soziales_kapitalClara Jemima Winge.Inklusion und Beziehung.” soziales_kapital, no. 26 (2022). Rubrik „Werkstatt“. St. Pölten. Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/view/761/1415.pdf_Soziale Innovation 26. Ausgabe Juni 2022ZusammenfassungIn diesem Beitrag werden einige der zentralen Themen bei der Arbeit mit Menschen mit Behinderungen und der Sozialen Arbeit anhand einer Situation der Überforderung und der Irritation analysiert, die ich während meines Freiwilligen Sozialen Jahres erlebt habe: Der Weigerung einer Frau mit kognitiven Behinderungen, die organisationsüblichen Routinen zu befolgen. Ziel ist es, anhand der 20-minütigen Erfahrung die zentralen Herausforderungen eines Handlungsfeldes erkennbar zu machen. Dabei wird die These vertreten, dass die Reexion eines konkreten Beispiels aus der Praxis es erlaubt, Spannungsfelder sowie zumeist verborgene Aspekte zu beleuchten und im Handeln wie in der Forschung mitzudenken. Im vorliegenden Fall war die Situation Anlass, allgemeine Fragen zu Inklusion am Arbeitsmarkt, Empowerment, Chancen der Selbstbestimmung und Autonomie hinsichtlich der eigenen Mobilität zu reektieren. Der Beitrag zeigt zudem, auf welche Weise die Beziehung zwischen Helfenden und Menschen mit Behinderungen von Machtasymmetrien und permissiver Reziprozitätsverweigerung geprägt ist. Schlagworte: Inklusion, Beziehungsgestaltung, Arbeit, Menschen mit Behinderungen, Empowerment, EhrenamtlichkeitAbstractThis paper analyses some of the central topics in working with people with disabilities by looking at a challenging and irritating situation that I experienced during my volunteer social year: The refusal of a woman with cognitive disabilities to comply with institutional routines. The aim is to identify the central challenges of this eld of action based on the 20-minute experience. The thesis is that reection on this single situation provides new insights and can shed light on usually hidden aspects to enrich in this way both professional practice as well as research and academic discussion on the subject. The analysis opens up deliberations on inclusion in the labour market, empowerment, chances of self-determination, and autonomy over one’s own mobility. The article also highlights the relationships between social workers and addressees of social work are characterized by asymmetries of power and permissive refusal of reciprocity. Keywords: inclusion, professional relationships, work, persons with disabilities, empowerment, volunteer work 1 Abrupter Stopp auf dem gemeinsamen WegNach meiner Matura habe ich ein zehnmonatiges Freiwilliges Soziales Jahr in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen in Oberösterreich gemacht. Zu meinen Aufgaben zählte die Begleitung von Menschen aus den Wohngruppen in ihrem Arbeitsalltag. Dies bedeutete auch sicherzustellen, dass sie morgens rechtzeitig von der Einrichtung zu ihrem Arbeitsplatz in die Werkstatt gelangen. Es kam regelmäßig vor, dass bereits alle Plätze im Bus besetzt waren, mit dem ein Zivildiener die Menschen ans Ziel brachte. An solchen Vormittagen ging ich mit jenen, die keinen Platz bekommen hatten, den etwa einen Kilometer weiten Weg zu Fuß. An einem Tag war ich mit zwei Klient*innen, die beide kognitive Behinderungen aufweisen, unterwegs zu unserer Arbeitsstätte. Plötzlich blieb eine der Klient*innen noch auf dem Wohngelände der Einrichtung stehen und wollte nicht mehr weitergehen. Die Frau ist blind und es war für sie ungewohnt nicht – wie sonst – mit dem Bus in die Arbeit gebracht zu werden. Mir, als neuer Mitarbeiterin, vertrauen zu müssen, schien sie sehr nervös zu machen und zu verunsichern. Die Situation überforderte auch mich in diesem Moment. Einerseits wollte ich die akute Verunsicherung der Klientin (Weigerung weiterzugehen) berücksichtigen, gleichzeitig wollte ich sicherstellen, dass sie ihrer Arbeit in der Werkstatt nachgehen kann, die für sie auch ein Stück weit Partizipation darstellt. Außerdem hatte ich eine Verantwortung gegenüber meinen Arbeitgeber*innen, nämlich den Schutz des Wohls der Klient*innen. Zudem schien der zweite Klient, der mit uns unterwegs und etwas selbstständiger war, immer ungeduldiger zu werden. Ich fand es schwierig, ihm zu vermitteln, dass wir auf die Bedürfnisse und Sorgen seiner Kollegin Rücksicht nehmen, geduldig sein und unseren Weg zur Werkstatt gemeinsam gehen müssen. Diese Spannungsfelder galt es situativ auszuhandeln. In dieser Situation, in der die Frau auch immer wieder erwähnte, dass es wohl bald zu regnen beginnen würde, war niemand in der Nähe, den ich um Rat oder Unterstützung hätte bitten können. Eine meiner Vorgesetzten kam dann zufällig an uns vorbei und redete mit der Klientin. Auf mich wirkte es so, als würde die Klientin meiner Leiterin mehr Vertrauen schenken als mir und auf ihr Zureden mit großem Zuspruch reagieren. Auf mich schienen die Worte meiner Vorgesetzten eher streng und fordernd und die Klientin sicherte ihr zu, dass sie nun den Fußweg in die Werkstatt fortsetzen würde. Als die Leiterin wieder gegangen war, konnte ich die Frau dennoch nicht überzeugen, den Weg in die Arbeitsstätte fortzusetzen. Als es dann tatsächlich zu regnen begann, willigte sie jedoch ein, sich unter ein Vordach in der Nähe zu stellen, um nicht nass zu werden. Nach Absprache mit den Mitarbeiter*innen der Werkstatt wurde schließlich noch ein Zivildiener mit dem Bus geschickt, um uns von der Einrichtung abzuholen und zur Werkstatt zu fahren. Die zuvor beschriebene Erfahrung in meiner ehrenamtlichen Tätigkeit hat mich verunsichert. Gleichzeitig wollte ich nicht, dass mir aufgrund dieser Situation die Begleitung der Klient*innen zum Arbeitsplatz künftig nicht mehr zugetraut wird. In diesem Beitrag möchte ich die geschilderte Situation systematisch analysieren, um so das konkrete Erlebnis auf grundsätzliche Aspekte sozialarbeiterischen Handelns beziehen zu können.2 Neue Wege des VerstehensWas wie eine alltägliche Situation scheint, kann durch kasuistische Analyse und einen erweiterten Blick grundsätzliche Spannungsfelder bei der Arbeit mit Menschen mit Behinderungen und in der Sozialen Arbeit kenntlich machen. Durch neue gedankliche Verbindungen gelingt es eventuell nicht nur, Erfahrungen aus der Praxis, sondern auch theoretische Erkenntnisse auf neue Weisen zu bearbeiten, zu bereichern und zu verstehen. Bei der Arbeit mit Menschen mit Behinderungen ist das Thema Inklusion zentral. Inklusion ist ein relationaler Begri, weshalb immer zwei Aspekte in den Blick genommen werden müssen: Einerseits individuelle Lebenswelten und andererseits gesellschaftliche Strukturen. In diesem Kontext ist auch die Bedeutung der individuellen Beziehung essenziell, die zwischen Menschen mit Behinderungen und den Menschen besteht, die zu ihrer Unterstützung und zur Umsetzung des Ziels der Inklusion mit ihnen zusammenarbeiten. Diese Beziehung ist in der beschriebenen Situation von Bildern und Diskursen geprägt, die durch die Gesellschaft, die konkrete Einrichtung und deren Organisationskultur vermittelt sind, ebenso wie den Strukturen in der Arbeit mit ihnen. Beziehungsarbeit ist ein zentraler Aspekt in der Sozialen Arbeit, deren zahlreiche Spannungsfelder und Widersprüche in diesem Text ebenfalls behandelt werden. Mit Fokus auf die beiden Schwerpunkte Inklusion und Beziehung, die auch ineinander übergehen bzw. miteinander verwoben sind, sollen neue Erkenntnisse zu der beschriebenen Situation, meiner eigenen Rolle und der Rolle aller Beteiligten erönen. Darüber hinaus sollen grundlegende professionelle Spannungsfelder aufgezeigt und bearbeitet werden. Folgende Fragen haben meine Auseinandersetzung geleitet: Welche Aspekte von Inklusion lassen sich anhand der Situation analysieren? Welche Rolle spielen die Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Beteiligten in der beschriebenen Situation? Wodurch zeichnet sich eine (gelungene) Beziehung (mit Menschen mit Behinderungen) in der Sozialen Arbeit aus? Welche Spannungsfelder gilt es zu berücksichtigen und auszubalancieren? Welchen Grundhaltungen bedarf eine (gelungene) Beziehung(sarbeit) mit Menschen mit Behinderungen in der Sozialen Arbeit? Welche Problematiken gilt es dabei zu beachten?Nachfolgend werde ich auf ein Modell zur Situationsanalyse nach Hiltrud von Spiegel eingehen, an dem ich mich methodisch orientiert habe. Ich werde schließlich Dimensionen aufzeigen, die sich durch die Analyse der beschriebenen Situation erönet haben: Problematiken bezüglich der gesellschaftlichen und individuellen Teilhabe, Dynamiken angesichts von Machtasymmetrien und die Gestaltung professioneller Begegnungen.Tabelle 1: Durchführung der Situationsanalyse nach Hiltrud von Spiegel(vgl. Spiegel 2018: 152.).Die Methode der Situationsanalyse von Hiltrud von Spiegel dient der mehrperspektivischen Reexion von Situationen der sozialarbeiterischen Praxis (vgl. von Spiegel 2018b). Sie sieht das Festhalten von Beschreibungen des subjektiven Erlebens der Situation, Begründungen für das eigene Handeln und die unterschiedlichen Problemdenitionen aller Beteiligter vor. Zu jeder Sichtweise sollen Theorien oder Hypothesen der analysierenden Fachkraft in die Tabelle aufgenommen werden. Von Spiegel betont, dass in Situationsanalysen immer auch die Perspektiven der Leitung inkludiert werden sollen, weil sie die Organisationskultur prägen. Denn es „schwingt ihre Sichtweise im Hintergrund mit und beeinusst so das Handeln der Fachkräfte und ggf. auch ihre Begründungen und Bewertungen“ (ebd.: 149f.). Für den beschriebenen Fall habe ich deshalb versucht, folgende Perspektiven einzunehmen: die institutionelle Sicht (Vorgesetzte, die zufällig an uns vorbeikam), die Sicht der Adressat*in (begleitete Frau mit Behinderungen), die Sicht weiterer an der Situation Beteiligter (Zivildiener, zweiter Klient, Mitarbeiterinnen der Werkstatt) und schließlich mein eigenes Erleben der Situation. Die unterschiedlichen Sichtweisen, Begründungen und Problemdenitionen haben mir erlaubt, bis zu einem gewissen Grad aus meinem eigenen Erleben der Situation auszusteigen. Durch die im Laufe der Situationsanalyse aufgestellten Hypothesen führten zu Überlegungen zu den Themen Inklusion und Beziehung in der Sozialen Arbeit. Auf diesen beiden Thematiken liegt der Schwerpunkt dieses Beitrags. Im Folgenden werde ich meine Reexion zu Inklusion mit dem Fokus auf die Themen Mobilität, Erziehung, Selbstbestimmung und Empowerment sowie Arbeit darlegen. Diese Thematiken haben sich in der Situationsanalyse als zentral herausgestellt. Danach gehe ich auf die Beziehungsaspekte in der Situation sowie in der Sozialen Arbeit im Allgemeinen ein.3 Inklusion3.1 Inklusion und Integration – sozialarbeiterische SpannungsfelderDie Fallreexion wirft Fragen bezogen auf die Inklusion und Teilhabe von in Einrichtungen lebenden Menschen mit kognitiven Behinderungen auf. Innerhalb dieser Überlegungen haben sich im Zusammenhang mit Inklusion Fragen der Mobilität, Erziehung, Selbstbestimmung und Empowerment und der Arbeit besonders interessant herauskristallisiert. Ziel Sozialer Arbeit ist es, Menschen dabei zu unterstützen, ihre Handlungsspielräume zu vergrößern und sie auch von der sozialarbeiterischen Unterstützung unabhängig zu machen. Ein zentrales Konzept dabei ist jenes des Empowerment. Durch Empowerment sollen Menschen dazu bemächtigt werden, sich selbst zu ermächtigen (vgl. Biewer 2017b: 147). Dieses Paradoxon der Hilfe zur Selbsthilfe ist bei der Arbeit an gesellschaftlicher Inklusion von Menschen mit Behinderungen ein tägliches Thema. Viele Menschen mit Behinderungen brauchen in ihrem Lebensalltag Hilfe, Unterstützung und Bestärkung. Die Klientin aus meiner Situationsbeschreibung benötigte meine kompetente Begleitung und Unterstützung, um sicher in die Arbeit zu gelangen. Gleichzeitig muss es Ziel der Unterstützung sein, Menschen dazu zu verhelfen, selbstbestimmt, kritisch und möglichst autonom leben zu können. „Selbstbestimmtes Handeln bei Erwachsenen mit geistiger Behinderung schließt Unterstützung durch Professionelle oder Eltern im Sinne einer Hilfe zur Selbsthilfe nicht aus.“ (ebd.: 147) Dies kann nur durch individuelles Planen und konstantes Abstimmen der Unterstützung auf die Bedarfe der Person mit Behinderung geschehen. Dabei können nicht immer die situativen Wünsche der Klient*innen im Vordergrund stehen. Menschen mit Behinderung haben das Recht, „anders“ zu sein und Unterstützung sowie Teilhabe an der Gesellschaft und deren Infrastrukturen etc. zu fordern. Gleichzeitig haben sie ein Recht darauf, inkludiert zu sein, dazu zu gehören, teilhaben zu können, „normal“ zu sein.1 Das Spannungsfeld von Unterstützung und Autonomie zeigt sich auch in der von mir erfahrenen Situation: Einerseits gilt es, die individuellen Bedürfnisse und Wünsche der Klientin zu berücksichtigen und zu unterstützen, andererseits soll die Partizipation der Klientin an der Gesellschaft (in diesem Fall: soziale Teilhabe an einer Form der Erwerbstätigkeit) gefördert werden. Dabei stehen sich zwei unterschiedliche Interessen gegenüber: der Wunsch der Klientin, nicht zu Fuß zu gehen, und das Interesse der Sozialen Arbeit, Inklusion zu ermöglichen bzw. sie in die Arbeit zu bringen. Es geht dabei bis zu einem gewissen Grad auch um Normalisierung bzw. darum, individuelle Lösungen, Unterstützungs- und Handlungsmöglichkeiten gemeinsam zu erarbeiten. Soziale Arbeit vermittelt damit zwischen gesellschaftlichen und rechtlichen Anforderungen und Klient*innen, die von ihnen in irgendeiner Art und Weise abweichen (vgl. Conen 2007: 370.; Pantuček-Eisenbacher 2009: 43.). In der Sozialen Arbeit wird die Unterscheidung von Inklusion und Exklusion als „die Teilnahme bzw. Nicht-Teilnahme von Individuen an den Leistungen ausdierenzierter gesellschaftlicher Teilsysteme“ (Scherr 2004: 66) verstanden. Zu den gesellschaftlichen Teilsystemen zählen unter anderem Kunst, Wirtschaft, Politik und Recht (vgl. Kleve 2004: 173). Allerdings bedeutet die Exklusion von einem der Teilsysteme nicht automatisch, dass dadurch sozialarbeiterischer Hilfebedarf besteht. Umgekehrt schließt Inklusion aber nicht aus (vgl. Scherr 2004: 67). Es gibt einige Teilsysteme, bei denen davon ausgegangen wird, dass Inklusion unverzichtbar ist, während sie bei anderen frei wählbar oder je nach Lebensgestaltung oder Wertvorstellungen verzichtbar ist (vgl. ebd.: 70). Inklusion hat immer auch mit Normalvorstellungen bzw. Normalisierung zu tun, „[d]enn es ist unmöglich, Entscheidungen über Standards einer zumutbaren oder unzumutbaren, zu respektierenden oder abzulehnenden Lebensführung ohne normative Bezugspunkte zu treen“ (ebd.: 71). Erstens können nur anhand von Vorstellungen zu Normalität Behinderungen und der dadurch (möglicherweise) entstehende Unterstützungsbedarf bzw. notwendige gesellschaftliche Veränderungen zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen überhaupt thematisiert werden. Zweitens spielt Soziale Arbeit eine wichtige Rolle dabei, Akzeptanz für Menschen zu fordern, die von gesellschaftlichen Normen und Normalvorstellungen abweichen (vgl. Pantuček-Eisenbacher 2009: 45). Drittens haben auch Klient*innen Sozialer Arbeit Bilder davon, was Normalität oder Normalsein bedeutet, die in der Kooperation mit ihnen mitschwingen. Wie auch Scherr feststellt, braucht es für die Soziale Arbeit viertens Anhaltspunkte dafür, was normal ist, damit Klient*innen wissen können, welches Verhalten welche Konsequenzen nach sich zieht und welche Veränderungen ihnen dabei helfen könnten, die Begleitung durch Soziale Arbeit in Zukunft nicht mehr zu brauchen (vgl. ebd.: 43.; Conen 2007: 375). Die Spannung in der untersuchten Situation bestand nun darin, dass das Geschehen, das für mich als Helferin ein Stück Arbeitsalltag darstellt, für die Klient*innen ein Stück ihrer privaten Lebenswelt ist. Heiko Kleve (2004) stellt in Frage, dass das Konzept der Inklusion, wie es systemtheoretisch auf die formellen gesellschaftlichen Funktionssysteme (z.B. Teilhabe an der Arbeitswelt) bezogen wird, auch für die informellen Bereiche und Lebenswelten der Menschen gelten kann. Er regt an, dass für diese „Beschreibung der sozialen Einbindung in lebensweltliche (intime) Systeme wie Familien oder Freundschaftsbeziehungen“ (Kleve 2004: 173) der Begri der Integration noch nicht ausgedient hat. Der Arbeitsplatz professionell Helfender ist zugleich der Bereich des täglichen Lebens für die Nutzer*innen. Die privaten Bereiche des Wohnens, der Freizeit und der alltäglichen Handlungen, die „normalerweise“ von „lebensweltlichen Systemen“ (ebd.: 173) und Integration geprägt sind, umfassen für Menschen mit Behinderungen häug auch zu ihrer Unterstützung angestellte Personen. Dies bedingt Herausforderungen in der Gestaltung solcher Beziehungen. Die Menschen, die in der Einrichtung leben, in der ich mein Freiwilliges Soziales Jahr verbracht habe, sind in manchen funktionalen Teilsystemen der Gesellschaft inkludiert und von anderen exkludiert – manche davon sind unverzichtbar, andere wählbar. So sind die Menschen als österreichische Staatsbürger*innen zum Beispiel mehr oder weniger automatisch im Rechtssystem Österreich inkludiert, während sie von der Ökonomie teilweise exkludiert sind, weil sie nicht eigenständig ihr Geld verwalten und für ihre Arbeit in der Werkstatt nicht entlohnt werden. Einige der Bewohner*innen sind im Teilsystem Religion oder auch im Funktionssystem Kunst inkludiert, andere wählen, davon exkludiert zu leben. Soziale Arbeit muss deshalb individuell beurteilen, in welcher Form, mit welchen Limitationen eine Person in/von welchen Funktionssystemen inkludiert/exkludiert ist. Darüber hinaus muss betrachtet werden, inwiefern dies gewählt ist oder unfreiwillig geschieht und ob diese Inklusion verzichtbar oder unverzichtbar ist. Es gilt, die Wünsche und Bedürfnisse der Person wahrzunehmen, um zu erarbeiten, wie Inklusionen erleichtert oder Exklusionen bewältigt werden können. Die Aufgabe der Sozialen Arbeit ist es also einerseits, auf gesellschaftlicher Ebene Bedingungen zu verändern, um essenzielle und unfreiwillige Exklusionen zu verhindern. Andererseits soll Soziale Arbeit auf der lebensweltlichen Ebene den individuellen Zugang zu Funktionssystemen durch Ressourcen der Sozialen Arbeit und Ressourcen der Klient*innen (z.B. Verhaltensveränderung) ermöglichen. 3.2 MobilitätDie Ausgangssituation, dass nicht alle in der Werkstatt Beschäftigten im Bus Platz nden, um zur Werkstatt zu gelangen, weist auf Problematiken im Zusammenhang mit Mobilität hin. Die Personen können nicht frei wählen, wie sie an ihren Arbeitsplatz gelangen. Der Transport ist nicht zuverlässig für alle gewährleistet und der Zugang dazu nicht fair geregelt. Wer sich durchsetzen kann, schnell und selbstständig ist und wenig Unterstützung benötigt, verschat sich einen Platz im Transportmittel. Alle anderen müssen zu Fuß gehen, auch wenn Regenwetter angesagt wurde. Auch Menschen, die keine Behinderungen haben, sind von Exklusion im Sektor Mobilität betroen: Wer sich kein Auto oder öentliche Verkehrsmittel leisten kann, in der Öentlichkeit nicht gebilligt wird bzw. Aufsehen erregt (z.B. obdachlose Menschen), die Mehrheitssprache nicht beherrscht, wer einem bestimmten Staat angehört (bzw. im Falle des Fehlens einer solchen Staatsangehörigkeit) oder Dezite beim Lesen hat, kann ebenfalls von eingeschränkter Mobilität betroen sein. Das ist auch der Zugang jener Variante der inklusiven Pädagogik, die sich nicht nur als „Transformation der Sonder- und Heilpädagogik“, sondern vor allem auch als „Entwicklungsdimension [einer Bildung] für Alle“ sieht (Biewer 2017a: 207f.). Es wird der Blick auf die Adressat*innengruppe hierbei größer gefasst und auf alle Menschen, die von „Marginalisierung und Ausschluss betroen sein können“ (ebd.), erweitert. Entsprechend dieses Zugangs bedarf es angemessener Unterstützung, um die Behinderungen zu verringern oder auszugleichen.3.3 Erziehung, Selbstbestimmung und Empowerment„Partizipation, Selbstbestimmung und Empowerment sind begriiche Zugänge zur Lebenssituation von Menschen mit Behinderung, welche von deren Rechten ihren Ausgang nehmen und entsprechende Bewertungs- und Handlungsperspektiven implizieren.“ (ebd.: 141) Die Entscheidungsfreiheit darüber, wie man sich fortbewegt, hat auch mit Selbstbestimmung zu tun. Idealerweise sollten sich die Klient*innen aus meiner Fallbeschreibung frei entscheiden können, ob sie mit dem Bus fahren oder zu Fuß in die Arbeit kommen wollen. Sie sollten die nötige strukturelle und personelle Unterstützung für beide Möglichkeiten bekommen. Dem steht allerdings eine pädagogische Haltung der Einrichtung gegenüber, der entsprechend Klient*innen Probleme zugemutet werden können. Die Gefahr liegt dabei darin, dass die Klient*innen eher als „Objekte von Erziehung“ als – im Sinne der „Subjektorientierung“ – als individuelle Subjekte gesehen werden (vgl. von Spiegel 2018a: 28f.). Subjektorientierung würde bedeuten, dass „Fachkräfte […] Adressaten als andersartige, aber gleichwertige Beteiligte verstehen und sich mit diesen auf ein ‚gemeinsames Drittes‘ verständigen, z.B. auf ein Ziel und einen Weg dorthin“ (ebd.: 30). In meinem Beispiel sehe ich Erziehung im Gegensatz dazu als Versuch, andere nach den eigenen Wünschen, Vorstellungen und Bedarfen (Lösung für strukturelle Knappheit) zu formen und eigenständig zu bestimmen, wie die andere Person zu handeln bzw. sich zu verhalten hat. Erziehung ist nichts prinzipiell positives oder negatives, aber die Herangehensweise der Mitarbeiter*innen in der beschriebenen Einrichtung weist auf eine Wahrnehmung von Erwachsenen mit kognitiven Behinderungen als zu erziehenden, zu formenden Kindern und Jugendlichen hin. Meine Kolleg*innen und meine Vorgesetzte kommentierten die Engpässe beim Transfer in die Arbeit unter anderem mit der Aussage, dass Bewegung gut für die Gesundheit sei und die Klient*innen sowieso zu wenig Bewegung hätten und Sport machten. Zwar wollen die Mitarbeiter*innen der Organisation so gut wie möglich dafür sorgen, dass die ihren anvertrauten Menschen ein gesundes Leben führen, wozu auch Bewegung gehört. Doch bleibt die Entscheidung darüber, ob, wieviel, wann und welche Art von Bewegung sie machen wollen, Erwachsenen ohne (kognitive) Behinderung normalerweise selbst überlassen. Es sollten andere Wege möglich sein, mit den Bewohner*innen über ihre Gesundheit zu kommunizieren, als dieses Thema an strukturellen Unzulänglichkeiten festzumachen. Dass die Klientin in dieser Situation das Zu-Fuß-Gehen verweigert und schließlich bewirkt hat, dass sie mit dem Bus in die Arbeit gebracht wird, kann als Beispiel für Empowerment – also „Selbst-Ermächtigung“ oder „Selbst-Bemächtigung“ (Biewer 2017b: 147) – gesehen werden. Nicht nur hat sich die Klientin Gehör für ihre Bedürfnisse und Wünsche verschat und auf ihre Rechte aufmerksam gemacht, sondern auch Machtasymmetrien verändert. Die Menschen mit Behinderungen, mit denen ich in der Einrichtung gearbeitet habe, hatten wenig Macht über viele Bereiche ihres Lebens: Sie konnten nur über einen Teil ihres Taschengeldes (mehr oder weniger) frei verfügen. Selbst bei dem Teil, den sie z.B. im Supermarkt frei ausgeben durften, mischten sich Betreuer*innen teilweise noch in ihre Entscheidung ein. Über ihre Ernährung, ihre Arbeit und bestimmte persönliche Lebensbereiche konnten sie nicht selbst entscheiden bzw. diese beeinussen. Ebenso wenig konnten sie frei wählen, wie sie an ihren Arbeitsplatz in der Werkstatt gelangen. Das Nein von Klient*innen ist also nicht automatisch ein Misserfolg der sozialarbeiterischen Bemühungen. Es kann auch als Erfolg, nämlich Empowerment begrien werden (vgl. Müller 2012: 57). Denn zu den wichtigsten inhaltlichen Elementen von Empowerment gehört „die Fähigkeit, eigene Entscheidungen zu treen“, „über verschiedene Handlungsalternativen und Wahlmöglichkeiten zu verfügen“, „das Gefühl zu haben, als Individuum etwas bewegen zu können“, „Wut erkennen und äußern zu lernen“, „Veränderungen im eigenen Leben und im sozialen Umfeld zu bewirken“ und „die Wahrnehmung anderer bezüglich der eigenen Handlungskompetenz und -fähigkeiten zu korrigieren“ (Lenz 2012: 14, zit.n. Biewer 2017b: 147f.). Einige dieser Aspekte sind im Handeln der Klientin in der beschriebenen Situation eindeutig erkennbar: So hat sie durch ihre Weigerung weiterzugehen die organisationale Routine gestoppt, ihre Emotionen geäußert, widersprochen bzw. Nein gesagt, dadurch ihre Grenzen klargemacht und eine Handlungsalternative erwirkt.3.4 ArbeitDie beschriebene Situation fand auf dem Weg in die Arbeit statt, weshalb ich mir zusätzlich Fragen zur Inklusion in die Arbeitswelt. Der Begri Arbeit wird hier bewusst verwendet, um auf Unterschiede zwischen den im Fallbeispiel beschriebenen Arbeitsformen und Erwerbsarbeit kritisch hinzuweisen, die als (fair) bezahlte Tätigkeit am ersten Arbeitsmarkt verstanden wird. Dabei werden menschenrechtliche Aspekte beleuchtet sowie Überlegungen zu Ausbeutung und der Teilhabe am System der Ökonomie angestellt. Das Ansiedeln der Werkstatt außerhalb des Geländes der Einrichtung und im Zentrum des Ortes war möglicherweise Teil der Bemühungen um Inklusion von Menschen mit Behinderungen. Intendiert wurde vermutlich die verstärkte Sichtbarmachung dieser Menschen und ihrer Arbeit sowie ihre Teilhabe am Geschehen der Ortschaft. Doch ndet dadurch tatsächlich Inklusion in die Arbeitswelt statt? In der UN-Behindertenrechtskonvention wird betont, dass Menschen mit Behinderungen ein Recht auf Arbeit haben, die sie frei wählen oder annehmen. Dies soll durch einen „oenen, einbeziehenden und zugänglichen Arbeitsmarkt“ (Vereinte Nationen 2006, Art. 27) ermöglicht werden. Die Arbeit in der Werkstatt kann für Menschen mit Behinderungen einerseits eine ideale Förderung der individuellen Interessen und Fähigkeiten mit ausreichend Unterstützung und Begleitung bedeuten. Andererseits kann diese Form der Beschäftigung auch Ausbeutung, eine Verringerung der Selbstständigkeit und Exklusion vom regulären Arbeitsmarkt bewirken. Das zeigte sich während meines Freiwilligen Sozialen Jahres immer wieder. Einige Klient*innen der Einrichtung waren im Rahmen der Bemühungen um Inklusion als Arbeitskräfte in einer nahegelegenen Firma beschäftigt. Meinen Informationen nach kam es dort allerdings zu Exklusion und Ausbeutung, weil die Menschen ausschließlich für körperlich anstrengende Tätigkeiten eingeteilt wurden und während der Arbeitszeit und den Pausen von den anderen Mitarbeiter*innen der Firma separiert waren. Es ist also zu fragen, inwieweit die Rechte der Menschen mit Behinderungen hinsichtlich Bezahlung, Selbstbestimmung im Erwirtschaften des Lebensunterhalts und des Verfügens über nanzielle Mittel gesichert sind. Prinzipiell stellt sich die Frage, warum es überhaupt so wichtig ist, dass Menschen mit kognitiven Behinderungen aus dem oben beschriebenen Kontext arbeiten. Eine individuell zugeschnittene Förderung ihrer Fähigkeiten und Interessen könnte ebenso gut (wenn nicht besser) in einem anderen Setting stattnden, das nicht als Arbeitsverhältnis gerahmt ist. Möglicherweise wäre dann auch die Gefahr geringer, dass Menschen mit Behinderungen ausgebeutet werden, beispielsweise durch fehlende Bezahlung, die eigentlich essenzieller Teil der Denition von Erwerbsarbeit ist. Auch mit Blick auf die Öentlichkeit und die Politik scheint mir die Gefahr groß, Menschen mit Behinderungen auf diese Weise als in das Teilsystem Erwerbsarbeit (Funktionssystem Wirtschaft) inkludiert zu denken und damit keinen Bedarf mehr für Veränderungen (zum Beispiel in Richtung Inklusion in den ersten Arbeitsmarkt) zu sehen. Es gibt allerdings eine Reihe von Gründen dafür, dass Menschen mit Behinderungen den beschriebenen Formen von Arbeit nachgehen: 1. Unternanzierte Betreuung von Menschen mit Behinderungen (Notwendigkeit sich selbst mitzunanzieren); 2. nicht ausgereifte Versuche der tatsächlichen Inklusion am Arbeitsmarkt (stellvertretende Inklusion); 3. (strukturelle) Benachteiligung von marginalisierten Gruppen, vor allem wenn keine oder nur schwach etablierte Formen der Interessensvertretung oder (Selbst- Organisation zur Durchsetzung der eigenen Interessen und Rechte bestehen; 4. Normalitätsvorstellungen der Menschen mit Behinderungen selbst, die einen signikanten Einuss auf die Wahrnehmung des eigenen Lebens, auf Problemdenitionen sowie das Zugehörigkeitsgefühl in der Gesellschaft und zum Normalen haben.Die Frage der Inklusion von Menschen mit Behinderungen in das Funktionssystem Arbeit ist eine komplexe, die sich nicht für alle Menschen und in jeder Situation auf gleiche Weise beantworten lässt. Es gilt deshalb weiterhin, kritisch und den Status quo hinterfragend auf die Arbeitssituation von Menschen mit kognitiven Behinderungen zu schauen, besonders wenn diese stellvertretend in das System Arbeit inkludiert sind. Hinzu kommt, dass es einerseits allgemeine inklusive Forderungen, wie die in der UN-Behindertenrechtskonvention formulierten Agenden, geben muss. Andererseits gilt es, auch individuell auf diverse Möglichkeiten der Inklusion von Menschen mit Behinderungen in das Funktionssystem Arbeit zu blicken und solche in Kooperation mit den Menschen selbst zu erarbeiten. 4 Beziehung: professionelle BegegnungIn der Situationsanalyse zeigt sich, dass neben dem Thema der Inklusion die Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Beteiligten eine zentrale Bedeutung spielten und großen Einuss auf die Interaktionen genommen haben. Kathrin Blaha hebt in diesem Zusammenhang hervor, dass „[n]ur durch Vertrauen […] asymmetrische Verhältnisse gelingend aufgenommen werden [können]“ (Blaha 2013: 186). Menschen mit Behinderungen spüren, wie alle Menschen, die Grundhaltungen, die ihnen Helfende entgegenbringen. Von großer Bedeutung ist sowohl das Vertrauen der Klient*innen in die Unterstützenden, als auch das Vertrauen, das Sozialarbeiter*innen den Nutzer*innen entgegenbringen. Für die professionelle Beziehung zu Menschen mit Behinderungen ist es wichtig, sie als Expert*innen ihrer Lebenswelt zu erkennen und dementsprechend auf ihre Äußerungen und Signale einzugehen. Die Klientin aus meinem Beispiel war eventuell verunsichert, weil sie sich meiner Rolle, meiner Verantwortung und unserer Beziehung nicht sicher war. Ich sah sie in dem Moment nicht als Expertin ihrer eigenen Bedürfnisse und Rechte und setzte mein Vertrauen viel mehr in die Vorgaben und Wünsche meiner Vorgesetzten als in die Klientin selbst. Obwohl ich zum damaligen Zeitpunkt als ehrenamtliche Betreuungskraft eingesetzt war, war ich aus jetziger Sicht in ähnlich spannungsvollen professionellen Beziehungsgeechten involviert, durch die sich die Soziale Arbeit generell auszeichnet. Diese Beziehungen werden getragen von Vertrauen und Wertschätzung (vgl. Blaha 2013: 184.), sind aber auch von Dierenz, Machtasymmetrie und permissive Reziprozitätsverweigerung geprägt (vgl. Baecker 2001: 1871f.). Einerseits lässt sich der*die Sozialarbeiter*in auf die individuelle Lebenswelt der Klient*innen ein, kommuniziert mit ihnen über die unterschiedlichsten Aspekte ihres Lebens und akzeptiert die Dierenzen, die dazu führen, dass die Person in Kontakt mit Sozialer Arbeit gekommen ist (vgl. ebd.). Gleichzeitig ist diese Beziehung keine freundschaftliche – die Reziprozität wird verweigert. Sozialarbeiter*innen erzählen Klient*innen nicht (im gleichen Maße) von ihrem Leben und erwarten sich von ihnen keine Beratung, Informationen oder Unterstützung zur Problemlösung (vgl. ebd.). Der Beziehungsaspekt der Situation ist besonders wichtig. Dabei geht es nicht darum, was ich hätte sagen oder wie ich mich hätte verhalten sollen, damit die Klientin auf mich gehört hätte und zu Fuß in die Werkstatt gegangen wäre. Vielmehr ist Beziehungsarbeit ein zentraler Teil Sozialer Arbeit, denn diese „ist eine personengebundene Arbeit – sie vollzieht sich zwischen Menschen, Individuen, Personen“ (Blaha 2013: 177). Die Beziehungen gestalten Situationen Sozialer Arbeit also immer mit. Nur durch Beziehungsarbeit wird es überhaupt möglich, einander zu vertrauen, aufeinander einzugehen, hinzuhören, Konsequenzen zu vermitteln, Handlungsspielräume zu erweitern und Lösungen im gemeinsamen Handeln zu nden. Dabei wird jeglicher fachliche Input in dieser Beziehung ausgehandelt und es ist nicht kausal steuerbar, wie das Gegenüber darauf reagiert (vgl. Müller 2012: 56.). Ich vermute, dass meine Rolle als unerfahrene und junge Ehrenamtliche auch für die Klient*innen verunsichernd war, da die Beziehung deutlich ungeklärter schien, als jene zu meinen Kolleg*innen oder meiner Vorgesetzten. Wir Ehrenamtliche des Freiwilligen Sozialen Jahres wohnten in den gleichen Wohnhäusern, in denen auch die Klient*innen in Wohngruppen lebten. Dadurch sahen mich die Klient*innen immer wieder auch am Wochenende, am Abend nach der Arbeit, manchmal auch beim Mittagessen im Speisesaal oder in der Freizeit beim Malen im Kunstraum. So war meine Rolle für die Klient*innen möglicherweise nicht ganz klar. Meine Aufgaben schienen ihnen möglicherweise unklar, meine Zugehörigkeit war unsicher und meine Autorität und Kompetenz wurde von ihnen viel mehr in Frage gestellt, als dies bei den hauptamtlichen Mitarbeiter*innen der Einrichtung der Fall war. Die Klientin konnte in der beschriebenen Situation vielleicht nicht zuordnen, wie ich auf Widerstand reagieren würde: permissiv (freundschaftlich verstehend, solidarisch, gewährend) oder mit Reziprozitätsverweigerung (leitend, fordernd, erziehend). Während sie mit meiner Vorgesetzten eine eindeutig geklärte Beziehung hatte, war meine Rolle und die Beziehung zu mir für sie vielleicht uneindeutig, verunsichernd und verwirrend. Aufgrund dessen bestand eventuell nicht genügend Vertrauen und/oder die Klientin sah die Chance, die als freundschaftlich oder kollegial empfundene Beziehung zu nutzen, um ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen und Widerstand zu leisten. 5 ConclusioDurch die Situationsanalyse eröneten sich mir hinsichtlich meines Fallbeispiels zwei zentrale Themen: Inklusion und Beziehung. Es stellten sich dabei die Inklusionsaspekte Mobilität, Erziehung, Selbstbestimmung und Empowerment sowie Arbeit als besonders relevant heraus. Außerdem bin ich der Frage nach Spannungsfeldern in der Beziehung zwischen Sozialarbeiter*innen und Klient*innen nachgegangen und habe Grundhaltungen und -problematiken dieser Beziehung beleuchtet. In Hinblick auf die Inklusion haben sich sehr grundlegende Spannungsfelder gezeigt. Dazu gehört die Notwendigkeit für viele Menschen mit Behinderungen sowie auch für alle Klient*innen Sozialer Arbeit, Unterstützung zu bekommen, um selbstständig(er) leben zu können. Soziale Arbeit ist gekennzeichnet durch die Spannung zwischen den Machtasymmetrien, die sich durch das Helfen entwickeln, und dem Empowerment sowie der Selbstständigkeit, die dadurch beinahe paradoxerweise entstehen können. Auch die Spannung zwischen Dierenz und Normalität von Menschen mit Behinderungen ist eine zentrale. Darüber hinaus zeigte sich, dass Inklusion eine Balance zwischen allgemeinen Forderungen bzw. Rechten und speziellen Lösungen für individuelle Bedarfe bedeutet. Es zeigte sich in der Auseinandersetzung mit Inklusion schließlich auch, dass Menschen mit Behinderungen, die in Einrichtungen leben, in ihrer intimen Lebenswelt Beziehungen zu Helfenden haben, die von informellen und privaten, aber auch von formellen und professionellen Aspekten geprägt sind. Das Thema Beziehung ist essenziell in der Sozialen Arbeit. Das Aushandeln, das zwischen den beteiligten Personen stattndet, zeigt sich auch im Fallbeispiel deutlich: Es werden Ziele, Emotionen, Werte und Bedürfnisse immer wieder zwischen der Klientin und mir, der Vorgesetzten und der Klientin sowie auch zwischen der Vorgesetzten (stellvertretend für die Organisation) und mir verhandelt. Die unterschiedlichen Beziehungen, die die Beteiligten untereinander haben, spielen dabei eine zentrale Rolle. Die grundlegenden Elemente in der Beziehung zwischen Sozialarbeiter*innen und Klient*innen sind einerseits Wertschätzung und Vertrauen, jedoch andererseits auch Machtasymmetrien und permissive Reziprozitätsverweigerung. Auch diese werden im Ausverhandeln der möglichen Alternativen im Fallbeispiel deutlich. Aus der Situationsanalyse haben sich noch weitere mögliche Themenschwerpunkte ergeben. So könnte sich eine alternative Bearbeitung der Situation der Thematik widmen, wie mein Handeln von meinem Bild von Menschen mit Behinderungen und der Arbeitskultur in der Einrichtung geprägt wurde. Ein anderer Fokus könnte aber auch die Auseinandersetzung mit der Einstellung der Leitungspersonen der Organisation gegenüber freiwilligen bzw. ehrenamtlichen Mitarbeiter*innen sein. Insgesamt hat die Analyse gezeigt, dass sich durch die kasuistische Auseinandersetzung mit Situationen aus der alltäglichen Praxis, durch Verbindungen mit theoretischen Überlegungen und strukturierter Reexion neue Wege des Verstehens erönen, die die Theorie und Praxis Sozialer Arbeit bereichern können. Anhand einer kurzen Situation, die im konkreten Moment nur mit Unsicherheit und Stress verbunden war, können neue Perspektiven und immer wieder vorhandene Spannungsfelder erkannt, Problematiken diskutiert und in neuen Wegen gedacht werden.Verweise1 Zu den dazu ausformulierten Dilemmata der inklusiven Pädagogik siehe Biewer 2017a: 203.LiteraturverzeichnisBaecker, Dirk (2001): Soziale Hilfe als Funktionssystem. Kommunikation – Organisation – Gesellschaft. In: Otto, Hans-Uwe/Thiersch, Hans (Hg.): Handbuch Sozialarbeit Sozialpädagogik. München/Basel: Reinhardt, S. 1870–1875. Biewer, Gottfried (2017a): Diskurse zur inklusiven Pädagogik. In: Biewer, Gottfried (Hg.): Grundlagen der Heilpädagogik und inklusiven Pädagogik. 3. Au. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt, S. 202–208.Biewer, Gottfried (2017b): Konzepte der gesellschaftlichen und fachlichen Entwicklung. In: Biewer, Gottfried (Hg.): Grundlagen der Heilpädagogik und inklusiven Pädagogik. 3. Au. 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