifende
Selbstorganisation kann vorhandene Potentiale von Bürger:innen kräftigen und unterschiedliche Bürger:innen
zusammenbringen. Die Bürger:innen St. Pöltens zeigten ein großes Interesse an Beteiligungsprozessen und
hatten kreative Ideen für die nachhaltige Gestaltung ihrer Stadt. Die Anknüpfungspunkte, Ressourcen und
Zukunftsbilder für GWA sind in St. Pölten vorhanden. Jetzt geht es darum, zu handeln. Es geht um die
Umsetzung einer professionellen, nachhaltigen und partizipativen GWA für ein soziales Miteinander und ein
gutes Leben für alle!
Verweise
1
In Abgrenzung zu anderen Begrien der Sozialen Arbeit wie Klient:in, Nutzer:in, Adressat:in etc. wird der Begri Bürger:in verwendet. Durch diesen
Begri wird betont, dass sich GWA an alle Menschen eines Sozialraums richtet, unabhängig von Staatsbürger:innenschaft oder Aufenthaltstitel.
Zudem unterstreicht er die gesellschaftspolitische Ausrichtung von GWA.
2
Unter kollaborativer Aktionsforschung wird nach Von Unger (2014), Moser (1977) und Hering (2010) ein partizipativer Forschungsansatz verstanden,
bei dem Wirklichkeit partizipativ erforscht wird. Zudem zielt dieser Ansatz darauf ab, positive Veränderungen in den Lebenssituationen der
Beteiligten und gesamtgesellschaftlich zu bewirken. Drei Grundmotive sind: Demokratisierung für eine gerechtere Gesellschaft, Partizipation der
Forschungssubjekte und gesellschaftliche Praxisrelevanz (vgl. Hering 2010: 271).
3
Ein intersektionaler Zugang beinhaltet die kritische Reexion des Ineinanderwirkens von verschiedenen Dierenzkategorien, z.B. Gender, Alter,
sozioökonomische Situation, Herkunft oder Behinderung (vgl. Degele/Winkler 2009).
4
Bei Selbstorganisation handelt es sich laut den Sozialwissenschaftler:innen Moser und Schenk (2014) um die Kreation einer eigenständigen und
selbstverwalteten Struktur, die durch gemeinsames Handeln bespielt wird (vgl. ebd.: 554). Hinsichtlich des hohen Grades an Selbstbestimmung bzw.
-kontrolle kann Selbstorganisation als starke Form von Partizipation gedeutet werden. Selbstorganisation fußt auf Eigenlogik und Selbstermächtigung
(vgl. Moser 2013: 145).
5
„Die Plattform KulturhauptSTART St. Pölten versteht sich als Bürger:inneninitiative, die aus der Verbindung von Bürger:innen und Kulturschaenden
entstand und die Bewerbung der Stadt St. Pölten als europäische Kulturhauptstadt 2024 (mit)initiiert.“ (vgl. KulturhauptSTART St. Pölten, zit.n.
Drochter et al. 2020: 328f.)
6
„Auch Menschen mit nanziellen Engpässen haben ein Recht auf Kunst & Kultur. Der Kulturpass macht es möglich. Mit diesem Ausweis erhalten
sozial benachteiligte Menschen freien Eintritt in zahlreiche kulturelle Einrichtungen.“ (Hunger auf Kunst und Kultur 2018)
Literaturverzeichnis
Die Armutskonferenz (2020): Erhebung: Armutsbetroene und die Corona-Krise. https://www.
armutskonferenz.at/news/news-2020/erhebung-armutsbetroene-und-die-corona-krise.html (28.02.2022).
Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (2021): Obdachlosigkeit beenden. Eine bundesweite
Strategie Policy Paper der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAWO), gefördert durch das
Sozialministerium. Wien: Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pege und Konsumentenschutz.
Degele Gabriele/Winkler, Nina (2009): Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten. Bielefeld:
Transcript.
Drochter, Rosanna/Fichtinger, Sophie/Gahleitner, Susanne/Kopp, Alexander/Kundrat, Elena/Minassians,
Melina/Trestl, Michelle/Vettori, Hanna/Winkler, Alexandra (2020): Gemeinwesenarbeit neu gedacht und
selbstorganisiert. Masterarbeit. Fachhochschule St. Pölten.
FH St. Pölten (2019): Dokumentation des Jour Fixe Treens „Gemeinsam gestalten“ vom 19.9.2019. https://
www.kulturhauptstart-stp.eu/wp-content/uploads/2019/11/Dokumentation-Jour-Fixe-19.09.19-1.pdf
(13.02.2022).
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geht_es (31.03.2022).
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Hinte, Wolfgang/Lüttringhaus, Maria/Oelschlägel, Dieter (Hg.Innen): Grundlagen und Standards der
Gemeinwesenarbeit. Ein Reader zu Entwicklungslinien und Perspektiven. Weinheim/München: Juventa, S.
277–281.
Moser, Heinz (1977): Praxis der Aktionsforschung. Ein Arbeitsbuch. München: Kösel.
Moser, Michaela (2013): Selbstorganisation und Krise. In: Bakic, Josef/Diebäcker, Marc/Hammer, Elisabeth
(Hg.Innen): Aktuelle Leitbegrie der Sozialen Arbeit. Ein kritisches Handbuch. Wien: Löcker, S. 144–158.
Moser, Michaela/Schenk, Martin (2014): Armutsbetroene als Akteure: Partizipation und Selbstorganisation
von Menschen mit Armutserfahrungen. In: Dimmel, Nikolaus/Schenk, Martin/Stelzer-Orthofer, Christine (Hg.
Innen): Handbuch Armut in Österreich. Innsbruck/Wien: StudienVerlag, S. 554–567.
ÖGUT – Österreichische Gesellschaft für Umwelt und Technik – Partizipation (2021): Methoden
Zukunftswerkstatt. https://partizipation.at/methoden/zukunftswerkstatt/ (19.11.2021).
Riede, Milena (2019): Gemeinwesenarbeit als demokratiefördernde Brückenbauerin. In: Schnur, Olaf/Drilling,
Matthias/Niermann, Oliver (Hg.Innen): Quartier und Demokratie. Quartiersforschung. Wiesbaden: Springer
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Riede, Milena (2017): Brückenbau und Demokratieförderung durch Gemeinwesenarbeit in heterogenen
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Sonnenpark (o.A.): Was der Park ist. https://www.sonnenpark-stp.at/?page_id=210 (19.11.2021).
Stövesand, Sabine/Stoik, Christoph/Troxler, Ueli (Hg.Innen) (2013): Handbuch Gemeinwesenarbeit.
Traditionen und Positionen, Konzepte und Methoden. Deutschland-Schweiz-Österreich. Theorie, Forschung
und Praxis der Sozialen Arbeit. Opladen/Berlin/Toronto: Barbara Budrich.
St. Pölten News (2021): Fünf Jahre Diversity Café. https://www.st-poelten.at/news/16188-fuenf-jahre-
diversity-cafe. 19.03.2021 (19.11.2021).
Partizipation (2022): Methoden. Zukunftswerkstatt. https://partizipation.at/methoden/zukunftswerkstatt/
(22.04.2022).
Von Unger, Hella (2014): Partizipative Forschung. Einführung in die Forschungspraxis. Wiesbaden: Springer.
Über die Autorinnen
Hanna Vettori, MA MA
hanna.vettori@gmail.com
Studierte Kultur- und Sozialanthropologie und Orientalistik an der Universität Wien und Soziale Arbeit an der
Fachhochschule St. Pölten. Sie arbeitet derzeit als Sozialarbeiterin im Bereich Gewaltschutz in Wien und als
Junior Researcherin am Ilse-Arlt-Institut der Fachhochschule St. Pölten.
Alexandra Winkler, MA
alex_winkler1@gmx.at
Absolvierte das Bachelor- und Masterstudium der Sozialen Arbeit an der FH St. Pölten und arbeitet in einer
Beratungsstelle für anerkannte Flüchtlinge in St. Pölten.
Gemeinwesenarbeit zielgruppenübergreifend und
selbstorganisiert: Zukunftsbilder für St. Pölten und
andere Sozialräume
Hanna Vettori, Alexandra Winkler
13
wurde ein Konzept entwickelt, das sich mit der Umsetzung von GWA
auseinandersetzt, und nachfolgend vorgestellt wird.
4
Ein Konzept für GWA: Ready, steady, go!
Die folgende Darstellung gibt einen Überblick über das entwickelte
GWA-Konzept.
Abb. 2: Gemeinwesenarbeit. Ein Konzept (eigene Darstellung
).
4.1 Infrastruktur, Bürger:innenbeteiligung, Finanzierung und digitaler Raum
Für eine gelingende Implementierung von GWA sind Anlauf
-
und
Organisationsstellen in Form von Stadtteilzentren relevant. Bei der Standortwahl der
Stadtteilzentren im Norden, Zentrum und Süden der Stadt könnte bereits auf einen
partizipativen Ansatz der GWA zurückgegriffen werden. Mit Hilfe von
12
Ressourcen aufzeigen und Gespräche moderieren. GWA
-
Mitarbeiter:innen können
Synergieeffekte nutzen, zivilgesellschaftliche Strukturen stärken und helfen, neue
Wege in der Stadtentwicklung zu gehen (vgl. Drochter et al. 2020: 447). Ein GWA
-
Zentrum kann die Infrastruktur bieten, um sich mit interessierten Bürger:innen
auszutauschen und Schritte für eine nachhaltige und partizipative Parkgestaltung zu
planen (vgl. ebd.: 439f.). Außerdem kann institutionalisierte GWA mittels
Sozialraumanalysen mit Bürger:innen gemeinsam untersuchen, wieso
–
in diesem
Beispiel
–
der Sparkassenpark wenig genützt wird und welche weiteren Aktionen
einen positiven Effekt auf die Parknutzung haben könnten.
Abb.1: Bürger:innen bei der Zukunftswerkstatt (eigene Aufnahme).
Die Zukunftswerkstatt war eine inspirierende Veranstaltung, bei der erste Schritte für
zielgruppenübergreifende Selbstorganisation gesetzt werden konnten. Viele Ideen
traten zu Tage, an denen lösungsorientiert und konstruktiv gemeinsam gearbeitet
wurde. Direkt nach der Veranstaltung brachten zwei Bürger:innen ein, dass sie sich
gerne wieder treffen würden und Unterstützung bei weiteren Schritten benötigen.
Ein:e weitere:r Bürger:in meldete zurück, dass er:sie gerne bei zukünftigen
Beteiligungsprozessen mitwirken möchte.
Durch die Zukunftswerkstatt wurden wertvolle Projektideen der Bürger:innen
entwickelt, die alle die Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen
fokussieren (vgl. Drochter et al. 2020: 446). Dabei artikulierten diverse
Akteursgruppen den Bedarf für GWA und die damit verbundenen Chancen für die
Stadt St. Pölten. Eine professionelle GWA könnte das vorhandene Potential zum
Erblühen bringen und gemeinsam mit der Lokalpolitik eine nachhaltige
Gesellschaftsentwicklung in den Blick nehmen (vgl. ebd.: 361). Ausgehend davon