soziales_kapitalAmesberger, Helga/Goetz, Judith/Halbmayr, Brigitte/Lange, Dirk (Hg.*innen) (2021). “Kontinuitäten der Stigmatisierung von „Asozialität“. Perspektiven gesellschas-kritischer Politischer Bildung. Wiesbaden: Springer VSsoziales_kapital, no. 26 (2022). Rubrik „Rezension“. St. Pölten. Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/view/762/1423.pdf_Amesberger, Helga/Goetz, Judith/Halbmayr, Brigitte/Lange, Dirk (Hg.*innen) (2021): Kontinuitäten der Stigmatisierung von „Asozialität“. Perspektiven gesellschaftskritischer Politischer Bildung. Wiesbaden: Springer VS Soziale Innovation 26. Ausgabe Juni 2022167 Seiten, 56,53 EuroDer Begri Asozialität wurde im Nationalsozialismus geprägt. Die willkürliche Bezeichnung von Menschengruppen als „asozial“, deren Kennzeichnung, Segregation bis hin zur Vernichtung ist ein leidvoller Teil dieser Epoche. Im Sammelband Kontinuitäten der Stigmatisierung von „Asozialität“. Perspektiven gesellschaftskritischer Politischer Bildung wird eindrucksvoll auf die Kontinuität von Ausgrenzungen und die Aktualität von Stigmatisierung hingewiesen. Die Herausgeber*innen Helga Amesberger und Brigitte Halbmayr forschten gemeinsam mit Elke Rajal am Institut für Koniktforschung (IKF) zur nationalsozialistischen Verfolgung von Menschen, die als „asozial“ stigmatisiert wurden. Diese Forschungsarbeit war der Ausgangspunkt des vorliegenden Sammelbandes. Mit Hilfe von Judith Goetz und Dirk Lange ist ihnen der Transfer in die Gegenwart gelungen. Im Rahmen einer Vortragsreihe an der Universität Wien im Fachbereich Didaktik der politischen Bildung überlegten die Referent*innen, wie sie in der aktuellen politischen Bildung die Thematik der „Asozialität“ verankern und behandeln könnten. Mit der Begrisdenition von Asozialität und den Schicksalen von mit diesem Stigma betroenen Gruppen im Nationalsozialismus setzen sich andere Autor*innen heute ebenso intensiv auseinander (vgl. dazu bspw. Eminger/Langthaler/Mulley 2021: 210.). Den Herausgeber*innen des vorliegenden Sammelbandes ist jedoch der Gegenwartsbezug des Phänomens ein zentrales Anliegen. Darüber hinaus soll mit Hilfe der Texte, der angeschlossenen praktischen Übungen und Fragestellungen ein oener Diskurs im Rahmen der politischen Bildung entstehen. Die Beiträge von Forscher*innen aus dem deutschsprachigen Raum betrachten den Begri Asozialität, dessen Bedeutung und die damit einhergehende Stigmatisierung aus verschiedenen Perspektiven. Dabei wird ergründet, welche (Rand-)Gruppen und Menschen in der Vergangenheit benachteiligt wurden und bis heute nach wie vor werden. Entsprechend den Herausgeber*innen soll den Leser*innen so bewusst gemacht werden, welche unreektierten Kategorisierungen und Vorurteile marginalisierten Menschengruppen gegenüber alltäglich sind. Ebenso zeigen sie auf, wie klein die Handlungsspielräume Betroener in unserer Gesellschaft sind. Begrie wie „Sozialschmarotzer*innen“ (S. 155) und Anfeindungen von Migrant*innen nden sich häug in medialen und politischen Diskursen und zeigen die Aktualität der Thematik. Auch in der Vergangenheit waren für die Zuschreibung „asozial“ „selten präzise Argumente nötig, um Normabweichungen, übersetzt in ,Asozialität‘, zu ahnden“ (Scherer 1990: 56). Julia Hörath thematisiert die vorbeugende Verbrechensbekämpfung im Nationalsozialismus und dierenziert in ihrem Beitrag die sozialen Gruppen, welche von Vorbeugungshaft betroen waren. Im anschließenden Aufsatz berichten Helga Amesberger und Brigitte Halbmayr von „arbeitsscheuen“ und „moralisch verkommenen“ Frauen, die als „Asoziale“ der NS-Verfolgung ausgesetzt waren. Die Autor*innen legen den Fokus auf die anhaltende Stigmatisierung dieser Frauen in der Nachkriegszeit. Daran schließt Gertraud Kremser an, die am Beispiel der Ersatzerziehung von Minderjährigen in Österreich über das Verhältnis von Behinderung und Asozialität schreibt. Der Beitrag von Elke Rajal befasst sich mit der gegenwärtigen politischen Bildung. Die Autorin zeigt hier die fehlende Thematisierung von „Asozialität“ in den Schulbüchern auf. Heike Rode nimmt den Dokumentarlm …dass das heute noch immer so ist – Kontinuitäten der Ausgrenzung (2016) zum Ausgangspunkt einer Auseinandersetzung. Die Verfolgung von „Asozialen“ während des Nationalsozialismus und die anhaltende Ausgrenzung von bestimmten Menschengruppen werden von der Autorin vor dem Hintergrund des gegenwärtigen Klassismus diskutiert. Ferdinand Koller greift in seinem Beitrag das aktuell im gesellschaftlichen Diskurs häug vorkommende Thema der „Bettler-Banden“ auf. Ins Zentrum stellt er die Verschärfungen gesetzlicher Bettelverbote und widmet sich damit zusammenhängenden antiziganistischen Vorstellungen. Tobias Neuburger und Christian Hinrichs widmen sich am Beispiel einer deutschen Großstadt der kommunalen Ausgrenzung von Rom*nja. Die beiden Autoren stellen die These einer neuen Grenzziehung auf: infolge des Abbaus territorialer Grenzen in Europa wird die Vertreibung und Segregation von Rom*nja nun auf kommunaler Ebene betrieben. Dies beschreiben die Autoren anhand der Vorgehensweise der Lokalpolitik bzw. des städtischen Wohnungsamtes. Die Belegungspolitik und Standortwahl von Obdachlosenunterkünften unterstützen die Exklusion der Betroenen. Martina Kempf-Gieng und Annika Rauchberger widmen sich in ihrem Beitrag dem Alltag von Bettler*innen in Wien. Dabei wird die Perspektive von Betroenen in den Mittelpunkt gestellt: Mit Hilfe von Erzählungen der Bettler*innen können die Lebensverhältnisse begrien, die erlebte Ausgrenzung nachvollzogen und der eingeschränkte Handlungsspielraum verstanden werden. Das Entstehen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit gegenüber Obdachlosen steht im Mittelpunkt von Susanne Gerulls Beitrag. Befeuert durch Politik und Medien erleben die Betroenen ständige gesellschaftliche Abwertung und Ausgrenzung. Judith Goetz befasst sich mit den zentralen Merkmalen von rechtsextremer Ideologie und Antiegalitarismus bis hin zum Sozialdarwinismus. Sie sieht die Notwendigkeit, die Forderungen der Leistungsgesellschaft in der politischen Bildung vor dem Hintergrund vorhandener struktureller Benachteiligungen zu bearbeiten. Mit dem Image von „Asozialität“ im Deutschrap und einer Analyse der Texte von Tobias Wiese schließt der Sammelband. Die nähere Beleuchtung zweier Artikel soll einen vertiefenden Einblick in das vorliegende Werk geben. Der Beitrag von Susanne Gerull beschäftigt sich mit dem Thema Obdachlosenfeindlichkeit in Deutschland. Betroene Menschen erleben kontinuierliche Ausgrenzung und Stigmatisierung. Gerull erwähnt den allgegenwärtigen Rückgang öentlicher Räume, die auch ohne Konsumzwang genützt werden können, sowie architektonische Maßnahmen an Stadtmöbeln zur Verdrängung von wohnungslosen Menschen (hostile architecture). Ebenso sieht sie bei Medien und Politik eine Mitverantwortung für die Etablierung des vorherrschenden Bildes, das häug Stereotypen folgt und dem entsprechend obdachlose Menschen individuell für ihre Situation verantwortlich sind. Gerull gibt vielfältige Anregungen, wie politische Bildungsarbeit mit dieser Thematik umgehen kann. Sie nennt Begegnungsräume, die Menschen real in Kontakt kommen lassen und Kommunikation auf Augenhöhe zulassen. Gerull schlägt ebenso eine Art „paradoxe Intervention“ vor: Student*innen und obdachlose Menschen sollen einander in einem geschützten Rahmen mit vorhandenen Vorurteilen konfrontieren und diese anschließend analysieren. Von ihr nicht erwähnt, jedoch im Sinne Gerulls gibt es in Wien bereits laufende und erwähnenswerte Projekte. Zum Beispiel das VinziRast-Lokal „mittendrin“, ein Speiselokal, welches ehemalig obdachlose Menschen in Anstellung nimmt und zu dem ein Wohnprojekt gehört, in dem ehemals obdachlose oder geüchtete Studierende in Wohngemeinschaften zusammenleben. Zu nennen sind auch die Stadtführungen der Supertramps und das neunerhaus Café. Im zweiten, von mir exemplarisch ausgewählten Beitrag von Gertraud Kremsner werden die Zusammenhänge von Behinderung und „Asozialität“ ergründet. Die Begrie „abweichendes Verhalten“ und „Devianz“ sind nach wie vor in der sonderpädagogischen Fachliteratur zu nden und vermitteln so das Bild, dass Menschen mit Behinderung eben nicht der Mehrheitsgesellschaft angehören. Die Autorin erklärt diesen Ausschluss mit dem Anderssein bzw. Anders-wahrgenommen-Werden. Gesellschaftliche Normvorstellungen, so macht Kremsner unmissverständlich klar, erzeugen Behinderung allerdings erst. Für Menschen mit Behinderung geht die historische Ausgrenzung lange zurück und hatte einen negativen Höhepunkt in der Verfolgung und Ermordung während des Nationalsozialismus. In Psychiatrien, Institutionen und Heimen erlebten die Betroenen nach 1954 weiterhin Ausgrenzung, Verwahrlosung und Gewalt. Aufgrund solcher Unterbringungen entstanden auch psychische Probleme, die als Heimsyndrom bekannt sind. Dieses ließ die Insass*innen in einer diagnostischen Spirale stagnieren: In Folge der Hospitalisierung und Heimunterbringung entstanden (weitere) psychische Erkrankungen und/oder Verhaltensauälligkeiten. Die Folgeerscheinungen der Heimunterbringung legitimierten und rechtfertigten in Folge dann wieder eben diese. In den 1960er Jahren formierte sich erstmals Widerstand gegen diese Praxis, der in weiterer Folge Reformprojekte ermöglichte. Abschließend hält Kremsner fest, dass nach wie vor Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, Behindertenhilfe und Sonderschulen gesellschaftliche Normen und Werte durchsetzen, die die Stigmatisierung behinderter Menschen befördern. Dies zeigt sich im Vorhandensein von Werkstätten, Sonderschulklassen und speziellen Wohnformen für Menschen mit Behinderung und somit deren latenter Separierung. Die Stigmatisierung begründet sich in der Annahme der notwendigen Betreuung und Erziehung in gesonderten Einrichtungen. Dies bestätigt sich in meinem beruichen Umfeld, in der Begleitung von Menschen mit Behinderung. Hier berichten mir ebenso Betroene und Angehörige den Mangel an inklusiven Unterstützungsangeboten in den von der Mehrheitsgesellschaft genützten Institutionen. Nicht zuletzt aufgrund der Vielfalt der Themen gelingt es den Herausgeber*innen, einen roten Faden im historischen Verlauf zu zeigen und an sozialpolitische Themen der Gegenwart anzuknüpfen. Kritisch werden Herrschafts- und Machtverhältnisse beleuchtet und gegenwärtige Normen hinterfragt. Dabei zeichnet sich der Sammelband durch die gute Nachvollziehbarkeit der Beiträge und seine Stringenz aus. Die versammelten Beiträge fordern dazu auf, Vorurteile sichtbar zu machen und zu reektieren. Schlüssig wird die historische Stigmatisierung in die Gegenwart transferiert und die Aktualität der Themen gezeigt. Dabei stellen die Herausgeber*innen bereits einleitend fest, dass im politischen und medialen Diskurs soziale (Rand-)Gruppen selten als „asozial“ bezeichnet werden. Die damit verbundenen Denkmuster sind jedoch latent noch vorhanden. Die Übernahme von Stereotypen und Mehrheitsmeinungen gilt es in Folge zu hinterfragen. Beeinussende Normvorstellungen und (unbewusste) Vorannahmen betreen ebenso Professionist*innen und können von ihnen in der Sozialen Arbeit reproduziert werden. Mit gezielten Schulungen, forcierter Auseinandersetzung und Forschungsarbeit gilt es dem entgegenzuwirken, denn blinde Flecken und Ausgrenzungsmechanismen müssen auch in der Sozialen Arbeit aufgedeckt werden. Abseits der empfohlenen Anwendung in der politischen Bildung sehe ich denitiv einen Praxisbezug und Nutzen des Bandes. Er besteht in der Sensibilisierung sowohl im Privaten als auch im Kontext der Berufsausübung in der Sozialen Arbeit. Die angeführten Projekte und Begegnungsräume mit (ehemaligen) obdachlosen Menschen sind ein positives Beispiel, doch sehe ich weiterhin den Bedarf zur Schaung von Trepunkten mit sogenannten Randgruppen. Auch außerhalb von Ballungsräumen gilt es, Räume und Projekte für Treen auf Augenhöhe zu schaen. Denn in der Begegnung liegt die Chance für ein Verstehen dierenter Lebensrealitäten und die Honung, historische Kontinuitäten zu durchbrechen.Verweise1 VinziRast mittendrin: https://www.vinzirast.at/projekte/vinzirast-mittendrin/.2 Supertramps: https://supertramps.at/.3 Neunerhaus Café: https://www.neunerhaus.at/konzepte/cafe/LiteraturverzeichnisEminger, Stefan/Langthaler, Ernst/Mulley, Klaus-Dieter (2021): Nationalsozialismus in Niederösterreich: Opfer-Täter-Gegner. Innsbruck: Studienverlag. Scherer, Klaus (1990): „Asozial“ im Dritten Reich. Die vergessenen Verfolgten. Münster: Votum.Nicole Gölsso201329@fhstp.ac.at