soziales_kapital
Brähler, Elmar/Decker, Oliver (Hg.) (2020): Autoritäre Dynamiken. Alte Ressentiments – neue Radikalität. Leipziger
Autoritarismus Studie 2020. Gießen: Psychosozial-Verlag.
” soziales_kapital, no. 26 (2022). Rubrik „Rezension“. St. Pölten.
Printversion:
http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/view/763/1428.pdf
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Soziale Innovation
26. Ausgabe Juni 2022
385 Seiten, 24,90 Euro
„Wer aus der Geschichte nichts lernt, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.“
George Santayana (1863–1952)
Die Leipziger Autoritarismus Studien zu rechtsextremen und politischen Einstellungen in Deutschland
wird seit 2002 regelmäßig durchgeführt und liefert damit auch langfristig vergleichbare Daten. Der
Untersuchungsgegenstand der Studie im Jahr 2020 waren neben der rechtsextremen Gesinnung auch
weitere, in unserer Gesellschaft tief verankerte Einstellungen. Die Haltung zur Demokratie, gruppenbezogene
Menschenfeindlichkeit (im speziellen Muslimfeindschaft, Antiziganismus, Antifeminismus, Antisemitismus
und Homophobie), soziale Dominanzorientierung und Gewaltbereitschaft und -akzeptanz sind einige der
untersuchten Dimensionen.
Seit ihrem Bestehen werden die Leipziger Autoritarismus Studien (LAS) von zwei Personen geleitet
und maßgeblich gestaltet: Elmar Brähler war bis 2013 Leiter der Abteilung für Medizinische Psychologie und
Medizinische Soziologie der Universität Leipzig. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen die Themenfelder
Psychodiagnostik, geschlechtsspezische Aspekte von Gesundheit und Krankheit, rechtsextreme
Einstellungen in Deutschland sowie soziale Ursachen psychischer Erkrankungen. Seit seiner Emeritierung
ist er Gastwissenschaftler an der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
an der Universitätsmedizin Mainz. Oliver Decker ist Professor für Sozialpsychologie und interkulturelle
Praxis an der Sigmund Freud Universität Berlin und Direktor des Else-Frenkel-Brunswik-Instituts sowie des
Kompetenzzentrums für Rechtsextremismus- und Demokratieforschung an der Universität Leipzig. Seine
Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Soziologie des Körpers und der Medizin, Methoden
der empirischen Sozialforschung, Rechtsextremismus, Autoritarismus, Demokratie, Migration sowie
Sozialtheorie zu Wandel und Antinomien in Gesellschaften der Moderne.
Für die repräsentativen Erhebung der LAS 2020, die durch das Meinungsforschungsinstitut USUMA
durchgeführt wurden, sind insgesamt 2.503 Menschen in der Bundesrepublik Deutschland befragt worden.
Die Auswahl der Teilnehmenden erfolgte als geschichtete Zufallsstichprobe. Unterstützt wurde die aktuelle
Studie von der Heinrich-Böll-Stiftung und der Otto Brenner Stiftung. Der Fragebogen bestand aus zwei Teilen:
Im ersten Teil wurden soziodemographische Daten, wie Alter, Geschlecht, Berufstätigkeit, Familienstand,
ermittelt und im zweiten Teil wurden inhaltliche Fragen zu rechtsextremen Einstellungen gestellt. Die
kontinuierlichen Erhebungen und die damit gewonnenen Daten und sozialpsychologischen Analysen der
Studienreihe stelle heute die Grundlage der Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus in Deutschland
dar.
Die LAS von 2020 gliedert sich in drei große Teile, wobei insbesondere die ersten beiden Drittel
detailliert Einblick in Ergebnisse der aktuellen Studie geben. Diese werden nicht nur als gesamtdeutscher
Wert dargestellt, sondern werden zusätzlich nach Ost und West unterschieden. Diese Dierenzierung macht
statistisch signikante Unterschiede sichtbar: Die Befunde zeigen unter anderem, dass etwa 25 Prozent
der ostdeutschen Befragten der Aussage teilweise zustimmen, dass „eine Diktatur im nationalen Interesse
eine bessere Staatsform ist“ (S. 37). In Westdeutschland sind es hingegen „nur“ 11,3 Prozent. Bei Fragen
zur Ausländer*innenfeindlichkeit, also der Abwertung und Aggression gegenüber einer konstruierten
Fremdgruppe, kommen weitere signikante Unterschiede zum Vorschein. Während knappe 27 Prozent
der ostdeutschen Befragten der Aussage zustimmen, dass „Ausländer*innen wieder in ihre Heimat
zurückgeschickt werden sollen, wenn Arbeitsplätze knapp werden“ (S. 43), sind es in Westdeutschland „nur“
17 Prozent. Die Dierenzierung zwischen Ost und West bietet dem*der Leser*in eine Fülle interessanter, aber
auch erschreckender Unterschiede.
Die Erhebungen und Auswertungen in den letzten 20 Jahren machen zugleich deutlich, dass
die rechtsextreme Einstellung kein Spezikum des Ostens ist, sondern bundesweit auftritt. So ist die
Muslimfeindschaft, die Homophobie, die Gewaltbereitschaft und der Antiziganismus im Osten wie im
Westen relativ gleich stark ausgeprägt. Hervorzuheben ist, dass Ungleichwertigkeitsvorstellungen seit 2002
abgenommen haben. Dies lässt sich beispielweise an den sinkenden Zustimmungswerten zu Aussagen wie
„Einige Gruppen sind einfach weniger wert als andere“ und „Unterlegene Gruppen sollten dort bleiben, wo
sie hingehören“ erkennen (vgl. S. 63). Auch zeigen die Ergebnisse der Studie, dass die große Mehrheit der
Befragten hinter der Demokratie als Idee steht (mehr als 90 Prozent aller Befragten) (vgl. S. 60). Anzumerken
ist hier jedoch, dass die Vorstellungen davon, was Demokratie ist oder sein sollte, oenbar stark variieren.
Zahlreiche Tabellen, Graken und Diagramme in den ersten beiden Dritteln der Publikation
unterstützen die Nachvollziehbarkeit der Studienergebnisse und der Kernaussagen der Analysen. Im letzten
Drittel bietet das Werk Einblick in die Entwicklung der Zivilgesellschaft. Themenbereiche wie die Gestaltung
demokratischer Alltagskulturen oder der Einsatz für einen Perspektivenwechsel in der Erinnerungskultur
werden dort behandelt und diskutiert.
Insgesamt zeigen die Studienergebnisse, wie allgegenwärtig autoritäre und rechtsextreme
Einstellungen in unserer Gesellschaft sind. Deutschland steht mit diesen Befunden nicht allein da: So
können rechtsextreme Parteien auch in Österreich Wahlerfolge verbuchen und das Bundesamt für
Terrorismusbekämpfung (BVT) hält in aller Deutlichkeit fest, dass „rechtsextremistische Aktivitäten eine
demokratiegefährdende Tatsache in Österreich dar[stellen]“ und „[e]in potenzielles Risiko für die Störung der
öentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit“ (BMI/BVT 2021: 16f.) sind. Die Ergebnisse der LAS verdeutlichen,
welche beständige Bedrohung rechtsextreme Einstellungen für eine oene, demokratische Gesellschaft
sind und wie wichtig die Radikalisierungsprävention, Deradikalisierung und Anti-Stigma-Arbeit sind.
Sozialarbeitende haben hier die Picht, auf eine inklusive Gesellschaft hinzuarbeiten und gegen
soziale Bedingungen vorzugehen, die soziale Exklusion, Stigmatisierung oder Unterdrückung begünstigen
(vgl. OBDS 2005). Die Kraft dieser menschenfeindlichen Einstellungen und Ideologien zu erkennen, ist eine
Voraussetzung dafür, ihnen wirksam entgegentreten zu können. Die Studie verdeutlicht, dass rechtsextreme
und rassistische Denkmuster keine Phänomene des „äußersten rechten Rands“ der Gesellschaft, sondern
in der sogenannten „Mitte der Gesellschaft“ weit verbreitet sind. Daraus lässt sich schließen, dass
Sozialarbeiter*innen in den unterschiedlichsten Handlungsfeldern aufgefordert sind, Maßnahmen zur
Bekämpfung von Rechtsextremismus zu setzen. Da rechte Einstellungen allerdings nicht nur aufseiten der
Klient*innen vorkommen, müssen wir auch als Bürger*innen unserer Gesellschaft einen Beitrag leisten, um
menschenrechtsfeindlichem und antidemokratischem Gedankengut nachhaltig entgegenzutreten. Denn
auch in Teams am Arbeitsplatz oder unter Studierenden sozialarbeitswissenschaftlicher Studiengänge treten
heute Akteur*innen mit rechtsextremen Einstellungen auf (vgl. Großmaß 2020: 28).
Von enormer Bedeutung ist das Verbünden und Solidarisieren mit Personen, die von diskriminierenden
und menschenverachtenden Anfeindungen betroen sind. Ein weiterer wichtiger Umgang mit extrem
rechten Persönlichkeiten ist die eigene Haltung. Eine menschen- und freiheitsrechtliche Positionierung sollte
oensiv nach außen vertreten werden. Dies gilt auch in Sozialen Medien. Erkennt man Desinformation oder
Hasspostings, sollten diese an Meldestellen
1
weitergeleitet werden, um gegen ihre Verbreitung beizutragen
(vgl. Amadeu Antonio Stiftung o.A.). Auf diese Weise ebenso wie mittels anderer Aktivitäten, wie etwa
Demonstrationen, kann die Durchsetzung zivilgesellschaftlicher Werte propagiert werden. Auch müssen
insbesondere durch Jugend-, Sozial- und Migrationspolitik sowie in der politischen Bildung bereits im
Schulalter Fertigkeiten vermittelt werden, die auf eine möglichst große soziale Integration unterschiedlicher
Menschen und Gruppierungen abzielen. Die spannende Lektüre von Brähler und Decker gibt Aufschluss
über die Notwendigkeit dieser (Präventions-)Maßnahmen und ist sowohl für Sozialarbeiter*innen als auch
für alle anderen Personen, die sich mit dieser Thematik beschäftigen möchten, absolut empfehlenswert.
Verweise
1
Informationen zu Melde- und Beratungsstellen in Österreich nden sich auf der Plattform oesterreich.gv.at: https://www.oesterreich.gv.at/themen/
leben_in_oesterreich/melde__und_beratungsstellen.html.
Literatur
Amadeu Antonio Stiftung (o.A.): Das können Sie gegen Rechtsextremismus und -populismus tun.
https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/rechtsextremismus-rechtspopulismus/was-kannst-du-tun-
rechtsextremismus/ (14.03.2022).
BMI/BVT – Bundesministerium für Inneres und Bundesamt für Terrorismusbekämpfung (2021):
Verfassungsschutzbericht 2020. https://www.dsn.gv.at/501/les/VSB/VSB_2020_Webversion_BF.pdf
(24.03.2022).
Großmaß, Ruth (2020): Wenn rechte Ideologien und politisch motivierte Gewalt näher rücken – professionelle
Überlegungen zu aktuellen Fragen. In: Buttner, Peter (Hg.): Soziale Arbeit und Rechtsextremismus. Berlin:
Lambertus, S. 28–39.
OBDS – Österreichischer Berufsverband der Sozialen Arbeit (2005): Ethikkodex Soziale Arbeit. https://www.
obds.at/wp/wp-content/uploads/2018/04/ethiccodex_ifsw_2.pdf (
29.05.2021).
Julia Mayerhofer
so191042@fhstp.ac.at
Brähler, Elmar/Decker, Oliver (Hg.) (2020): Autoritäre
Dynamiken. Alte Ressentiments – neue Radikalität.
Leipziger Autoritarismus Studie 2020.
Gießen: Psychosozial-Verlag.