soziales_kapital
Manuela Hofer, Marc Diebäcker. Beratungspraxen in der Jugendarbeit – Ergebnisse eines explorativen
Forschungsprojekts. soziales_kapital, Bd. 27 (2023). Rubrik: Sozialarbeitswissenschaf. orarlberg.
27. Ausgabe 2023
Akademisierung Sozialer Arbeit
Beratungspraxen in der Jugendarbeit
Ergebnisse eines explorativen Forschungsprojekts
Manuela Hofer & Marc Diebäcker
Zusammenfassung
Während in der Praxis der Offenen Jugendarbeit tagtäglich Beratungen von Jugendlichen
nachgefragt und von Fachkräften gegeben werden, ist das Thema im Fachdiskurs Sozialer
Arbeit bisher kaum behandelt. Ausgehend von dieser Lücke wurden in einem explorativen
Forschungsvorhaben mit vier qualitativen Fallstudien, das 2021 im Rahmen eines Erasmus+
Projekts durchgeführt wurde, Beratungspraxen in den besonders niederschwelligen Settings der
Offenen Jugendarbeit beschrieben. Die Ergebnisse geben u.a. Einblicke darin, wie Jugendliche
Zugang zur Beratung finden und wie Fachkräfte vielfältige Situationen arrangieren und Übergänge
begleiten. Im Vergleich zu „klassischen“ Beratungskontexten zeigen sich in der Jugendarbeit
alltagsnahe, flexible oder diskontinuierliche Beratungsverläufe. Die besondere Qualität der
Beratung in der Offenen Jugendarbeit verdankt sich der Adressat*innenorientierung, dem starken
Fokus auf Vertrauensaufbau sowie einer emanzipativen Hilfegestaltung durch fachlich versierte
Jugendarbeiter*innen, die dazu beitragen, dass Jugendliche lebensweltnah Beratungen erfahren
und zu Unterstützungen gelangen, die ihnen ansonsten wohl verwehrt blieben.
Schlagworte: Beratung, Jugendarbeit, Settings, Niederschwelligkeit, Professionalisierung
Abstract
Counselling is a daily occurrence for young individuals seeking assistance in open youth work.
However, the professional discourse within social work has largely disregarded this topic. To bridge
this gap, a 2021 explorative research project consisting of four qualitative case studies was carried
out within the Erasmus+ framework. The aim was to describe counselling practices in low-threshold
settings of open youth work. The results provide insights into how young people access counselling
and how professionals arrange diverse settings and accompany transitions. Compared to “classic”
counselling contexts, youth work shows counselling processes that are close to everyday life,
flexible or discontinuous. Orientation towards the addressees, a strong focus on building trust
and an emancipative design of help are the unique qualities of professionally experienced youth
workers. This allows young people to experience counselling in proximity to their lives and access
support that they may have otherwise refused.
Keywords: counselling, youth work, settings, professionalism, easy access
1
Einleitung
In der Fachliteratur zu Beratungen in der Sozialen Arbeit werden ausgesprochen selten Situationen
Offener Jugendarbeit (OJA) in den Blick genommen. Vielmehr fokussiert der Forschungskanon in
hohem Maße auf formalisierte Settings und höherschwellige Beratungsangebote, deren Zugänge,
Methoden und Prozesse beschrieben werden, die für die niederschwellige Jugendarbeit allerdings
wenig anschlussfähig sind. Anmelde- und Vorbereitungsroutinen, standardisierte Abläufe,
Prozesssteuerung und Themenbegrenzungen oder fokussierte Auftragsklärung, die üblicherweise
in der Fachliteratur empfohlen werden, greifen in offenen Beratungskontexten nicht (vgl. Hollstein-
Brinkmann 2016: 23).
ImbreitenFeldderJugendarbeitistderBeratungsbegriffkonzeptuellkaumverankert,lediglich
in der Praxis mobiler Angebote von Jugend-Streetwork oder Jugendsozialarbeit wird sie als Tätigkeit
gefasst. Dabei passiert in der standortbezogenen Jugendarbeit abseits freizeitpädagogischer
Aktivitäten und offener Angebote viel Beratung, wenngleich eher „nebenher“. In Ihrer Studie zu
Einrichtungen der Offenen Jugendarbeit betonen Mike Seckinger und andere (2016: 22), dass „neun
von zehn Einrichtungen der offenen Kinder- und Jugendarbeit“ in Deutschland alltagsnahe Beratung
anbieten, dass dieser große Umfang an zusätzlicher (oftmals nicht beauftragter) Unterstützung
Jugendlicher aber kaum dargestellt ist (vgl. ebd.: 23). Ein ähnliches Bild zeichnet eine Onlineumfrage
der Dachverbände Bundesweites Netzwerk Offene Jugendarbeit (bOJA) und Arbeitsgemeinschaft
Jugendfreizeitstätten Baden-Württemberg (AGJF) sowie der FH Campus Wien zu Beratungspraxen
in der Offenen Jugendarbeit für die Situation in Österreich und Deutschland, der zufolge 97% der
befragten Einrichtungen Beratungen anbieten, die Hälfte davon mehrmals pro Woche (vgl. boJA/
AGJF/FH Campus Wien 2022: 6). Die besondere Niederschwelligkeit der Jugendarbeit ist also oft
der Ausgangspunkt für alltagsnahe und beratende Gespräche.
Jugendliche nehmen Beratung – im Vergleich zu Erwachsenen – seltener in Anspruch
und die Beratung bedarf bestimmter Voraussetzungen. Beziehungsqualität, Vertrauen und
Sympathie sind wesentliche Faktoren für eine Beratungsannahme, aber auch die freiwillige,
eher unverbindliche, von den Jugendlichen mitbestimmte und mitgestaltete Kontaktaufnahme
sowie ein wenig formalisierter Zugang. Ein vorgelagerter Beziehungs- und Vertrauensaufbau ist
daher oft eine zentrale Bedingung für eine Beratung, die auf informeller Interaktion aufbaut und
spezifische Qualitäten besitzt (vgl. Nestmann 2007: 791). Aufgrund ihrer Lebensweltorientierung
oder besonderer Alltagsnähe (vgl. Knab 2016: 54; Thiersch 2007: 116) bieten die niederschwelligen
und offenen Settings insbesondere Jugendlichen, die aufgrund der Lebensphase und/oder prekärer
Lebenslagen besonders benachteiligt sind, einen wichtigen, oft den einzigen Zugang zur Beratung.
Für das „lebensweltliche Herstellen“ (Wild 2020: 86f.) adäquater Beratungsbedingungen sowie ein
ressourcenorientiertes Begleiten von Jugendlichen ist die Jugendarbeit geradezu prädestiniert.
Die spezifischen Situationen, Qualitäten und Herausforderungen von Beratung in der
Jugendarbeit sind im fachlichen Diskurs Sozialer Arbeit allerdings kaum beschrieben und können im
Sinne der Professionalisierung daher nur schwer weiterentwickelt werden: Fachliche Anforderungen,
Wissens- und Kompetenzprofile, Qualifizierungsinitiativen oder notwendige Rahmenbedingungen
von Beratung in der Jugendarbeit sind völlig unterthematisiert. Die Feststellung dieser Lücke war
Anlass für ein exploratives Forschungsvorhaben, welches wir im Rahmen des EU finanzierten
Erasmus+ Projekts „Beratungspraxen in der Offenen Jugendarbeit“ im Jahr 2021 durchgeführt
haben und dessen Ergebnisse folgend präsentiert werden.i
Mittels eines ethnografisch inspirierten Forschungszugangs begleiteten wir im September
2021 vier Einrichtungen in Oberösterreich, Tirol, Wien und in der Steiermark für rund eine
Arbeitswoche in ihrem Arbeitsalltag. Die Auswahl der vier Fallstudien erfolgte kontrastierend
und anhand ausgewählter Kriterien, mittels derer die Angebotsvielfalt in der OJA Österreichs
widergespiegelt werden kann: so wurden Einrichtungen im ländlichen wie im städtischen Raum,
eher einrichtungsbezogene wie auch mobil ausgerichtete Angebote sowie unterschiedlich große
Trägerorganisationen und Teams ausgewählt. Wichtig war uns auch, dass die Einrichtungen
keine thematische Spezialisierung aufweisen, sondern in ihrer Breite und Offenheit als typische
Angebote Offener Jugendarbeit eingeordnet werden können. In teilnehmenden Beobachtungen,
Fokusgruppen mit den jeweiligen Teams und Gesprächen mit jugendlichen Nutzer*innen und
Jugendarbeiter*innen wurden die alltäglichen Momente, in denen Beratung entsteht, und die
verschiedenen Formen, in denen sie durchgeführt wird, kenntlich.ii Das Forschungsinteresse
galt den Besonderheiten von Beratungen in niederschwelligen Settings. Im Mittelpunkt standen
Fragen zu Beratungszugängen und Beziehungen, Situationen und methodischem Vorgehen, zur
Weitervermittlung und Begleitung von Übergängen oder auch unterschiedlichen Aufträgen und
Rahmenbedingungen. Die gegenstandsbezogene Auswertung und Interpretation von Protokollen
und Transkripten erfolgte angelehnt an die Grounded Theory.iii Aus einer Fallstudien-übergreifenden
Perspektive werden wir im Folgenden einige zentrale Ergebnisse zu Zugängen, Settings, Begleitung
von Übergängen und Beratungsverläufen darlegen.
2
Der Zugang von Jugendlichen zur Beratung
Beratung in der offenen Jugendarbeit findet in einem sozialen Kontext statt, in dem Beratung
üblicherweise nicht im Vordergrund steht. Häufig bemüht sich die Jugendarbeit um ein offenes
Bildungs- und Freizeitangebot, das auf den Aufbau von Beziehungen ausgerichtet ist. Daher sehen
viele der von uns befragten Fachkräfte die Beziehungsarbeit als Grundbedingung für Beratung
in der Jugendarbeit. Jugendliche bestätigen dies in Gesprächen mit uns dahingehend, dass
Vertrauen und Verschwiegenheit für sie von zentraler Bedeutung sind. Zugleich spielt für sie das
glaubhafte, „echte Interesse“ an ihren Themen eine wichtige Rolle. Dies verweist auf die Bedeutung
von thematischer Alltagsnähe, derer sich Jugendliche im Vorfeld einer möglichen Beratung bereits
versichern – erst dann scheinen sie bereit, ihren Bedarf nach Beratung anzuzeigen. Dabei ist es
bedeutsam, dass Beratung als Tätigkeitsbereich in ein breites Angebotsportfolio der Jugendarbeit
eingebettet ist, damit Jugendarbeit von Jugendlichen als eine Option alltäglicher Ratsuche (vgl.
Nestmann 2014: 549) und als informelle Hilfeoption wahrgenommen und akzeptiert wird.
Sowohl auf der Straße als auch im Jugendtreff konnten wir beobachten, dass Jugend-
arbeitende im ständigen kommunikativen Austausch mit jugendlichen Nutzer*innen sind. In
achtsamer Hinwendung und respektvoller, oftmals zurückhaltender Kommunikation vermitteln
sie Jugendlichen ihr Interesse an ihnen als Person. Bei Erstkontakten scheinen die transparente
Darlegung des eigenen Auftrags, die Vermittlung potenzieller Unterstützungsmöglichkeiten
oder das vorsichtige Ausbalancieren von Nähe und Distanz wesentlich, um Jugendlichen einen
Möglichkeitsraum für „alle Anliegen“ zu eröffnen. Im Berufsalltag bieten sich Fachkräfte permanent
an und bemühen sich, Raum für Erzählungen und offene Gespräche zu schaffen: sie hören zu,
fragen nach und wirken aufrichtig interessiert an Erlebnissen, Gedanken und Emotionen ihres
Gegenübers. Für uns war in vielen Situationen ein professioneller Habitus der aktiven Zuwendung
erkennbar. Eine hohe Aufmerksamkeit und permanentes Reagieren auf jugendliches Tun, ein
fokussiertes Zu- und Hinhören, ein umschauendes Beobachten und Beachten, einfühlsames
Fragen und Ansprechen sowie ein Bemühen, auf unterschiedliche Stimmungen von Jugendlichen
einzugehen, scheinen zentral, damit Jugendliche sich akzeptiert und wahrgenommen fühlen. Es ist
das scheinbar ritualisierte Fragen nach ihrem Befinden, das genaue Hinhören und Nachfragen sowie
das kontinuierliche Interesse mit Hinweis auf Möglichkeiten der Vertiefung, welches die Schwelle für
Jugendliche senkt, eine „Beratung anzufragen“.
Aufgrund der Freiwilligkeit der Beratung spielt die Eigeninitiative der Jugendlichen eine
zentrale Rolle dafür, ob sie Zugang zu Jugendarbeiter*innen als „besondere[n] Erwachsene[n]“
(Diebäcker/Hofer 2024) und zur Beratung finden oder nicht – wenngleich die Fachkräfte dafür
verantwortlich sind, ihnen diesen Schritt zu erleichtern. In Gesprächen mit Jugendlichen wurde
deutlich, dass diese auch aufgrund von Anregungen von Netzwerkangehörigen – ihren Peers –
Beratung in Anspruch nehmen. Sie verweisen mehrfach darauf, dass Freund*innen ihnen mitgeteilt
haben, dass man die Jugendarbeitenden „alles fragen kann“. Beratungsbeziehungen entstehen also
auch, indem das Vertrauen in Fachkräfte unter Freund*innen übertragen wird, was dazu führt, dass
sie sich relativ schnell öffnen und Gesprächsbedarf anzeigen. Wir konnten auch feststellen, dass
Jugendliche beratende Gespräche in Gruppensettings genau beobachten und sich der Kompetenz
von Fachkräften vergewissern, sie teilweise auch durch provokante Fragen prüfen.
In unserer Erhebung waren zahlreiche Situationen erkennbar, in denen Jugendliche
Beratungen selbst initiieren und aktiv einfordern (vgl. auch Neumann 2016: 133), z.B. indem sie
sich mittels einer konkreten Anfrage direkt an eine Fachkraft wenden. Diese direkte Form der
Kontaktaufnahme erfolgt v.a. bei dringlichen Themen, etwa bei akuter Wohnungsnot, Strafanzeigen,
familiären Krisensituationen oder ähnlichen Problemlagen, die einer schnellen Lösung bedürfen.
Wir konnten aber auch beobachten, dass Fachkräfte, die aufgrund einer spezifischen thematischen
Expertise als besonders kompetent wahrgenommen werden, von Jugendlichen mit weniger
Handlungsdruck angefragt werden. Oft steht dann der inhaltliche Austausch, die Reflexion eigener
Optionen oder Momente der Selbstvergewisserung im Vordergrund. Jugendarbeiter*innen werden
von Jugendlichen insbesondere dann eine Expert*innenrolle zugeschrieben, wenn diese sich in der
Vergangenheit zu bestimmten Themen positioniert und spezifisches Fach- oder Erfahrungswissen
glaubhaft vermittelt haben. In den Fallstudien wird deutlich, dass besondere Fachkenntnisse von
einzelnen Mitarbeiter*innen zu Schwerpunktsetzungen in der Einrichtung führen kann und eine
erhöhte Beratungsnachfrage bewirkt; etwa dass besonders oft rechtliche Beratung nachgefragt
wird, wenn eine Fachkraft über juristische Expertise verfügt, oder in einem Angebot vermehrt Fragen
zu Körper, Geschlecht und Sexualitäten bearbeitet werden, weil Jugendliche sexualpädagogisch
kompetente Gesprächspartner*innen oder eine queere Fachkraft vorfinden.
Im Anzeigen von Beratungsbedarf konnten wir unterschiedliche Modi von Jugendlichen
beobachten. Auf der einen Seite agieren Jugendliche wie oben beschrieben aktiv, nehmen direkten
Kontakt auf und können ihr Thema klar artikulieren. Jugendliche holen Jugendarbeitende von der
Gruppe weg und fordern ein Einzelsetting aktiv ein oder melden sich durch Textnachrichten mit einem
mehr oder weniger konkreten Wunsch nach einem Treffen bei der Fachkraft ihrer Wahl. Eine direkte
Kontaktaufnahme erfolgt vielfach aufgrund vordergründig „harmloser“ Themen, hinter der sich aus
der Erfahrung von Jugendarbeiter*innen aber „schwierigere“ Sachverhalte verbergen können, die
erst im weiteren Gesprächsverlauf oder beim nächsten Treffen konkreter artikuliert und offengelegt
werden. Auf der anderen Seite erfolgt die Anbahnung einer Beratung auch weniger bewusst,
sie „passiert“ den Jugendlichen situativ, wenn sich in einem Gespräch ein Thema herausbildet.
Immer wieder ließ sich beobachten, dass Jugendliche ein Freizeitangebot nutzen, aus ihrem Leben
erzählen, sich dabei biographische Erzählungen allmählich verdichten, das Gespräch vertieft, ein
Thema konkretisiert wird und in reflexive Momente übergeht, in welchen dann ein Beratungsbedarf
formuliert wird. Jugendliche spüren oft die Notwendigkeit nach Hilfestellung, ohne sie konkret
benennen zu können. Eine weitere, durchaus übliche Variante ist, dass Jugendliche Vertraulichkeit
suchen und auf ein geeignetes Setting und den passenden Moment warten, z.B. wenn sie eine
Fachkraft zu Beginn oder zum Ende eines Angebots abpassen. Die problembestimmende Aussage
wird z.B. öfter erst am Ende einer Interaktion gesetzt, um die Artikulation des Bedarfs von der
direkten Bearbeitung zu trennen. Fachkräfte betrachten dieses „Deponieren“, „Entlasten“ und
„Entziehen“ als ersten, wesentlichen Schritt für einen künftigen Beratungsprozess.
3
Vielfältige Settings zur Ermöglichung von Beratung
In der „klassischen“ Fachliteratur zur Beratung in der Sozialen Arbeit wird das Setting oft gar nicht
thematisiert, denn durch den Fokus auf Kommunikation und Prozess (vgl. Großmaß 2002: 187) das
Bild einer Setting-losen Einzelberatung vermittelt. Das führt u.a. dazu, dass weder die vielfältigen
und dynamischen Settings in der Jugendarbeit beschrieben noch die Übergänge zu Beratungen
als fachliche Anforderung reflektiert werden (vgl. Diebäcker/Hofer 2024). Fachliche Besonderheiten
der Jugendarbeit sind die häufig offenen Settings und der leichte, niederschwellige Zugang über
freizeitpädagogische Aktivitäten; ein geringer Formalisierungsgrad und geringe Rollenvorgaben
sind diesbezüglich hervorzuheben (vgl. Neumann 2016: 116f.; Hollstein-Brinkmann/Knab 2016: 2).
IndenerhobenenFallstudienwirddeutlich,dassoffeneSettingseinenzentralenErmöglichungsrahmen
für Beratung darstellen: dort, wo sich Alltag und Freizeit verschränken und wo Jugendliche
eigenmotiviert sein und handeln wollen, entstehen Anlässe zum Thematisieren eigener Bedarfe.
Offene Settings sind zugleich sozial dynamisch und störanfällig, Gesprächsunterbrechungen
und schnell wechselnde Konstellationen erschweren oftmals, potenziellen Beratungsbedarfen
nachzugehen. Während vertiefender Diskussionen und Auseinandersetzungen kristallisieren sich oft
Beratungsbedarfe heraus, die in der Jugendarbeit nicht automatisch in Einzelberatung münden. Oft
entstehen Settings, in denen Beratung in größeren und kleineren Gruppen stattfindet, wenn mehrere
Jugendliche ein geteiltes Anliegen haben. Dies erfolgt etwa durch anlass- und gruppenbezogene
Formate, teilweise unter Mitwirkung eingeladener Expert*innen, wodurch inhaltliche Schwerpunkte
gesetzt und beratend weitergeführt werden. Auch Peer-Beratungen, in denen Jugendliche sich bei
zurückhaltender Begleitung durch eine Fachkraft gegenseitig beraten, sind zu verzeichnen. Dabei
werden Freund*innen als emotionale Stütze oder als „Ressource“ wahrgenommen.
In Gruppensettings gilt es zu verhindern, dass Einzelne sich von anderen „unter Druck gesetzt
fühlen“ und so ist das Abwägen, im „aktuellen Verbund“ zu bleiben oder in passendere Settings
zu wechseln, eine fachliche Anforderung an Jugendarbeiter*innen. In diesen Abklärungsmomenten
wird nicht nur ein Thema verhandelt, sondern auch festgelegt, wer an einem Gespräch beteiligt
sein und wo und wann es damit weitergehen soll. Diese Übergänge reflektiert zu moderieren und
für die jeweilige Person oder Gruppe ein − in ihrem Sinne − passendes Setting zu arrangieren,
zeichnet u.E. eine professionelle Fachkraft aus. Fachkräfte schildern, dass sie dabei Prinzipien wie
Freiwilligkeit, Verschwiegenheit, Bedarfe und Schutz miteinander abwägen und dies Jugendlichen
transparent vermitteln müssen. Selbst wenn Einzelgespräche die passende Wahl sind, bedeutet
dies nicht, dass diese automatisch in geschlossenen Settings geführt werden, denn oft wählen
Jugendliche nicht den Beratungsraum, sondern präferieren ein Setting im Dazwischen, dass für
sie weniger problembehaftet ist, mehr Eigensinn zulässt und weniger Verbindlichkeit bedeutet (vgl.
Diebäcker/Hofer 2024).
Beratungssettings in der Jugendarbeit werden auch von den räumlichen und institutionellen
Bedingungen des jeweiligen Angebots beeinflusst (vgl. Großmaß 2014: 491–493). In den Fallstudien
betonen Jugendliche, dass die gute „Atmosphäre“ von Anlaufstellen, Treffs oder Jugendhäusern
ein Grund für ihren Besuch ist. Sie heben hervor, dass gerade der Wechsel von einem Raum in einen
anderen, das Zurückziehen in eine Nische oder das Büro der Fachkräfte vertrauliche Gespräche
erleichtern. Die offensichtlich wenig formalisierten Settings der Jugendarbeit werden aus
Perspektive von Jugendlichen als offen, unverbindlich und nicht zweckorientiert wahrgenommen.
Wenngleich die Anordnung von Möbeln, die Ausgestaltung von Sitz- und Kochgelegenheiten oder
Aufenthalts- und Spielzonen das Innere funktional gliedern, fungieren sie situativ doch auch als
flexible Beratungsettings.
In Gesprächen reflektieren Fachkräfte, dass sie sich bei der Kommunikation im Inneren der
Einrichtung häufig sicherer fühlen und sich dort klarer in Interaktionen verhalten. Sie haben dort mehr
Einfluss auf den Rahmen und gerade bei sensiblen Themen können Beratungsgespräche auch in
geschlossene Settings überführt werden. Ein ruhiger, nicht einsichtiger Raum in der Einrichtung stellt
daher eine wichtige Rahmenbedingung für die Beratung der einrichtungsbezogenen Jugendarbeit
dar. Nichtsdestotrotz sind Beratungen im öffentlichen Raum in der Mobilen Jugendarbeit ein
häufiges Beratungssetting, bei dem grundsätzlich dieselben Standards wie in Jugendtreffs gelten.
Im Vergleich zu Konstellationen in den Einrichtungen sind die Settings draußen noch offener, weniger
formalisiert und unkontrollierbarer. Da der institutionelle Kontext entfällt, können die innerhalb einer
Einrichtung etablierten Regeln nicht vorausgesetzt werden, zudem sind beteiligte Personen deutlich
sichtbarer, auch für unbeteiligte Dritte. Auch draußen bemühen sich Fachkräfte, Settings unter
Wahrung von weitgehender Vertraulichkeit und Anonymität so zu gestalten, dass Bedarfe eruiert und
abgeklärt sowie Beratungsgespräche realisiert werden können. Grundsätzlich variieren die Settings
im öffentlichen Raum je nach situativen Anforderungen und örtlichen Gelegenheiten: die Beratung
am Ort des Treffens, der Rückzug in Nischen, das Gespräch im Café oder der Spaziergang sind nur
einige Beispiele angepasster Beratungssettings.
4
Begleiten von Übergängen und Weitervermittlung
Die Gestaltung von Übergängen – sei es auf Ebene der Arbeitsbeziehung, der thematischen
Expertise oder des sozialen Settings – spielt bei der Beratung von Jugendlichen eine wesentliche
Rolle. Verschieben sich die Rollen von freizeitpädagogischen Aktivitäten hin zu Beratungen, ist
es wichtig, diesen Wechsel auch gegenüber Jugendlichen zu thematisieren, fällt es diesen doch
oft schwer, Rollen und Aufgaben von Jugendarbeitenden nachzuvollziehen. Gerade in Krisen,
wenn Jugendliche besonders vulnerabel sind, ist auf Transparenz und Berechenbarkeit zu achten,
wenngleich Fachkräfte in dynamischen Situationen des Berufsalltags die Dringlichkeit und
Notwendigkeit eines Beratungsgesprächs nicht immer situativ erfassen oder bearbeiten können.
Aufgrund der Breite der Anliegen der Jugendlichen fühlen sich Fachkräfte in thematischer
Hinsicht oft allzuständig und müssen permanent abwägen, ob das eigene Wissen für eine „gute
Beratung ausreicht“, ob sie sich selbst als kompetent genug einschätzen oder auf zusätzliche
Wissensbestände zugreifen müssen. Bei wiederkehrenden Themen, wie etwa Arbeitssuche oder
auch polizeiliche Einvernahmen, haben Jugendarbeiter*innen meist Expertise entwickelt und
bemühen sich, diese durch Fortbildungen aktuell und greifbar zu halten. Überschreiten dringende
Anliegen von Jugendlichen das eigene Themenspektrum, versuchen sie, benötigtes Wissen zu
organisieren, um fachlich abgewogene Antworten oder Handlungsoptionen „bereitzustellen“:
Recherchen (auch gemeinsam mit Jugendlichen), Nachfragen bei spezialisierten Kolleg*innen,
kollegiale und oft kollektive Beratung im Team oder das Nachfragen bei Fachdienststellen sind
einige Strategien, um zusätzliche Wissensbestände in den Beratungsprozess zu inkludieren. Dabei
wägen Fachkräfte bewusst die Dringlichkeit der Anfragen ab, um sich möglicherweise Zeit zu
verschaffen und Expertise einzuholen. Eine Terminvereinbarung dient dann auch dazu, sich in der
Zwischenzeit zu informieren oder einrichtungsinterne Ressourcen nutzbar zu machen.
Grundsätzlich folgen Fachkräfte dem Prinzip, dass die jungen Menschen Zeitpunkt und
Person für eine Beratung selbst auswählen können und erleben dies als wichtige Qualität. Dennoch
kommt es vor, dass spezialisierte Kolleg*innen hinzugezogen werden oder Jugendliche innerhalb
des Teams „weitervermittelt“ werden. Fachkräfte berichten, dass sie in Krisensituationen besonders
gefordert sind, da sie aufgrund ihrer Prozessverantwortung in der Pflicht stehen, emotionale und
fachlich versierte Unterstützung zu leisten bzw. die entsprechende Expertise unmittelbar vom Team
oder bei Fachdienststellen einzuholen. Es stellt sich ihnen die Frage, ob die jeweilige Krisensituation
überhaupt innerhalb des Angebots und mit den vorhandenen Teamkompetenzen professionell
bearbeitet werden kann. Mitunter ist es notwendig, Jugendliche an spezialisierte Einrichtungen und
Fachdienststellen weiterzuvermitteln, wenngleich diese externen Übergänge für viele Jugendliche
eine hohe Schwelle bedeuten und den Unterstützungsprozess stoppen können.
Aufgrund der höheren Schwellen spezialisierter Angebote und aufgrund schlechter Erfahrungen mit
Normalisierungsinstanzen wie etwa Schule und Ausbildungsstellen, mit Verwaltungsstellen oder
Jugendhilfeträgern haben Jugendliche, auch aufgrund von Diskriminierungserfahrungen, oft wenig
Vertrauen in gesellschaftliche Institutionen. Aufgrund ihres niederschwelligen Zugangs erfüllt die
Jugendarbeit auch eine Brückenfunktion zu höherschwelligen, sozialstaatlichen Beratungs- und
Unterstützungsangeboten. In den Fallstudien wurde deutlich, dass Fachkräfte daher gefordert sind,
ein breites Wissen über Angebote der sozialstaatlichen Unterstützungslandschaft zu generieren,
um deren Logiken, Abläufe, Anspruchsvoraussetzungen und Ressourcen einordnen sowie
Optionen der Weitervermittlung einschätzen zu können. Die Pflege des regionalen Netzwerks und
der Aufbau persönlicher Kontakte sind diesbezüglich besonders wichtig, um externe Ressourcen
zu organisieren und Jugendlichen das „Andocken“ an andere Einrichtungen zu erleichtern. Hierbei
zeichnen sich Konfliktfelder ab, da sich die Zusammenarbeit aus Sicht von Jugendarbeiter*innen
nicht immer problemlos gestaltet. Befragte berichten, dass ihre fachliche, beratende Kompetenz
als Jugendarbeiter*in einerseits bei höherschwelligen Angeboten nicht immer anerkannt wird.
Andererseits verweisen diese spezialisierten Stellen viele Jugendliche gerade aufgrund der
besonderenExpertisefür„alleJugendfragen“andieOJA.Esscheint,dasseinRückzugaufdieeigenen
Kernkompetenzen von spezialisierten Angeboten mit Abgrenzungs- und Abwertungstendenzen
niederschwelliger Beratungs- und Unterstützungsleistungen wie der Jugendarbeit einhergeht,
wodurch die Brückenfunktion der Jugendarbeit eingeschränkt wird.
Interviewte Fachkräfte formulieren auch strukturelle Kritik und problematisieren die
begrenzten Kapazitäten der sozialstaatlichen Unterstützungssysteme. In ihren Berichten wird
Unzufriedenheit und Frustration erkennbar, wenn sie dringend benötigte Ressourcen des sozialen
Netzes für Jugendliche nicht bedarfsgerecht organisieren können. Ihrer Meinung nach werden
in solchen Fällen die lebensphasenspezifischen und lebensweltspezifischeniv
Vulnerabilität
und Unterstützungsbedarfe der Nutzer*innen der Jugendarbeit nicht anerkannt. Dabei sind
Fachkräfte in unseren teilnehmenden Beobachtungen laufend engagiert, Übergänge zu anderen
Hilfsinstanzen zu ermöglichen. Sie informieren über Optionen und vermitteln Kontakte, u.a.
indem externe Fachkräften in die Räume der Jugendarbeit eingeladen werden. Sie schätzen
Ressourcen sowohl der Jugendlichen als auch weiterführender Angebote ab und klären mit
Jugendlichen, ob diese Übergänge zu externen Leistungen für sie eigenständig möglich sind. Oft
werden Jugendliche auf entsprechende Termine vorbereitet, um institutionelle Barrieren durch
Information und Übersetzungsarbeit zu senken. Zum Teil benötigt es aus Sicht der Fachkräfte auch
persönliche Begleitung zu einem Erstgespräch, um Unsicherheiten und Ängste von Jugendlichen
zu reduzieren. Dies trifft insbesondere auf parteiliche Begleitungen zu, z.B. bei Vorladungen von
Behörden, insbesondere der Polizei, oder auch als emotionale Stütze bei Justizterminen oder
Konfliktbearbeitungen in Schul- oder Ausbildungskontexten. Hier ist eine besondere fachliche
Expertise gefordert.
5
Beratung ohne Ende: den Beratungsprozess gestalten
Beratung in der Offenen Jugendarbeit ist ein komplexer Prozess, zu dem niederschwellige Zugänge
ermöglicht, vielfältige Settings arrangiert und Übergänge gestaltet werden. Fachkräfte sind
dabei laufend gefordert, neben der Beratungstätigkeit vor allem freizeitpädagogische und offene
Angebote zu gestalten, und dabei in Kontakt mit einer Vielzahl junger Menschen zu sein. So leicht
der Zugang für Jugendliche zur Beratung in der Jugendarbeit sein kann, so herausfordernd ist die
Gestaltung der untypischen und nicht-standardisierbaren Beratungsprozesse für die Fachkräfte.
Über vielfältige, ganz unterschiedlich verlaufende Beratungsprozesse den Überblick zu behalten,
situativ präsent zu sein und zu fokussieren sowie unter teils uneindeutigen und unverbindlichen
Bedingungen Jugendlichen unterstützend zur Seite zu stehen, wird von Jugendarbeiter*innen als
besondere Qualität, aber auch hohe fachliche Anforderung beschrieben.
In der Analyse unserer Erhebungen wird deutlich, dass Beratung in der Jugendarbeit meist
ein offener Prozess ohne klares Ende und von unbestimmter Dauer ist. Teilweise sind Beratungen
singuläre Ereignisse, z.B. wenn durch Gespräche Anfragen weitgehend geklärt oder für ausreichende
Entlastung gesorgt wird. Dass ein weiteres Gespräch vereinbart wird, wie in einem formalen
Beratungsprozess üblich, ist für die Jugendarbeit eher untypisch. Oft greifen Jugendliche zu
einem späteren Zeitpunkt erneut auf ein Gesprächsangebot zurück, nicht immer in Anknüpfung an
vorherige Themen. Jugendarbeiter*innen sind gefordert, sich nach einem ersten Beratungskontakt
bei passenden Gelegenheiten erneut anzubieten, an Vorheriges anzuknüpfen und für weitere
Anfragen offen zu bleiben. Da die Beziehung zwischen Jugendlichen und Fachkräften abseits von
Beratungssituationen häufig „weiterläuft“, müssen Fachkräfte zwischen den unterschiedlichen
Kontexten differenzieren und die eigene Rolle im Beziehungsverhältnis entsprechend ausrichten.
Dies ist u.a. wichtig, um zu vermeiden, dass eine problembehaftete Beratungsperspektive das
Geschehen und Miteinander in der Jugendarbeit dominiert. Zudem kann so die eigene Rolle als
Jugendarbeitende*r bei der Begleitung externer Beratungsprozesse gegenüber den Jugendlichen
transparent gemacht werden.
Ausbleibende oder unregelmäßige Kontakte von Seiten der Jugendlichen können in
Anschluss an eine Krisen- und Beratungssituation für Fachkräfte belastend sein, da der weitere
Umgang und die konkrete Bewältigung „ausgehalten werden müssen“. In den grundsätzlich
offenen Beratungsprozessen der Jugendarbeit können sie sich nur entsprechend der getroffenen
Absprachen um Kontakt bemühen – über die Bereitschaft zur Fortführung von Beratung entscheidet
aber die jugendliche Person. Nachgehende Kommunikationsangebote erfordern organisatorische
Flexibilität, um Räume eröffnen und situativen Gelegenheiten folgen zu können. Die in hohem
Maße von Jugendlichen gestaltete soziale Dynamik in Beratungsprozessen bedeutet auch, dass
Themen, Belastungen oder Dringlichkeiten schon beim nächsten Treffen an Bedeutung verloren
haben können. Auch die Weitervermittlung an ein anderes Angebot heißt nicht, dass Jugendliche
sich nicht wieder an die Jugendarbeitenden wenden, um das Thema weiter zu besprechen oder ihre
Erfahrungen mit dem „spezialisierten Angebot“ zu reflektieren.
Ein Beratungsprozess wird in der Praxis, der Supervision oder auch in der Fachliteratur
üblicherweise in Phasen eingeteilt. Das Reflektieren über den Anfang, die Mitte und das Ende (z.B.
Culley 2015) ermöglicht Beratung als professionell gestaltbaren Verlauf zu betrachten, in dem von
professioneller Seite auch Ziele formuliert, Handlungen überlegt und Techniken eingesetzt werden.
Demgegenüber ist ein Beratungsverlauf in der Jugendarbeit eine oft diskontinuierliche, wenig
formalisierte und kaum standardisierbare Gesprächsfolge.
Die Anfangsphase kreist in „klassischen“ Beratungssettings vor allem um den Aufbau einer
Arbeitsbeziehung, die in der Jugendarbeit meist schon vorhanden ist. Häufig hat sich eine Beratung
in einem offenen Setting angebahnt, sodass Beratungsbedarf und -thema ein stückweit eingegrenzt,
manchmal auch schon abgeklärt sind. Insofern fokussieren Jugendarbeiter*innen in einem ersten
geschlossenen Setting mit der Einzelperson oder Kleingruppe meist darauf, Thema und Ziel mit
Jugendlichen zu explorieren und zu konkretisieren sowie Rollen und Verantwortlichkeiten zu klären.
Damit Jugendliche nicht einfach in einen Beratungsprozess mit besonderer Beziehungsintensität
geraten, muss der Einstieg von der Fachkraft transparent gehalten werden. Diese steht in der
ethischen Pflicht, dem jungen Menschen Rollen, Ziele, Aufgaben und eine Idee zur Vorgangsweise
verständlich begründen und nachvollziehbar vermitteln zu können.
In der Mittel- oder Hauptphase von Beratung, in der Ratsuchende unterstützt werden, ihre
Anliegenneuzuordnenundzubewerten,andereLösungenzuentdeckenundWegezubestreiten(vgl.
Culley 2015: 19), folgen Berater*innen in der Jugendarbeit durchaus „klassischen“ Zielsetzungen.
Sie konzentrieren sich dabei auf Kontakt und Kontinuität, im Wissen, dass Prioritäten und
Verbindlichkeit in der Lebensphase Jugend schwanken. In offenen und niederschwelligen Settings
bemühen sich die Fachkräfte mit Hinwendung und aktivem Nachgehen, die Beratungsbeziehung
aufrechtzuerhalten, also eine relative Kontinuität zu ermöglichen.
In der Endphase der Beratung geht es in der Jugendarbeit meist darum, das Ende einer
intensiven Beratungsbeziehung zu thematisieren und bestehende Rollen wieder aufzulösen.
Im Gegensatz zur „klassischen“ Beratung bedeutet die Beendigung der Beratung in der Regel
keinen Abbruch der Beziehung zwischen ratsuchenden und beratenden Personen. Vielmehr geht
es häufig darum, bewusst in „alte“ Rollen und eine andere Beziehungsrealität zurückzufinden.
Unsere Fallstudien deuten darauf hin, dass der „leichte“ Übergang in andere Angebotsformen
der Jugendarbeit allerdings dazu führen kann, dass der Abschluss der Beratung nicht bewusst
besprochen wird, sondern „ausläuft“ und damit nicht transparent vollzogen wird. Die Veränderung
von Rollen und Beziehungen bleibt damit möglicherweise unbesprochen.
6
Abschließende Herausforderungen und Empfehlungen für eine reflexive
Beratungspraxis in der Offenen Jugendarbeit
Die Ergebnisse unseres Forschungsprojekts zeigen, dass – unabhängig von der politischen-
administrativen Beauftragung, der konzeptuellen Ausrichtung oder den Rahmenbedingungen
des jeweiligen Angebots – Fachkräfte kontinuierlich mit Beratungsanfragen von Jugendlichen
konfrontiert sind und sich diesen weder entziehen können noch wollen. In den vier Fallbeispielen
der OJA haben Jugendliche die Möglichkeit, sich entsprechend ihres persönlichen Bedarfes mit
Fachkräften in Beziehung zu setzen, sich dabei die beratende Person selbst auszusuchen sowie
Zeit, Ort, Themen und Dauer des Gesprächs bzw. Prozesses in hohem Maße bestimmen zu können.
Aufgrund niedriger Schwellen in der Jugendarbeit und der lebensweltnahen Verankerung von
Gesprächsmöglichkeiten erfahren Jugendliche Beratung in alltäglichen, informellen bzw. wenig-
formalisierten Kontexten (vgl. Thiersch 2002: 157). Durch die Adressat*innenorientierung, einen
starken Fokus auf Vertrauensaufbau, ein weniger asymmetrisches Verhältnis von Ratsuchenden
und Ratgebenden sowie eine partizipative bzw. emanzipative Hilfegestaltung werden optimale
Bedingungen für Jugendberatung geschaffen (vgl. Hollstein-Brinkmann 2016: 17). Unsere
Ergebnisse zeigen u.E. auch, dass häufig eine Vertiefung von Beratungsbeziehungen gelingt, weil
Fachkräfte sich aktiv und kontinuierlich darum bemühen, die „individuelle Souveränität“ (Bettmer/
Sturzenhecker 2013) des jugendlichen Gegenübers zu wahren.
Für Jugendarbeiter*innen in sozialdynamischen und freizeitpädagogischen Arbeitskontexten
bedeutet dies eine große fachliche Herausforderung: Sie müssen Beratungsbedarfe von
Jugendlichen erkennen und abklären, passende Settings arrangieren und Gespräche führen sowie
gemeinsam Prozesse gestalten und Übergänge begleiten. Diese besondere Form professioneller
Beratung von Jugendlichen erfordert von Fachkräften spezifische Kenntnisse und Fähigkeiten,
aber auch ermöglichende institutionelle und infrastrukturelle Rahmenbedingungen. Für ein
multiprofessionelles Arbeitsfeld, in dem einschlägige formale Qualifikationen für Mitarbeiter*innen
nicht überall Voraussetzung sind und Weiterqualifizierungen von individuellen Motivationen und
trägerbezogenen Rahmenbedingungen abhängen, gilt es seitens der Trägerorganisationen,
staatlichen Auftraggeber*innen, Dachverbänden und der Bildungsträger, gemeinsam die
Kompetenzentwicklung zur Beratung in der Jugendarbeit aktiv zu fördern.
Auf Basis unserer Fallstudien und eigener Erfahrungen möchten wir abschließend noch auf
Aspekte hinweisen, die für eine Professionalisierung der Beratung in der Jugendarbeit wichtig sind:
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Der Zugang zur Beratung ist bei aller „Offenheit“ auch in der Jugendarbeit nicht
grundsätzlich „frei“: aufgrund eingeschränkter Öffnungszeiten, begrenzter
Anwesenheit des Personals oder Personalressourcen kann dem Beratungsbedarf
von Jugendlichen nicht ständig entsprochen werden. Um einen Überblick über die
offenen und behandelten Themen zu behalten und auch nach einiger Zeit in der
Beratungwiedergemeinsamanschließenzukönnen, isteinefachlicheDokumentation
ein wichtiger Qualitätsstandard.
Wegen der lebensweltnahen Situierung der Jugendarbeit und einer generalistischen
Offenheit von Fachkräften befinden sich diese immer wieder in der Situation, das
angefragte oder erforderliche Knowhow nicht sofort bereitstellen zu können. Sich
dieser konstitutiven Überforderung bewusst zu sein, sie im konkreten Moment der
Interaktion einzugestehen, mit Vereinfachungen weiterzuarbeiten und zugleich
Verantwortung für die Suche nach benötigter Expertise zu übernehmen, ist eine
zentrale Kompetenz in der kritisch-reflexiven Beratungsarbeit.
Für einen fachlich versierten Dialog in der Beratung trägt die Fachkraft der OJA die
Verantwortung. Beim Aufeinander-Einlassen obliegt es ihr, die Dynamik von Nähe
und Distanz in der Beziehung einzuschätzen und passend auszubalancieren.
Dabei bewegt sich die Fachkraft in der Gesprächsführung immer in einem
Spannungsfeld. Sie muss einerseits umfassende Akzeptanz, Respekt und Annahme
(auf personaler Ebene) vermitteln und andererseits als Expert*in für den Prozess
oder auch aufgrund thematischer Expertise (auf funktionaler Ebene) das Gegenüber
mit anderen Perspektiven und Sichtweisen konfrontieren (vgl. Fuhr 2003: 39).
In einer Beratungsbeziehung drängen immer auch die eigenen Beziehungsmuster an
die Oberfläche. Sich dieser Dynamik in den informell-offenen Settings der Jugend-
arbeit bewusst zu sein und sich von den eigenen Erfahrungen und Identifikationen
distanzieren zu können, schützt ratsuchende Jugendliche. Auch für das Wahrnehmen
eigener Überforderungsmomente sind „laufende Reflexion der alltäglichen
Erfahrungen“ (Schrödter 2021: 1159) notwendig. „Beziehungslernen“ ist daher ein
zentraler Baustein bei der Professionalisierung von Beratung in der Jugendarbeit:
Selbsterfahrung, berufliche Fallreflexionen, Einzel- und Teamsupervisionen sowie
Fort- und Weiterbildungen müssen daher organisatorisch ermöglicht und von
Fachkräften wahrgenommen werden.
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Verweise
i Das Projekt fand unter Leitung von boJA, AGJF und Kompetenzzentrum für Soziale Arbeit der FH Campus Wien statt.
ii
Das Design des Forschungsvorhabens wurde von der Ethikkommission der FH Campus Wien geprüft, die Daten wurden von den
Autor*innen selbst erhoben und ausgewertet. Die Transkripte der Fokusgruppen wurden von Anna Aszódi erstellt.
iii
Ergebnisse dieser Forschungsphase wurden in Kooperation mit Kolleg*innen von bOJA und AGJF mit weiteren Befragungen in
Deutschland und Österreich verknüpft und waren die Basis für eine mehrmonatige Laborphase im Jahr 2022 in weiteren Einrichtungen der
OJA. Über mehrere Konferenzen sowie Austausch- und Diskussionsformate wurden unsere erhobenen Daten mehrfach kommunikativ
validiert und mündeten u.a. in einen Praxisleitfaden „Beratung in der Offenen Jugendarbeit“ (vgl. Walzl-Seidl et al. 2023), in einen Artikel
zu Beratungssettings in der Offenen Jugendarbeit (vgl. Diebäcker/Hofer 2024) sowie zur Beziehung und Beratung in der Jugendarbeit
(vgl. Diebäcker 2024).
iv
Während alle Jugendlichen aufgrund ihrer gemeinsamen Lebensphase ähnliche Erfahrungen machen, sind manche Jugendliche
aufgrund ihrer gesellschaftlichen Verortung und spezifischer Verhältnisse mehr als andere von (v.a. rassistischen und sexistischen)
Diskriminierungen betroffen.
Literaturverzeichnis
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Walzl-Seidl, Nicole/Diebäcker, Marc/Hofer, Manuela/Hofmann, Torsten/Holzinger, Stefan/Kern-
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In: Diebäcker, Marc/Wild, Gabriele (Hg.): Streetwork und Aufsuchende Soziale Arbeit im öffentlichen
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Über die Autor_innen
Marc Diebäcker
Lehrt und forscht am Department Social Work der FH Campus Wien. Seine Schwerpunkte sind
niederschwelligeundaufsuchendeSozialeArbeit,WohnungslosigkeitundWohnen,Sozialraumarbeit
und Gesellschaftskritik.
Manuela Hofer
War elf Jahre in der Offenen Jugendarbeit in Vukovar, Bregenz und Wien tätig und hat darüber
hinaus Menschen in den Bereichen Gewalt sowie Asyl und Migration beraten. Seit 2015
lehrt sie hauptberuflich an der FH Campus Wien. Ihre Schwerpunkte sind Jugendarbeit und
diskriminierungskritische Soziale Arbeit.