soziales_kapital
Alexander Brunner.
“
Vom Nutzen und Nachteil der Soziologie für die Soziale Arbeit .
” soziales_kapital, no. 26 (2022).
Rubrik „Einwürfe/Positionen“. Wien. Printversion:
http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/
view/769/1417.pdf
_
Soziale Innovation
26. Ausgabe Juni 2022
Zusammenfassung
Der Beitrag setzt sich in essayistischer Form mit der Disziplin und Profession Sozialer Arbeit in ihrer
Beziehung zu Wissensbeständen von Bezugswissenschaften, mit einem Schwerpunkt auf Soziologie,
auseinander. Die leitende These hierbei ist, dass die Soziale Arbeit in Theorie und Praxis und disziplin- und
professionshistorisch ganz wesentlich auf Wissensbestände der Soziologie verwiesen ist. Für die weitere
Entwicklung der Sozialen Arbeit bedarf es jedoch einer klaren Zentrierung dieser Wissensbestände auf
Fragen, Problemstellungen und Gegenstandsbestimmungen der Sozialen Arbeit. Soziologisches Wissen,
auch wenn es vielfach als abstrakt und nicht unmittelbar praxistauglich wahrgenommen wird, kann als
wesentliches Fundament einer gesellschaftstheoretisch fundierten, kritischen Sozialen Arbeit von Nutzen
sein.
Schlagworte:
Soziale Arbeit, Disziplin, Profession, Soziologie, Bezugswissenschaften, Positionierungen
Abstract
The essay deals with the relation of the discipline and profession of social work to knowledge stocks of its
reference sciences, with a focus on sociology. The leading theses is that social work in theory and practice
is essentially related to the knowledge of sociology, both in terms of the history of the discipline and the
profession. However, the further development of social work requires a clear centering of this stock of
knowledge on questions, problems and object denitions of social work. Sociological knowledge, often
perceived as abstract and not directly applicable to practice, can serve as the basis of a social-theoretically
based, critical social work.
Keywords:
social work, discipline, profession, sociology, related sciences, positions
1
Intentionen des Essays
„Es kommt der Ausdruck vor, man wisse nicht, was man sich bei einem Begrie, der
gefaßt worden, denken solle; bei einem Begrie ist weiter nicht zu denken als der
Begri selbst.“ (Hegel [1830] 1991: 36)
Friedrich Nietzsche veröentlichte 1874 eine kleine Schrift mit dem Titel Vom Nutzen und Nachteil der Historie
für das Leben, in der er der Frage nachgeht, welchen Nutzen historisches Wissen für das menschliche
Leben hat. Dabei unterscheidet Nietzsche zunächst drei Zugänge zur Geschichte: monumentalisch,
antiquarisch und kritisch (vgl. Nietzsche [1874] 1991: 19.). Ihm geht es darum zu zeigen, dass, wie er es
ausdrückt, „ein Übermaß der Historie dem Lebendigen schade“ (ebd.: 18). Gleichzeitig will er den Nutzen
und die Nachteile – oder auch Gefahren – der jeweiligen Formen, Geschichte zu verstehen und zu betreiben,
aufzeigen. Inspiriert von dieser Reexion Nietzsches über die Geschichtswissenschaft seiner Zeit möchte
ich im Folgenden analog dazu der Frage nach dem Nutzen und Nachteil von Soziologie und soziologischem
Wissen für die Soziale Arbeit – als Wissenschaft und Profession – nachgehen. Mir geht es dabei nicht
um „lebensphilosophische“ Überlegungen, wie sie Nietzsches Text kennzeichnen, wiewohl die Trennung
zwischen Denken und Leben wohl auch, zumindest für mich, eine künstliche ist und die Beschäftigung
mit Wissenschaften Einuss auf die Lebenswelt und den Alltag hat. Darauf wird noch Bezug zu nehmen
sein, denn nicht wenige Studierende der Sozialen Arbeit berichten von den persönlichkeitsbildenden und
politisierenden Aspekten und Erfahrungen des Studiums.
Soziale Arbeit als transdisziplinäre Disziplin und Profession, wie es immer wieder heißt, ist in ihrem Kern,
wenn man der genannten Charakterisierung zustimmt, auf das Wissen sogenannter Bezugswissenschaften
angewiesen. Warum fällt die Wahl hier gerade auf die Bezugswissenschaft Soziologie, und nicht etwa
Pädagogik oder Psychologie? Eine erste Antwort könnte sein – dies zeigt die Beobachtung als Lehrender
der Sozialen Arbeit –, dass der Zugang und die damit verbundene Frage, was soziologisches Wissen
für die Praxis bringen soll, wohl nicht nur Studierende vor Herausforderungen stellt. Der zu kritisierende
Utilitarismus und Pragmatismus hinter dieser Aussage und Haltung ist kein grundsätzliches Argument gegen
die berechtigte Frage nach der Bedeutung und dem Sinn von bestimmten Wissensformen für die Theorie
und Praxis der Sozialen Arbeit. Dem steht gegenüber, dass sich, bei allen Schwierigkeiten der Aneignung
dieses Bezugswissens, gute Gründe und Argumente anführen lassen, warum diese Wissensform für Soziale
Arbeit wesentlich ist und sie im Kern betrit.
2
Soziale Arbeit und Soziologie – warum es soziologisches Wissen braucht
Ein Kollege und Soziologe, der unter anderem auch viele Jahre an der FH Campus Wien Soziologie und
Empirische Sozialforschung gelehrt hat, meinte einmal in einem Pausengespräch, die Soziologie sei
überhaupt die zentrale Bezugswissenschaft der Sozialen Arbeit. Er begründete dies damit, dass in der
Begriichkeit Soziale Arbeit zwei zentrale Begrie der Soziologie stecken: das Soziale – und Soziologie
ist ja die Wissenschaft vom Sozialen – sowie Arbeit, ebenfalls in der Tradition des Marxismus und auch
darüber hinaus ein zentrales Thema der Soziologie. Dieser Standpunkt hat etwas für sich und natürlich
kann man, wie immer in wissenschaftlichen Auseinandersetzungen, auch einiges dagegen einwenden.
Es ist aber oensichtlich, dass Soziale Arbeit als Disziplin und Theorie nicht ohne Gesellschaftsbilder
und Gesellschaftstheorien, wie sie von Theodor W. Adorno, Niklas Luhmann oder Ulrich Beck entwickelt
wurden, auskommt (vgl. exemplarisch Dollinger/Kessl/Neumann/Sandermann 2012). Viele bedeutende
Sozialarbeitswissenschaftler*innen kommen aus der Soziologie. Zugespitzt gefragt: Was bliebe historisch
und inhaltlich von gegenwärtigen Theorien der Sozialen Arbeit nach der Subtraktion ihrer soziologischen
Bezüge übrig? Systemtheoretische Soziale Arbeit ohne Niklas Luhmann, Lebenswelt- und Alltagsorientierung
ohne Alfred Schütz und Erving Goman, Professionstheorie ohne Ulrich Oevermann und Fritz Schütze,
Kritische Soziale Arbeit ohne kritische Gesellschaftstheorie? Die Reihe ließe sich noch länger fortsetzen.
Es würde der Sozialen Arbeit als Disziplin wohl sehr zum Nachteil gereichen, wenn diese
Wissensbestände nicht rezipiert und integriert worden wären. Das gilt vermittelt auch für die Profession
und ihre fachliche Praxis. Gewisse Spielarten der Soziologie forcierten historisch gesehen eine Art
angewandte Soziologie, man denke etwa an die heute beinahe völlig vergessene Aktionsforschung, die
in Formen der Praxisforschung bzw. der partizipativen Forschung weitergeführt wurde. Gerade qualitative
und rekonstruktive Zugänge der Sozialforschung bewegten sich historisch gesehen eng im Umfeld Sozialer
Arbeit. So meinte Schütze, der für die Professionsentwicklung und die Entwicklung des Ansatzes einer
Rekonstruktiven Sozialen Arbeit Wesentliches beigetragen hat, zuletzt rückblickend in einem Interview:
„[T]ragisch ist, dass sich irgendwann Soziologie und Sozialarbeit gespalten haben, dass das irgendwann
passiert ist und den Soziologen sozusagen ihre Profession genommen worden ist.“ (Köttig/Völter 2015: 45)
Auch wenn man Schützes Auassung nicht teilt, lässt sich ein weiterer Nutzen von Soziologie für die
Praxis Sozialer Arbeit darin sehen, dass Soziale Arbeit als eine Profession am Sozialen arbeitet. Dies tut sie
in einer vielfältigen Art und Weise auf der Ebene der Interaktionen (Beziehungen), Gruppen, Institutionen und
Organisationen und in unterschiedlichen Teilsystemen unserer Gesellschaft (Gesundheit, Bildung, Recht
etc.). Handlungsformen wie Fallarbeit, Beziehungsarbeit oder Gemeinwesenarbeit weisen im Übrigen auch
begriich in diese Richtung. Damit, wie Hans Thiersch es einmal formuliert hat, Soziale Arbeit „zu jener
Form von Sozialer Arbeit führt, die leisten kann, was ihr Geschäft ist: einen Beitrag zur Gestaltung des
Sozialen“ (Thiersch 1996: 19, Herv.i.O.), muss sie dieses Soziale begriich und gegenständlich in Theorie
und Praxis fassen.
Aus den bisherigen Ausführungen könnte geschlossen werden, die Soziale Arbeit sei als Disziplin nicht
mehr als ein Anhängsel der Soziologie verbunden mit den Wissensbeständen weiterer Bezugswissenschaften.
Auf gut Wienerisch: eine Melange aus unterschiedlichen Wissensbeständen ohne eigenen Kern. Um sich
noch als wissenschaftliche Disziplin zu retten, wird dann unter dem Label transdisziplinär die Flucht nach
vorne angetreten. Das ließe sich auf der Handlungsebene gut mit Albert Scherrs Charakterisierung von
Sozialer Arbeit als „spezisch unspezischer Hilfe“ (Scherr 2005: 20) verbinden. So sympathisch und hilfreich
dieses Reframing eines vielfach als Dezit wahrgenommenen Merkmals von Sozialer Arbeit auch ist, zur
Stärkung der eigenen Position in Theorie und Praxis trägt es nicht immer bei. Also eine starke Fundierung
in einer Bezugswissenschaft und damit eine entsprechende Absicherung plus der Anerkennung und damit
Nutzenmaximierung? Und weil es mit der Pädagogik nicht funktioniert, mit der Soziologie? Weil sie dem
nähersteht, was Gegenstand Sozialer Arbeit ist?
3
Soziale Arbeit und die Emanzipation von bezugswissenschaftlichen Vormündern
Die vorhergehenden Ausführungen wurden bewusst etwas polemisch formuliert, wollen aber auf eine
Problematik aufmerksam machen, die Josef Bakic unter dem Titel „Soziale Arbeit als eigenständige
Profession. Im Spannungsverhältnis von ‚Allzuständigkeit‘ und Spezialisierung“ (2020) thematisiert hat.
Soziale Arbeit zeichnet sich noch mehr als andere Disziplinen und Professionen durch einen beharrlichen
Selbstzweifel aus, ob man denn (schon) eine (eigenständige) Disziplin sei oder auch eine Profession, eine
Semi-Profession oder einfach ein Beruf. Diese Thematiken füllen zahlreiche Bücher. Es ist aber nicht nur ein
Problem, das Theoretiker*innen der Sozialen Arbeit umtreibt, sondern auch Studierende und Praktiker*innen.
Dies hat unter anderem mit der Vielfalt von Handlungsfeldern zu tun und verdankt sich auch dem Umstand,
als Praktiker*in der Sozialen Arbeit auf unterschiedlichste Wissensbestände angewiesen zu sein. Die Frage,
„Was? Soziale Arbeit kann man studieren?“, dürfte wohl zahlreichen Studierenden als eine ärgerliche und
mit Aufklärungsarbeit verbundene Erfahrung im Alltag begegnen.
Für die Disziplin Soziale Arbeit hat zuletzt die Soziologin Hemma Mayerhofer, die unter anderem im
Bereich Sozialer Arbeit forscht, festgehalten:
„Ab einem gewissen Zeitpunkt langweilt die disziplinäre Nabelschau allerdings
vorrangig, spätestens dann gilt es, die Arbeitshypothese zu akzeptieren, eine
Disziplin zu sein – und einfach so zu handeln wie eine Disziplin. Und das heißt vor
allem auch: selbstbewusst als Disziplin aufzutreten. Ich gehe davon aus, dass Soziale
Arbeit auch in Österreich diesen Zeitpunkt bereits erreicht hat.“ (Mayerhofer 2020:
235–236)
Dieses Argument, das von einer Arbeitshypothese ausgeht, wäre natürlich empirisch zu prüfen,
beispielsweise indem entsprechende Kriterien deniert werden, anhand derer beurteilt wird, ob sich Soziale
Arbeit in Österreich als Disziplin etabliert hat. Gleichzeitig richtet sich die Aussage wohl auch gegen einen
Selbstzweifel innerhalb der Sozialen Arbeit, der in der Sache nicht weiterhilft. Noch mal konstruktivistisch
und pragmatisch gewendet, im Sinne von doing discipline: Nicht warten auf Anerkennung von außen, z.B.
der Wissenschaftscommunity, sondern als Disziplin handeln und sie dadurch hervorbringen!
Soweit zur Frage des Selbstbewusstseins der Disziplin. Auch Bakic plädiert für mehr Selbstbewusstsein,
das mit einer Emanzipation von „bezugswissenschaftliche[n] Vormünder[n]“ (Bakic 2020: 84) einhergeht.
Natürlich sind Sozialarbeiter*innen als Professionist*innen in ihrem Handeln auf fundiertes Wissen und
Können angewiesen.
„[D]ieses wird wohl auch in den sogenannten Bezugswissenschaften erfasst, muss
aber für Belange Sozialer Arbeit aufbereitet und vermittelt werden. Demzufolge
erscheint es wohl sinnvoller, Studierende der Sozialen Arbeit weniger als bisher in alle
Wissenschaftsbereiche einzuführen, als direkt mit in die Sozialarbeitsdiskussionen
transferierten Themenstellungen zu konfrontieren, die dann eben nicht mehr z.B.
Spezielle Soziologien heißen, sondern die Phänomene Soziale Ungleichheit und
Sozialer Ausschluss direkt benennen.“ (ebd.: 87)
Bezugswissen, im Beispiel von Bakic aus der Soziologie, wird nicht mehr fundierend für die Disziplin
und Profession angesehen, sondern vielmehr spezisch auf eine theoretische oder praktische (fachliche,
methodische) Fragestellung hin reektiert, integriert und genutzt.
4
Nutzen und Nachteile der Soziologie für Soziale Arbeit – allgemein
Kommen wir aber zurück zur Ausgangsfrage, welchen Nutzen bzw. Nachteil soziologisches Wissen für die
Soziale Arbeit hat. Soziologisches Wissen, entsprechende Begriichkeiten und Konzepte sind zunächst
nichts, was erst mit dem Studium – als unverständlich und in abstrakt wahrgenommener Sprache –
kennengelernt wird. Wie mit anderen Wissensbeständen auch ist das Alltagsbewusstsein bzw. -wissen – die
Lebenswelt (auch ein zunächst philosophischer und dann für die Soziologie adaptierter Begri) – in modernen
Gesellschaften von soziologischem Wissen durchdrungen. Mediale Berichterstattung, Alltagsgespräche
und fachliche Gespräche greifen ständig auf Begrie wie Norm, (soziale) Rolle, Institution, Organisation,
Interaktion, (soziales) Handeln, soziale Ungleichheit, Milieu, Schicht und nicht zuletzt Gesellschaft zurück.
D.h. wir bewegen uns ständig, auch wenn nicht weiter reektiert, im Biotop soziologischen Denkens und
Wissens. Mit Jürgen Habermas könnte man auch von einer Kolonialisierung der Lebenswelt und des
lebensweltlichen Wissens durch wissenschaftliches Wissen sprechen. Dies gilt nicht nur für die Soziologie.
Jede Person, die vom Unbewussten, vom Selbst oder Identität spricht, greift auf in das Alltagsverständnis
eingewandertes psychologisches Wissen zurück. Ein Nutzen oder auch eine soziale Tatsache (wiederum ein
soziologischer Grundbegri) könnte also sein, dass moderne Menschen in ihrer Selbstauslegung und in der
Auslegung der Welt auf soziologische Wissensbestände – wenn auch vielfach unreektiert – zurückgreifen.
Diese Entwicklungen können als Vor- oder Nachteil interpretiert bzw. bewertet werden. Entsprechende
Diskussionen dazu gibt es seit den 1960er Jahren. Was von Studierenden zum Teil als persönliche Erfahrung
oder Praxiswissen gegen wissenschaftliche Erkenntnisse ins Feld geführt wird, würde so etwas wie ein reines
lebensweltliches Wissen, allein aus persönlich gewonnenem und traditionell übermitteltem Alltagswissen
voraussetzen. Zumindest in modernen Gesellschaften kann man nicht mehr davon ausgehen und das
auch beklagen. Das Eindringen von verwissenschaftlichtem Wissen und wissenschaftlichen Begrien in die
Umgangssprache, vermittelt über Bildungssprache, kann, wie wiederum Habermas in einem heute noch
lesenswerten kleinen Aufsatz aus den späten 1970er Jahren zeigt, zu einem Kippeekt führen. Er macht dies
am Beispiel von struktureller Gewalt und mit Blick auf Familie fest:
„Sobald ein solcher Begri über die Bildungssprache in das Alltagsbewußtsein von
sozialwissenschaftlichen Laien eindringt, kann er zu einer Umorientierung in der
Wahrnehmung und der Interpretation eines wichtigen Ausschnittes ihrer Lebenswelt
führen. Es kann zu einem Kippeekt kommen, der das Bild von einer heilen Familie in
sein Gegenteil verkehrt. Indem wir einen Ausdruck, der auf theoretische
Zusammenhänge verweist, auf bisher naiv verstandene Lebensverhältnisse
anwenden, gewöhnen wir uns daran, diesen Teil unserer Umwelt anders zu
interpretieren, mit anderen Augen zu sehen.“ (Habermas 1978: 333, Herv.i.O.)
Vielleicht geht es aber in wissenschaftlich basierten (Aus-)Bildungsgängen wie der Sozialen Arbeit genau
darum. Dies wird nicht immer nur als Bereicherung, sondern auch als Irritation wahrgenommen, weil es
bisheriges, durch Alltagswissen und persönliche Erfahrung gewonnenes Wissen in Frage stellt. Es macht
auch so manche nicht nur kognitive, sondern emotionale Widerstände gegen solche Bildungsprozesse bei
Studierenden zumindest teilweise verständlich.
Kognitive und emotionale Widerstände bezüglich sozialwissenschaftlichen Wissens liegen im
deutschsprachigen Raum wohl auch am wissenschaftlichen Jargon. Die sozialwissenschaftliche Sprache
ist nicht nur abstrakt, sondern verwendet vielfach Begrie, die ihren Ursprung im Latein und Griechisch
der Antike haben, oder neuzeitliche Kunstwörter aus diesem Sprachbestand darstellen (Kommunikation,
Interaktion, Soziologie, Normalität, System, Struktur, Medium, Biograe, qualitativ, quantitativ etc.). Man
könnte dafür eintreten, einfach vertrautere deutschsprachige Begrie zu verwenden, was durchaus möglich
wäre und auch wünschenswert, wenn man so manche sozialwissenschaftliche Publikation ansieht. Jedoch
ist es nicht so einfach, denn der Begrisumfang und die Bedeutung von z.B. Kommunikation decken sich
nicht einfach mit Miteinander-Sprechen oder Gespräch, um nur zwei mögliche Übersetzungen ins Spiel zu
bringen. Insofern ist bei aller Kritik an wissenschaftlicher Sprache auch ein gewisses Maß an Aneignung und
Verwendung von Fachsprache notwendig, insbesondere für Sozialarbeiter*innen.
Studierende artikulieren hier teilweise Unbehagen, da die Aneignung und Verwendung von
wissenschaftlichem Vokabular als Auorderung, mit Adressat*innen mittels wissenschaftlicher Termini zu
sprechen, gelesen wird. Das ist damit aber nicht gemeint. Es ist gerade Aufgabe von Professionist*innen,
dieses Vokabular und das dahinterliegende Wissen entsprechend der Möglichkeiten der Nutzer*innen
und im Sinne der stellvertretenden Deutung (Oevermann) zu übersetzen und anzubieten. In disziplinären,
professionellen und interprofessionellen Diskursen aber auch im Kontakt mit Fördergeber*innen, der Politik
und Öentlichkeit dagegen ist ein fachliches Sprechen sinnvoll und notwendig, um Anliegen der Sozialen
Arbeit angemessen zu artikulieren. Dass sich Wissenschaft nicht unbedingt einer esoterischen Sprache
bedienen muss, kann man wohl am Beispiel einiger deutschsprachiger und noch viel mehr bei Autor*innen
aus dem angloamerikanischen Bereich ersehen. Dies hat mit unterschiedlichen Zugängen zu Wissenschaft
und der jeweiligen Einbettung des Wissenschaftssystems im gesamtgesellschaftlichen Kontext zu tun.
Warum also soll man Menschen, die im Sinne einer handlungsorientierten Sozialwissenschaft für eine Praxis
studieren, mit abstrakten Begrien und einer schwer verständlichen Sprache quälen?
Abseits der Sprachverwendung bleibt die Frage bestehen, welchen Nutzen soziologisches Wissen für eine
Praxis wie jene der Sozialen Arbeit bieten kann. Sollte man nicht viel mehr psychologisches Wissen oder
Können vermitteln, das man unmittelbar anwenden kann? Soziologie ist nun sicherlich nicht so praktisch
bzw. anwendungsorientiert wie so manches Wissen aus anderen Bezugswissenschaften, die sich im
Übrigen auch nicht auf Praxiswissen reduzieren lassen. Hier müsste man überhaupt festhalten, dass es gar
keine Praxis ohne Theorie gibt und umgekehrt (vgl. dazu Brunner 2020), aber das ist ein anderes Thema.
Soziologie kann aber, zumindest für die Soziale Arbeit, wie ich sie verstehe und vertrete, notwendiges und
wichtiges Deutungs- und Orientierungswissen bieten. Weiterhin hilft sie den teilweise verengten Blick in
der Profession auf das Individuelle hin zum Allgemeinen zu schärfen. Genau darin sehe ich unter anderem
den Nutzen sozialwissenschaftlichen Wissens – ob aus Soziologie, Politikwissenschaften, Ökonomie – für
angehende Sozialarbeiter*innen und Praktiker*innen. Es geht nicht nur darum, den einzelnen, individuellen
Fall in seiner Besonderheit zu verstehen. Es geht auch darum, zu verstehen, in welcher Beziehung das,
was sich in diesem einzelnen, besonderen Fall und der spezischen Situation zeigt, zum Allgemeinen steht.
Dazu bietet die Soziologie über ihre Theorien, Begriichkeiten und empirische Forschung Erklärungen als
auch Orientierungs- und Deutungswissen an. Damit ermöglicht sie Antworten auf Fragen danach, in welcher
Gesellschaft wir leben, wie diese aufgebaut ist und funktioniert (vgl. dazu auch Scherr 2015: 181–183).
Der Nutzen liegt daran anschließend darin, nicht in die Fallen der Psychologisierung und
Pädagogisierung von sozialen Problemen zu tappen, wofür Soziale Arbeit als Disziplin und Profession
immer wieder anfällig war und auch heute zum Teil ist. Nachteilig dagegen ist, dass eine zu hohe Dosis an
Gesellschaftsanalyse und -kritik und sozialen Tatsachen nicht nur bei Studierenden zu Erschöpfung und der
Frage führt: Was kann man angesichts der Negativität und der objektiven gesellschaftlichen Verhältnisse,
die sich dem Individuum und seinem Zugri entziehen, überhaupt noch tun? Kann man überhaupt etwas
verändern? Die Auseinandersetzung mit soziologischen Wissensbeständen soll eine Sensibilisierung
bezüglich sozialer Tatbestände ermöglichen, und zwar über das Individuelle hinaus, um das Eingebunden-
Sein und die soziale Bedingtheit des Individuellen zu verstehen. Wenn diese Übung in eine gefühlte
Handlungsunfähigkeit umschlägt, hat sie jedoch, zumindest aus meiner Sicht, ihren Sinn verfehlt.
5
Soziologische Gegenwartsdiagnosen und Nutzen für die Soziale Arbeit –
exemplarisch
bAbschließend möchte ich noch eine soziologische Gegenwartsdiagnose aufnehmen und das Thema
Nutzen und Nachteil anhand der Themen Kollektivismus und Individualismus, auch in politischer Hinsicht,
aufgreifen. Das Individuelle und der Individualismus sind in den letzten Jahrzehnten für viele zu einer Art
Alltagsreligion geworden. Inmitten einer Massengesellschaft möchte jede*r etwas ganz individuelles und
besonderes sein. Die sogenannte vertikale Dierenzierung, also zwischen unterschiedlichen Klassen und
Schichten im Sinne von oben und unten, wurde in den letzten 40 Jahren zunehmend durch eine horizontale
Dierenzierung ersetzt. Diese Entwicklungen haben positives hinsichtlich der Wahrnehmung und Anerkennung
von Identitäten von Individuen und Gruppen, die nicht den vorherrschenden Normalitätskonstruktionen
entsprechen, bewirkt. Gleichzeitig erschweren die Abgrenzung und Betonung von Unterschieden
politisch teilweise die Kollektivierung von Interessen und Prozesse der Solidarisierung. Individualismus,
Selbstverwirklichung und Selbstentfaltung haben, wenn man entsprechenden Gesellschaftsdiagnosen folgt,
die alte Norm der Selbstdisziplin abgelöst. Spätestens mit den „1990er Jahren [ist] Selbstentfaltung zur
neuen Norm spätmoderner Subjektivität geworden“, schreibt Andreas Reckwitz. Diese hat „sich dabei mit
den Normierungen des psychologischen Komplexes, dem Konsumentenkapitalismus, den Anforderungen
der postindustriellen Arbeitswelt und den Strukturen der digitalen Aufmerksamkeitskultur verknüpft“
(Reckwitz 2019: 204). Ein schöner Soziologensatz, der nach weitreichenden Erläuterungen ruft, die hier
jedoch den Rahmen sprengen würden. Nur so viel: Der damit verbundene Individualismus ist selbst ein
gesellschaftliches Produkt. Aber nicht nur er, sondern auch das Individuum selbst.
Schon ein Urvater der modernen Soziologie, Karl Marx, hielt fest: „Der Mensch ist im wörtlichsten
Sinn ein ζῷον πολιτικόν [zoon politikon – gesellschaftliches Wesen], nicht nur ein geselliges Tier, sondern
ein Tier, das nur in der Gesellschaft sich vereinzeln kann.“ (Marx [1857] 2018: 345) Reckwitz bringt diese
Position in moderner Fassung auf den Punkt, wenn er schreibt:
„Das Individuum ist keine autonome Einheit, sondern ein gesellschaftliches Produkt. Erst in der Gesellschaft
wird aus dem Amalgam aus körperlichen und darin auch psychischen Grundeigenschafen des Menschen
ein Subjekt: ein gesellschaftlich vollwertiges Wesen, das im Idealfall jene Kompetenzen, Wunschstrukturen
und Mentalitäten verinnerlicht, welche die jeweilige Gesellschaftsordnung voraussetzt.“ (Reckwitz 2019:
206–207, Herv.i.O.)
Soziologie denkt das Menschliche vom Sozialen her, das Soziale hat Vorrang vor dem Individuellen.
In politischer Hinsicht und mit Blick auf die eigenen Zugänge zur Sozialen Arbeit könnte ein Nutzen
soziologischer Denkweisen, Erkenntnisse und Wissensbestände sein, der gegenwärtigen Ideologie des
Individuums und seiner Selbstverantwortung in der Disziplin und Profession der Sozialen Arbeit nicht auf
den Leim zu gehen. Und zwar ohne sich durch die Verhältnisse paralysieren zu lassen und ohne zu viel zu
versprechen, wie Bob Pease zuletzt für eine radikale bzw. kritische Soziale Arbeit festgehalten hat:
„All books on radical and critical social work conclude with some statements of
optimism and hopefulness in sociopolitical contexts that do not inspire such optimism.
While we must avoid the paralysis by analysis that understandings of globalisation,
international capitalism and neoliberalism sometimes invoke, we must also be careful
not to promise too much by articulating models of critical practice that fail to
acknowledge let alone address these obstacles to social transformation.” (Pease
2009: 197)
Konkret bedeutet das, angesichts der neoliberalen Ideologie des autonomen Individuums, die den
gesellschaftlichen Charakter und die gesellschaftliche Abhängigkeit menschlichen Lebens ausblendet, den
Blick auf das Soziale zu richten. Damit verbunden ist ein soziologischer Blick auf die ebenfalls neoliberal
forcierten Themen Selbstverantwortung und Selbstbestimmung in der Sozialen Arbeit, die die gesellschaftlichen
Voraussetzungen und kollektive Einbettung von Selbstverantwortung und Selbstbestimmung negieren und
die Last der Bewältigung sozialer Verwerfungen und Widersprüche dem/der Einzelnen aufbürden. Sich
davon im Denken und Handeln zu distanzieren, ist nicht selbstverständlich, da weder Soziale Arbeit noch
Sozialarbeiter*innen selbst außerhalb oder gegenüber der Gesellschaft stehen. Wer dies glaubt, ist schon
mitten in der liberalen Ideologie der trennscharfen Gegenüberstellung von Individuum und Gesellschaft.
Wir sind als Sozialarbeitswissenschaftler*innen, Lehrende, Praktiker*innen und Studierende jedoch selbst
Teil dieser gesellschaftlichen Entwicklungen. Eine gesellschaftskritische, soziologische Perspektive kann in
dieser Situation helfen, sich reektierend zumindest partiell dazu in Distanz zu setzen. Das wäre ein konkreter
Nutzen, den die Soziologie angesichts des politischen Mainstreams und der säkularen Alltagsreligion des
Individualismus für Soziale Arbeit aktuell erbringen kann.
Verweise
1
Dieser Versuch verdankt sich der Lehre im Fach „Spezielle Soziologien“ an der FH Campus Wien und entsprechenden Diskussionen mit Studierenden
sowie dem Bedürfnis, diese Diskussionen, wenn auch nur essayistisch, im größeren Rahmen der Disziplin- und Professionsentwicklung zu reektieren.
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Über den Autor
FH-Prof. Mag. Dr. Alexander Brunner
alexander.brunner@fh-campuswien.ac.at
Studium der Pädagogik, Psychologie, Soziologie und Geschichte, Lehre und Forschung an der FH
Campus Wien im BA Soziale Arbeit, Koordinator der AG Körper-Leib und Soziale Arbeit in der OGSA.
Forschungsschwerpunkte: Theorien Sozialer Arbeit, Leib-Körper und Soziale Arbeit sowie Soziale Arbeit
und Digitalisierung.
Vom Nutzen und Nachteil der Soziologie für die
Soziale Arbeit
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Alexander Brunner