soziales_kapital
Martin Lu Kolbinger.
“
Editorial Online-Journal soziales_kapital.
” soziales_kapital, no. 26 (2022). Rubrik „Editorial“.
Salzburg. Printversion:
http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/view/770/1432.pdf
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Soziale Innovation
26. Ausgabe Juni 2022
Der Themenschwerpunkt „Soziale Innovation“ in dieser 26. Ausgabe von soziales_kapital knüpft an die
letzte Ausgabe vom März 2021 an, bei der das Thema „Soziale Arbeit & Krise“ im Zentrum stand. Krisen
können als schwierige Lagen, Situationen und Zeiten, aber immer auch als Höhe- und Wendepunkte
einer gefährlichen gesellschaftlichen Entwicklung oder einer kritischen Situation umschrieben werden.
Krisen beschleunigen allgemein den sozialen Wandel. Und spätestens hier zeigt sich die Aufgabe Sozialer
Innovation: Der schnelle, aktuell sogar teils disruptive gesellschaftliche Wandel soll gestaltet und in eine
aus Sicht der Menschenrechte, des Gemeinwohls und der Nachhaltigkeit sozial verträgliche, gerechte und
gelingende Richtung gelenkt werden.
Historische Beispiele machen deutlich, wie gerade in sozialen Krisen besondere Notwendigkeiten
und Herausforderungen entstanden und wie diese bewältigt werden konnten: Die Arbeiter*innenbewegung
im 19. Jahrhundert als Antwort auf fortschreitende industriekapitalistische Produktionsweisen versuchte
z.B. über die Gründung von Gewerkschaften, Arbeiter*innen-Vereinen und Parteien die soziale Lage zu
verbessern und dabei politische Rechte zu erlangen. Der Feminismus konzentriert gesellschaftliche,
politische und akademische Akteur*innen und hinterfragt die bestehende Geschlechterordnung und tritt für
Gleichberechtigung, Menschenwürde und Selbstbestimmung ein. Es waren und sind noch immer problem-
und krisenbezogene Zusammenschlüsse rund um die Bedürfnisse benachteiligter Personengruppen,
die bestehende soziale Verhältnisse hinterfragen und sich dafür einsetzen, dass diese sich aus der
wahrgenommenen Krise heraus hin zum Besseren entwickeln.
Deutlich wird an diesen historischen und weiteren aktuellen zivilgesellschaftlichen Bestrebungen,
dass die Weiterentwicklung gesellschaftlicher Verhältnisse ein hochkomplexer, in sich verschachtelter,
immer wieder zu revidierender und neu auszurichtender Vorgang mit vielen verschiedenen kleineren und
größeren Schritten ist, an dem ganz unterschiedliche Personen und Personengruppen in unterschiedlichen
Funktionen beteiligt sind, sein können oder wenigstens sein sollten. In gewisser Weise greift der neuere
Begri der Sozialen Innovation historische Vorbilder auf: Es geht auch heute darum, Wege aus sozialen Krisen
zu skizzieren und diese aktiv voranzutreiben. Soziale Problemlagen werden erkannt und es wird der Versuch
unternommen, die Funktionssysteme der Gesellschaft(en) in Richtung entsprechender Problemlösungen
zu beeinussen. Nicht immer nur „mehr des Immergleichen“, sondern alternative – eben innovative – Wege
der gesellschaftlichen Entwicklung wollen beschritten werden. Während im 17. Jahrhundert Religionen
noch den Glaubensgrundsatz verteidigten, Gott habe „die beste aller möglichen Welten“ für die Menschen
erschaen, erkennen Sozialinnovator*innen heute die soziale Welt und die gesellschaftliche Zukunft als
prinzipiell gestalt- und beeinussbar an. Aus der These „Alles ist gut!“ wird die These „Alles wird gut!“ bzw.
„Alles kann gut oder wenigstens besser werden, wenn wir uns dafür entsprechend einsetzen!“
Inzwischen sind vielfältige Initiativen der Sozialen Innovation entstanden. Barack Obama förderte
ein „Oce of Social Innovation and Civic Participation“, die EU inkludiert den Begri in diversen
Förderprogrammen und auf nationaler und regionaler Ebene sucht eine wachsende Gruppe von Expert*innen
und Praktiker*innen immer bessere Antworten auf gesellschaftliche Fragen. Frances Westley deniert den
Begri Soziale Innovation als
„jede Initiative (Produkt, Prozess, Programm, Projekt oder Plattform), welche
die bestimmenden Routinen, Ressourcen- und Entscheidungsüsse oder
Überzeugungen des weitgefassten sozialen Systems, in das sie eingeführt wird,
infrage stellt und im Laufe der Zeit zu seiner Veränderung beiträgt.“ (Waterloo Institut
for Social Innovation and Resilience o.J.)
Ich möchte hinzufügen: Die normative Ausrichtung einer Sozialen Innovation ist entscheidend dafür,
ob sie tatsächlich die angestrebten Ziele erreichen kann. Nachhaltige, Wir-orientierte und global oene
Zukunftshorizonte werden sich gegen rein materialistischen, Ich-orientierten und nach außen abgeschotteten
Innovationen durchsetzen müssen.
Für das komplexe Gefüge Sozialer Innovation nden sich in dieser Ausgabe des Journals einige
spannende und fachlich gewinnbringende Artikel. Zum Themenschwerpunkt begibt sich Maria Anastasiadis
auf Spurensuche in Sozialen Unternehmen, die Arbeit, Beschäftigung und Qualikation für benachteiligte
Personen schaen, und ndet Hinweise für die bereits stattndende Entwicklung bedarfsorientierter
Lösungen im je unterschiedlichen Kontext. Sophie Mayer widmet sich „Fernseh-Vorführungen der Armut“ und
damit problematischen medialen Darstellungen von Armutsphänomenen als möglichem Anlass für Soziale
Innovationen, die weniger ausgrenzende, sondern eher verständnisvolle Berichte über Armut unterstützen.
Stefanie Radwanovsky und Sabrina Stattmann holen sehr weit aus und argumentieren schlüssig, wie die
Umsetzung der Globalen Agenda 2030 Umorientierungen in Bildungsinstitutionen notwendig macht. Lisa
Yashodhara Haller und Johanna Hefel machen deutlich, dass in sozialarbeiterischen Beratungssituationen
die Gefahr besteht, klassische Geschlechterrollen zu reproduzieren. Sie schlagen vor, diese mithilfe eines
familienpolitischen Brettspiels reexiv zu thematisieren. Zusammengenommen erfolgt im thematischen
Schwerpunkt dieser Ausgabe der Nachweis, dass verschiedene, sozial relevante Funktionsbereiche
interdisziplinär in den Blick genommen werden können, um Soziale Innovation voranzutreiben: Soziale
Unternehmen, Medienakteur*innen, Bildungs- und Beratungseinrichtungen werden beschrieben, weitere
Funktionsbereiche der Gesellschaft sollten sich angesprochen fühlen und ihrerseits sozialinnovatorisch tätig
werden.
In der Rubrik Sozialarbeitswissenschaften untersucht Madlen Behrle den Diskurs rund um das
fachpolitische Mandat Sozialer Arbeit, erläutert Kathrin Bereiter eine qualitative Untersuchung zu Macht
und Widerstand im Maßnahmenvollzug, rekonstruieren Magdalena Habringer und Christoph Stoik die
Handlungslogiken beteiligter Akteur*innen in Nachverdichtungsprozessen und erläutern und hinterfragen
Arno Heimgartner, Silvia Hojnik, Gertraud Pantuček, Hannelore Reicher, Elena Stuhlpfarrer und Waltraud
Gspurning Gründe für Fremdunterbringungen. Max Kölbl, Christiane Reischl und Marie-Therese Sagl sehen
digitale und soziale Kompetenzen bei Kindern und Jugendlichen im Umbruch. Anna-Lena Mädge, Sharon
du Plessis-Schneider, Gloria Mittmann und Andrea Jesser erkennen digitale Angebote für Jugendliche als
innovativen Ansatz zum Aufbau einer inklusiven Versorgungsstruktur in der Sozialen Arbeit. Patricia Renner
und Kurt Fellöcker berichten von einem spannenden interdisziplinären Projekt zur Intervision und Supervision
mit Augmented Reality. Insgesamt machen die Beiträge dieser Rubrik deutlich, worauf sich Soziale Innovation
häug beruft bzw. berufen sollte: Auf einen vielfältigen, komplexen, sozialen und gesellschaftlichen Wandel,
auf den jeweils neue und besser passende, richtungsweisende Antworten gegeben werden müssen. Das
fachpolitische Mandat Sozialer Arbeit sollte hinterfragt, die Machtverhältnisse immer wieder neu kritisiert,
die sozialräumlichen Notwendigkeiten partizipativ umgesetzt, Fremdunterbringungsnotwendigkeiten neu
justiert und die Digitalisierung der Gesellschaft in hilfreiche Richtungen gelenkt werden. Dabei wird jeweils
deutlich, dass die Wissenschaft Soziale Arbeit eine Menschenrechtsprofession fokussiert, welche die
Richtung des beschleunigten sozialen Wandels mitbestimmen könnte bzw. sollte.
Erfreulich viele Beiträge nden sich wieder in der Rubrik Junge Wissenschaft. Eine dierenzierende,
intersektionale Betrachtungsweise verfolgt Ramona Iberer in ihrer Analyse des institutionellen Pegebedarfs
von älteren Drogenkonsument*innen in Wien und stellt klinisch-sozialarbeiterische Perspektiven für eine
umfassende Altersversorgung vor. Auf Sorgetätigkeiten in ländlich peripheren Räumen geht Sabine Maria
Scharf-Buchner ein und fragt: „Who cares?“ Auch auf den ländlichen Raum bezogen, widmet sich Nikolaus
Nee dem Aufwachsen im regionalen Dorf Pernitz und beleuchtet damit Perspektiven für eine neue
Jugendarbeit am Land. Ähnlich sozialraumorientiert beleuchten Hanna Vettori und Alexandra Winckler die
zielgruppenübergreifende und selbstorganisierte Gemeinwesenarbeit anhand von Zukunftsbildern für St.
Pölten. Stark in die Selbstreexion auch der Ausbildungseinrichtungen gehen die Beiträge von Paul Söder
zu psychosozialen Belastungen von Studierenden der Sozialen Arbeit und von Julia Märk zum Scheitern
in der Sozialen Arbeit. Spätestens bei diesen Beiträgen wird deutlich, dass Soziale Arbeit stets auch mit
einem Dilemma konfrontiert ist, wenn nämlich aus dem System heraus das System selbst im Sinne Sozialer
Innovation betrachtet und entwickelt werden soll.
In der Rubrik Werkstatt identizieren Johanna Muckenhuber, Miriam Burkia Stocker, Kathryn
Homann und Regina Roller-Wirnsberger Herausforderungen der interdisziplinären Zusammenarbeit in
der gesundheitlichen Primärversorgung in ländlichen Regionen in der Steiermark. Clara Winge stellt eine
altbekannte Frage der Sozialen Arbeit neu und vor dem Hintergrund einer Auseinandersetzung mit Inklusion
und Beziehung.
Die Rubrik Einwürfe/Positionen rundet die Ausgabe ab: Hubert Höllmüller fragt nach dem
Innovationspotenzial im System bezogen auf das Kinder- und Jugendhilfesystem in Österreich: Bedarf es
einer Innovation im System oder einer Innovation des Systems? Wahrscheinlich beides! Alexander Brunners
essayhafte Darlegung vom Nutzen und Nachteil der Soziologie für die Soziale Arbeit verdeutlicht die
Notwendigkeit der interdisziplinären Zusammenarbeit und Charlotte Sweet und Franz Schiermayr sprechen
sich gegen jeden Common Sense und für die Kultivierung des Widerspruchs aus. Rezensionen aktueller
Beiträge zum Fachdiskurs vervollständigen die Ausgabe und geben Hinweise auf und Einschätzungen zu
interessanten Neuerscheinungen.
Was hat das nun alles mit dem Thema Soziale Innovation zu tun? Wahrscheinlich mehr als manche
denken! Während Soziale Arbeit vor allem die gelingende(re) Lebensgestaltung benachteiligter Individuen
und marginalisierter Gruppen in den Blick nimmt, versucht Soziale Innovation auf die Funktionssysteme der
Gesellschaft Einuss zu nehmen und den sozialen Wandel so in eine gemeinwohlorientierte Richtung zu lenken.
In gewisser Weise ist damit Soziale Innovation die Verwirklichung des politischen Auftrags Sozialer Arbeit. Sie
spricht jedoch nicht nur die Politik im engeren Sinne an, sondern weist darüber hinaus, indem sie Strukturen
befördert, die soziale Ungleichheiten durch mehr demokratische Partizipation, Ausgrenzungserfahrungen
durch mehr Inklusion, überlastete Gesundheitssysteme durch mehr Gesundheitskompetenz und Prävention,
soziale Räume mit mehr Resilienz auszustatten versucht. Angesichts der anhaltenden Krisen in unseren
Gesellschaften ist das inzwischen für viele zivilgesellschaftliche Akteur*innen mehr als naheliegend.
Viel Lesevergnügen, honungsfrohe Zukunftsschau und fachliche Expertise erwartet die Leser*innen
der Beiträge dieser Ausgabe.
Literaturverzeichnis
Waterloo Institut for Social Innovation and Resilience (o.J.): Frances Westley: The J.W. McConnell chair
in social innovation. Error! Hyperlink reference not valid.https://uwaterloo.ca/waterloo-institute-for-social-
innovation-and-resilience/people-proles/frances-westley (07.11.2021).
Editorial Online-Journal soziales_kapital
Martin Lu Kolbinger (Standort: Salzburg) für die Redaktion