soziales_kapital
Tamara Mandl. Wohin gehen wir, wenn die Arbeit getan ist? Gastarbeiter_innen und die Bedeutung
einer lebensweltorientierten, differenzsensiblen Palliative Care. soziales_kapital, Bd. 27 (2023).
27. Ausgabe 2023
Akademisierung Sozialer Arbeit
Wohin gehen wir, wenn die Arbeit getan ist?
Gastarbeiter_innen und die Bedeutung einer
lebensweltorientierten, differenzsensiblen
Palliative Care
Tamara Mandl
Zusammenfassung
Der vorliegender Artikel beschäftigt sich mit der Geschichte staatlich organisierter Arbeitsmigration
und den Biografien und Lebenswelten von Gastarbeiter_innen, die aufgrund unheilbarer Krankheiten
palliativ versorgt werden. Um im Laufe der Biografie entstandene und durch die Erkrankung
verstärkte Ungleichheiten auszugleichen, ist es essentiell, dass Professionist_innen der Palliative
Care ein Verständnis für gesellschaftspolitische Einflüsse auf die Zielgruppe haben. Migrant_innen
in palliativen Situationen haben diverse Bedürfnisse in sozialer, spirito-kultureller, physischer und
psychischer Hinsicht. Viele dieser Bedürfnisse können durch die radikale Betroffenenorientierung
in der Palliativversorgung erfüllt werden, wobei es wichtig ist, Palliativangebote insbesondere
sprachlich vielfältiger zu gestalten und Professionist_innen dahingehend zu schulen, dass sie noch
besser auf verschiedene Lebenswelten eingehen können.
Schlagworte: Arbeitsmigration, Gastarbeiter_innen, Palliativversorgung, Altern, radikale Betroffen-
enorientierung, Lebensqualität
Abstract
The article examines the history of labor migration in Austria and the needs and living environments
of guest workers receiving palliative care for incurable, life-shortening diseases. It asserts that state-
organized labor migration has consistently followed a neoliberal, business-oriented logic, which has
lasting effects until the workers’ demise. To address inequalities that may have arisen over one’s
lifetime and are exacerbated by the diagnosis of an incurable disease, palliative care experts must
comprehend the sociopolitical factors impacting their subject group. Labor migrants and others
in palliative circumstances have various requirements in a social, spirito-cultural, physical and
psychological manner. Many needs of former labor migrants can already be met by palliative care
providers through a radical orientation towards their needs. Nonetheless, it is crucial to diversify
palliative care supply, particularly at the linguistic level, to enable professionals to respond even
more sufficient to diverse living environments.
Keywords: labor migration, palliative care, ageing, radical orientation towards those affected,
quality of life
1
Einleitung
Im Hintergrundgespräch zur am 10. März 2023 gehaltenen „Rede zur Lage der Nation“ rechtfertigte
Bundeskanzler Karl Nehammer seine Pläne, Sozialleistungen für Personen mit Migrationserfahrung
zu kürzen, damit, nicht „die Fehler der 60er- und 70er-Jahre wiederholen [zu wollen], als sogenannte
Gastarbeiter geholt wurden und diese dann aber wider Erwarten hierblieben, Integrationsproblem
inklusive“ (Nehammer zit.n. Rauscher 2023).i Kurz darauf, im April 2023, sprach sich der FPÖ
Rathausclub Wien in einer Presseaussendung unter dem Titel „Gastarbeiter-Denkmal kann lediglich
Privatvergnügen sein“ gegen die Errichtung eines Denkmals in Wien Favoriten aus. Begründet
wurde der Widerstand gegen das Denkmal damit, dass sich bei vielen Kindern von Gastarbeiter_
innen kein Integrationswille, dafür aber eine Tendenz zu kriminellem Verhalten zeige (vgl. FPÖ-
Rathausclub 2023). Parallel zur Veröffentlichung dieser politischen Statements wurden Forderungen
laut, denen entsprechend die Arbeitskräfteanwerbung aus dem Ausland weiter forciert werden soll.
So veröffentlichte z.B. das Österreichische Hilfswerk in einer Pressekonferenz am 21. Juni 2023
ein Fünf-Punkte-Programm zur Anwerbung ausländischer Pflegekräfte (vgl. Hilfswerk Österreich
2023). Diese aktuellen Auszüge aus Politik und Medien zeigen, wie das Thema Arbeitsmigration
derzeit verhandelt wird. Während ausländische Arbeitskräfte dringend notwendig sind, um offene
Stellen zu besetzen, und verschiedene Maßnahmen für deren Anwerbung ergriffen werden, wird
den ursprünglich als Gastarbeiter_innen nach Österreich migrierten Personen vermittelt, dass sie
nicht (länger) willkommen sind bzw. nur so lange erwünscht waren, solange ihre Arbeitskraft zur
Verfügung stand.
Viele Gastarbeiter_innen, die zwischen den 1960er und den 1980er Jahren nach Österreich
migrierten, sind geblieben, haben ihre Familien nachgeholt und sich ihre Existenz hier aufgebaut.
Sie sind im Pensionsalter angekommen und müssen Aufgaben lösen, die diese neue Lebensphase
mit sich bringt. Sie bilden eine Generation, die altert, ohne Vorbilder dafür zu haben, weil ihre Eltern
und Großeltern in anderen Gesellschaften gealtert sind (vgl. Ertl 2009: 67). Im Laufe ihres Lebens
waren sie mit Unsicherheiten, Erosionen und biografischen Brüchen konfrontiert, die Auswirkungen
bis ins hohe Alter und schlussendlich bis zum Tod haben. Die Diagnose einer unheilbaren,
lebensverkürzenden Erkrankung kann zusätzlich zu Verlusterlebnissen und prekären Verläufen
führen. Lebensweltorientierte Palliativsozialarbeit unterstützt Patient_innen und Angehörige mit
diesen umzugehen und ihren Alltag so gelingend wie möglich zu gestalten.
Dieser Artikel basiert auf meiner Masterarbeit Denn ich fühl die Sehnsucht wieder – Eine
explorative Studie über die Bedürfnisse von Gastarbeiter_innen in palliativen Situationen und
den daraus resultierenden Bedarf für die Sozialarbeit (2019). Die Entscheidung, diesen Artikel
einige Jahre nach Abgabe der Masterarbeit zu veröffentlichen, ist der zunehmenden medialen
Aufmerksamkeit für das Thema Arbeitsmigration geschuldet. Entsprechend wird folgend ein
Einblick in das Arbeitsfeld Palliative Care und die Bedürfnisse der dort betreuten Patient_innen
mit Migrationserfahrung gegeben. Zudem soll ein Beitrag dazu geleistet werden, Personen, die zu
Arbeitszwecken angeworben wurden bzw. nach wie vor werden, in den Fokus unserer Berufsgruppe
zu rücken. Denn es wurden Arbeitskräfte geholt, und es kamen Menschen.
2
Arbeitsmigration in Österreich
Eine wesentliche Voraussetzung für staatlich organisierte Arbeitsmigration ist ein wirtschaftliches
Ungleichgewicht zwischen Aufnahme- und Entsendeländern. Das heißt, dass es in den Entsende-
ländern an geeigneten Arbeitsplätzen und in den Aufnahmeländern an geeigneten Arbeitskräften
fehlt. Die primäre politische Motivation hinter der Anwerbung von Arbeitskräften ist es,
weiteres Wirtschaftswachstum zu ermöglichen (vgl. Wollner 2010: 81). Dieser neoliberalen,
wirtschaftsorientierten Logik folgen sowohl die Arbeitskräfteanwerbung der 1960er bis 1980er Jahre
als auch moderne Formen. Die International Labour Organization (ILO) definiert in der „Migrant for
Employment Convention“ Arbeitsmigrant_innen bzw. Migrants for Labour als jene Personen, die
staatlich oder privatwirtschaftlich zu Arbeitszwecken angeworben werden und aus diesem Grund
migrieren (Art.11, Abs. 1 Migration for Employment Convention). Personen, die eigenständig zu
Arbeitszwecken migrieren, fallen nicht in diese Definition.
In diesem Artikel werden die Begriffe Arbeitsmigrant_innen und Gastarbeiter_innen
verwendet. Von Gastarbeiter_innen wird in diesem Artikel immer dann geschrieben, wenn explizit auf
die Situation jener Menschen eingegangen wird, die ab den 1960er Jahren bis in die späten 1980er
Jahre von der österreichischen Regierung angeworben wurden. Ursprünglich bezeichnete der
Begriff Gastarbeiter_innen „im verarbeitenden Gewerbe oder in nieder bewerteten Dienstleistungen“
(Hoffmeyer-Zlotnik 1986: 32) auf Zeit beschäftigte Arbeitnehmer_innen. Somit ist in dieser Definition
das sogenannte Rotationsprinzip enthalten, welches vorsieht, dass die Arbeitnehmer_innen nach
Beenden ihrer Tätigkeit wieder ins Herkunftsland zurückkehren. Auch wenn dies in der Praxis
kaum geschah, hat sich der Begriff zur Bezeichnung der Zielgruppe, sowohl als Selbst- als auch
Fremdzuschreibung gehalten (vgl. ebd.).
2.1 Zur Geschichte der Arbeitsmigration in Österreich
Um die Biografien und Lebenswelten der in Österreich lebenden Gastarbeiter_innen und die hinter
der Anwerbung stehende wirtschaftliche Logik besser zu verstehen, wird ein kurzer Abriss über die
Geschichte der österreichischen Arbeitsmigration gegeben. Anders als häufig angenommen, ist
Arbeitsmigration kein Phänomen des 20. Jahrhunderts. Bereits im 18. Jahrhundert war Wien ein
beliebtes Ziel von Wanderarbeiter_innen. Bis ins 19. Jahrhundert stammten viele der Arbeiter_innen
aus Süddeutschland, der Schweiz und Norditalien. In den darauffolgenden Jahrzehnten wurde
Österreich zur Heimat von Menschen aus dem gesamten Habsburgerreich. Böhmen und Mähren
sowie Galizien und die Bukowina waren wichtige Herkunftsgebiete (vgl. Bauer 2008: 2f.)
Zu ersten staatlich organisierten Arbeitsmigrationsbewegungen führte in Österreich der
wirtschaftliche Aufschwung der 1950er Jahre. Arbeitsplätze, die durch das Wirtschaftswachstum
geschaffen wurden, konnten nicht mehr durch die in Österreich lebende Bevölkerung besetzt werden
(vgl. Faßmann 1992: 102). Um weiteres Wirtschaftswachstum zu ermöglichen und um die Expansion
des heimischen Marktes voranzutreiben, einigte sich der Österreichische Gewerkschaftsbund und
die Bundeswirtschaftskammer darauf, ein Gesamtkontingent an jugoslawischen Arbeitskräften zur
Beschäftigung in Österreich zuzulassen (vgl. Biffl 1986: 33). Nach einem Rotationsprinzip sollten
die angeworbenen Arbeiter_innen für einige Zeit in Österreich beschäftigt werden und danach
wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehren (vgl. Faßmann/Münz 1992: 13). Auf die Festlegung des
zugelassenen Gesamtkontingents folgten von 1962 bis 1968 drei weitere Anwerbeabkommen mit
Spanien, der Türkei und mit Jugoslawien, wobei das Abkommen mit Spanien bedeutungslos blieb.
Obwohl die meisten Anwerbungen in den späten 1960er und in den 1970er Jahren stattfanden,
blieben sie bis zum Ende der 1980er Jahre gängige Praxis (vgl. Wollner 2010: 82f.).
Zu Beginn der Anwerbungen funktionierte das Rotationsprinzip relativ gut. Es kamen
vorwiegend junge, gut ausgebildete Männer aus Slowenien oder Kroatien, die in ihren
HerkunftsländernkeineodernurgeringbezahlteArbeitfanden. IhrZielwarEinkommensmaximierung
bei gleichzeitiger Reduktion der Lebenskosten, um die im Herkunftsland verbliebenen Familien
unterstützen zu können (vgl. Lichtenberger 1984: 82). Anfang der 1970er veränderte sich die soziale
Struktur der Gastarbeiter_innen. Es immigrierten vermehrt ältere und weniger qualifizierte Personen
sowie Personen, die in Österreich bleiben und ihre Familien nachholen wollten. Neben Männern und
Familien wurden auch junge, alleinstehende Frauen zu Arbeitszwecken angeworben (vgl. Biffl 1986:
36).
Die Arbeitsverhältnisse der jugoslawischen und türkischen Arbeiter_innen waren größtenteils
prekär. Die Stellen waren gering bezahlt und körperlich anstrengend. Die Gastarbeiter_innen galten
als Regulatoren am Arbeitsmarkt und waren als erste von Stellenabbau betroffen. Gut bezahlte,
sichere Jobs blieben österreichischen Staatsbürger_innen und Einwander_innen aus West- und
Mitteleuropa, wie z.B. der Bundesrepublik Deutschland, vorbehalten (vgl. Faßmann 1992: 103).
Die Lebensbedingungen der Gastarbeiter_innen waren ebenfalls schwierig. Die Gesetzeslage
sah vor, dass Arbeitgeber_innen ihren nach Österreich geholten Arbeitnehmer_innen geeignete
Unterbringungen zur Verfügung stellen mussten (vgl. Lichtenberger 1984: 253). Dennoch waren die
Unterkünfte in vielen Fällen substandard und befanden sich z.T. in Barackensiedlungen. Ehemalige,
schon desolate Arbeiter_innenwohnungen wurden an Migrant_innen vermittelt, die dort Jahrzehnte
blieben bzw. zum Teil noch heute dort wohnen (vgl. Akkilic 2004: 131–132).
Soziale Interaktion mit in Österreich geborenen Menschen beschränkte sich auf das
Berufsleben oder fand ab Beginn des Familiennachzugs durch Freund_innenschaften der Kinder
statt. Erschwert wurde die Situation der Gastarbeiter_innen durch rassistische Anfeindungen
und stereotypische Zuschreibungen und durch die Verwendung abwertender Bezeichnungen
wie Tschusch oder Kolaric (vgl. Ertl 2009: 58). Trotz dieser Schwierigkeiten entschieden sich viele
türkisch- und jugoslawischstämmige Familien langfristig in Österreich zu bleiben. Gründe hierfür
waren unter anderem, dass die Kinder hier zur Schule gehen oder dass eine Rückkehr in die
Herkunftsländer durch die Jugoslawienkriege unmöglich gemacht ist (vgl. Esezobar 2004: 128).
„Mittlerweile ist die Entscheidung für ‚das Hier‘ bei vielen gefallen, auch wenn die Verbundenheit
zu ‚dem Dort‘ bei den meisten als Rückkehrsehnsucht bewahrt wird (in eine Heimat, die es so nicht
mehr gibt).“ (Ertl 2009: 54)
2.2 Zur Lebenswelt der ehemaligen Gastarbeiter_innen
Die Lebenswelten der ehemaligen Gastarbeiter_innen sind in hohem Maße von den im Laufe ihrer
Biografien gemachten Erfahrungen abhängig. Diese Erfahrungen sind durch gesellschaftliche
Machtverhältnisse determiniert, da sie sich privilegierend oder diskriminierend auf verschiedene
Subjekte und Gruppen in einer Gesellschaft auswirken und sie zeigen sich anhand verschiedener
Differenzkategorien. Differenzkategorien wie z.B. race, class und gender bilden für jedes Subjekt
eine einzigartige Position im Feld der gesellschaftlichen Ungleichheiten und potenzieren sich
gegenseitig (vgl. Crenshaw 2016). Anhand der Biografien von Personen, die als Gastarbeiter_innen
nach Österreich kamen, und nun im Rahmen verschiedener Palliativversorgungsangebote betreut
werden, wird die Verflechtung diverser Differenzkategorien in ihrer Komplexität deutlich. Beispielhaft
wird an dieser Stelle auf die Kategorien Alter, Arbeit und Migration eingegangen, da sich diese
nachhaltig auf die Palliativbetreuung auswirken können.
Die Anwerbung zur Arbeit in Berufen, die die einheimische Bevölkerung aufgrund einer
neuen, durch den Wirtschaftsaufschwung verursachten Wahlfreiheit nicht mehr übernehmen wollte,
führte zur unsicheren Stellung der Gastarbeiter_innen am Arbeitsmarkt (vgl. Reinprecht 2006:
35). Sie waren als erstes von Stellenabbau betroffen, wurden niedrig entlohnt und verrichteten
schwere, oft als minderwertig angesehene Arbeit, die häufig körperliche und psychische
Folgeerscheinungen nach sich zog (vgl. Reinprecht 2006: 27). Daraus resultierten niedrige Beiträge
zur Pensionsversicherung und frühere Austritte aus dem Erwerbsleben, was wiederum eine erhöhte
Prävalenz von Altersarmut zur Folge hat (vgl. Schroer/Schweppe 2010: 50). Erhebungen aus
Deutschland, wo die Lebens- und Arbeitsbedingungen der dort angeworbenen Arbeitsmigrant_
innen vergleichbar waren, lassen Rückschlüsse auf die Situation in Österreich zu. Die Ergebnisse
einer im Jahr 2017 von Helen Baykara-Krumme und Daniela Klaus durchgeführten Studie zeigen,
dass Arbeitsmigrant_innen aus der Türkei und dem ehemaligen Jugoslawien im Vergleich zu
anderen Personen mit Migrationserfahrung die niedrigsten Pensionen beziehen, woraus unter
anderem vergleichsweise schlechte Wohnbedingungen resultieren (vgl. Baykara-Krumme/Klaus
2017: 360–363). Zu den Spätfolgen der oftmals prekären Arbeitsbedingungen zählen neben
sozioökonomischen Auswirkungen auch gesundheitliche Einschränkungen (vgl. Schroer/Schweppe
2010: 50). Diskriminierungserfahrungen, Wohnbedingungen oder Barrieren beim Zugang zu
Einrichtungen der Gesundheitsversorgung tragen zum schlechteren Gesundheitszustand bei. Die
Wahrscheinlichkeit zu versterben, bevor die durchschnittliche Lebenserwartung erreicht wurde,
ist in der Gruppe der zu arbeitszwecken angeworbenen Personen höher als bei Menschen, die
aus anderen Gründen migriert sind oder bei Menschen ohne Migrationserfahrung (vgl. Baykara-
Krumme/Klaus 2017: 362f.).
Trotz der schwierigen Bedingungen bot die Arbeit eine Möglichkeit, geringe gesellschaftliche
Anerkennung zu erfahren. Solange die Gastarbeiter_innen im Erwerbssystem integriert waren,
waren sie Teil der von der Aufnahmegesellschaft definierten Statushierarchie. Mit dem Übergang
in die Pension ging diese Einbindung für viele Personen verloren (vgl. Reinprecht 2006: 33). Die
Lebensphase Alter stellt eine „Leerstelle im Projekt der Arbeitsmigration“ (ebd.) dar. Um diese Leere
zu füllen und um mit dem Herkunftsland in Verbindung zu bleiben, verbringen viele Gastarbeiter_
innen ihre Pension damit, zwischen Österreich und dem Herkunftsland zu pendeln. Dies ist Ausdruck
einer über Jahre hinweg erhaltenen Verbundenheit zu dem Ort, an dem sie ihre Kindheit und
Jugend verbracht haben, und zum noch vorhandenen sozialen Netzwerk. Die Möglichkeit, durch
das Pendeln soziale, materielle und identifikatorische Ressourcen an beiden Orten zu bündeln,
und sich dadurch beiden Heimaten zugehörig zu fühlen, ist Ausdruck von Autonomie und kann
zur Lebenszufriedenheit beitragen. Eine Einschränkung dieser Möglichkeit aus finanziellen oder
gesundheitlichen Gründen kann als Kompetenz- und Identitätsverlust erlebt werden (vgl. Schroer/
Schweppe 2010: 50).
Das Abschied nehmen von identitätsstiftenden Aspekten ist eine der Entwicklungsaufgaben,
die die Lebensphase Alter vorsieht. Nach und nach muss von Arbeit, Beziehungen und
unerfüllten Lebensträumen Abschied genommen werden. Gleichzeitig erfolgt eine Konfrontation
mit teils schwerwiegenden gesundheitlichen Problemen (vgl. Ertl 2009: 59). Neben diesen
Entwicklungsaufgaben, die alle alternden Menschen bewältigen müssen, gibt es solche, die
durch die Migration, damit verbundene Ungleichheit und Diskriminierung sowie durch die
migrationsbedingte Veränderung der soziokulturellen Umgebung bedingt sind. Sowohl Migrations-
als auch Alternsprozesse können durch Abschied, Fremdheit und Neubeginn geprägt sein (vgl. Ertl
2009: 52–53). Die durch die Migration erlernten Anpassungsfähigkeiten können eine Ressource
darstellen, um Veränderungen in der Lebensphase Alter bewältigen zu können. Gleichzeitig
nimmt die Anpassungsfähigkeit an die Gegebenheiten der Aufnahmegesellschaft ab. Erhöhter
Pflegebedarf, demenzielle Entwicklungen und andere degenerative Prozesse führen dazu, dass
erworbene Kompetenzen, wie das Sprechen der Zweitsprache, nachlassen. So werden Menschen
mit Migrationserfahrung erneut mit ihrer Migration und dem Fremdsein in der eigenen Lebenswelt
konfrontiert (vgl. Czycholl 2009: 30–31). Trotz des jahrzehntelangen Arbeitens und Lebens im
Anwerbeland, trotz Familiennachzug, bleibt es für viele Gastarbeiter_innen ein Altern in der Fremde
(vgl. Ertl 2009: 54).
3
Gastarbeiter_innen in palliativmedizinischen Versorgungskontexten
Es ist Aufgabe der Palliative Care, diesem Fremdheitsgefühl entgegenzuwirken, zu stützen und zu
begleiten, Symptome zu lindern und Ungleichheiten auszugleichen, so dass trotz der Erkrankung
und des näher rückenden Lebensendes die höchstmögliche Lebensqualität erreicht werden kann.
Dies kann nur mit einem lebensweltorientierten Zugang aller Berufsgruppen oder – übersetzt in die
Sprache der Palliative Care und mit Heller & Knipping (2007) – mit radikaler Betroffenenorientierung
erreicht werden:
„Radikales Interesse und Mitleidenschaft, Orientierung an den Äußerungen und
Wünschen, dem Lebenslauf und der Lebensgeschichte der Betroffenen bilden den
Ausgang allen Bemühens. Sich um schwer kranke und sterbende Menschen zu
kümmern, bedeutet in dieser radikalen Mitleidenschaft, die Unterschiede und
Besonderheiten, die unwiederholbare Einmaligkeit und den individuellen Charakter
wahrzunehmen, nicht zu verallgemeinern, sondern zu individualisieren und zu
personalisieren:NatürlichsindRegeln,StandardsundVerallgemeinerungeneinfacher.
Aber kein Mensch stirbt nach Standard, Schema, Guideline oder Pathway.“ (Heller/
Knipping 2007: 44)
Dabei können die Bedürfnisse der ehemaligen Gastarbeiter_innen nicht getrennt von ihren Biografien
betrachtet werden.
„Migrationsgeschichte kann Therapieentscheidungen und den bevorzugten Sterbe-
ort beeinflussen. Das Thema ‚Heimat‘ kann eine Quelle innerer Kraft sein, aber auch
StressundLeidaufverschiedenenEbenenauslösen.Somitist‚Migrationshintergrund‘
in der hospizlichen und palliativen Betreuung kein […] nebensächlicher Aspekt,
sondern prägt zentral die Lebenswirklichkeit eines Menschen.“ (Bükki 2019: 72)
Bedürfnisse von Menschen in Palliativbetreuung sind subjektiv, jedoch gibt es solche, die
immer wieder geäußert werden. Für die diesem Artikel zugrunde liegende Masterarbeit wurden
Interviews mit Palliativsozialarbeiter_innen sowie einer Angehörigen eines mittlerweile verstorbenen
Palliativpatienten geführt, der als Gastarbeiter nach Österreich kam. Die 14 am häufigsten in den
Interviews genannten Bedürfnisse wurden, aufgeteilt auf vier Dimensionen, in den nachfolgend
dargestellten „Kreis der Bedürfnisse“ eingeordnet. An dieser Stelle ist anzumerken, dass die
genannten Bedürfnisse sich weniger in ihrem Vorhandensein, sondern hauptsächlich in ihrer
Intensität und Bedeutung von jener von Menschen ohne Migrationserfahrung unterscheiden.
Abbildung1: Kreis der Bedürfnisse (Mandl 2019: 49).
VierderBedürfnissewerdenfolgendanhanddesFallbeispielsvonHerrnA. dargestellt. Dieverwende-
ten Zitate stammen aus den Interviews mit der Tochter und der betreuenden Palliativsozialarbeiter-
in.
Herr A. migrierte in den 1980er Jahren von Bosnien nach Österreich.
„Er ist vor dem Krieg in Bosnien nach Österreich gekommen, damals mit der Firma.
Er hat nach einer besseren Lebensperspektive gesucht, so dass er für uns sorgen
kann. Ist nach Österreich gekommen und hat hier gearbeitet und ist dann einfach
hiergeblieben. Er hat Österreich mehr als Heimat angesehen als Bosnien, wo er
herkommt. Und in der Zwischenzeit ist eben der Krieg ausgebrochen. Die Familie ist
kurz vorm Krieg, da wollten wir ihn besuchen, um zwei Wochen Urlaub zu machen,
nach Österreich gekommen und beim Zurückfahren haben wir dann gehört, dass die
Grenzen geschlossen sind, dass der Krieg ausgebrochen ist. Dann waren wir
gezwungen, hier zu bleiben. Und ich bin froh, dass es so passiert ist. Schicksal halt.“
(Interview 6: 1, Z.8ff.)
Frau A. war zu diesem Zeitpunkt acht Jahre alt. Von Kindheit an übersetzte sie für ihre Eltern und
unterstützte die Familie. Zu ihrem Vater hatte sie bis zu seinem Tod eine besonders gute Beziehung.
Herr A. arbeitete bis zum Jahr 2014 auf Baustellen. Kurz nach seiner Pensionierung bekam er die
Diagnose Glioblastom, ein maligner Hirntumor. Herr A. und seine Familie wurden von Dezember
2018 bis zu seinem Tod einige Monate später von einem mobilen Palliativteam betreut (vgl. Mandl
2019: 9).
3.1 Verstehen und verstanden werden
Sprachliche Barrieren können für Patient_innen, Angehörige und Professionist_innen zu
Schwierigkeiten führen, da Bedürfnisse und Wünsche ohne gemeinsame Sprache nur schwer
geäußert und verstanden werden können (vgl. Jansky/Nauck 2015: 22). Die Aufklärung über
Diagnosen, den weiteren Krankheitsverlaufs sowie die Besprechung weiterer in der Betreuung
relevanter Aspekte werden dadurch erschwert (vgl. Husebø/Mathis/Klaschik 2017: 3). Nicht alle
Palliativ- und Hospizeinrichtungen haben Zugang zu medizinisch geschulten Dolmetscher_innen.
Dadurch müssen oft Angehörige als Übersetzer_innen hinzugezogen werden, was aufgrund
möglicher Übersetzungsfehler, selektiver Weitergabe von Informationen und Problemen bei der
Thematisierung von Tabuthemen keine geeignete Lösung ist (vgl. Behzadi/Henke/Mauter/Thuss-
Patience 2018: 9). Nachfolgender Auszug aus dem Interview mit Frau A. beschreibt, wie sich das
Dolmetschen in schwierigen Situationen auf Angehörige auswirken kann.
„(IP): Er hat die Sprache durch die Arbeit gelernt, aber nicht so perfekt. Er hat am
Bau gearbeitet und hat nicht viele Möglichkeiten zur Kommunikation gehabt.
Also er hat sich verständigen können, hat ziemlich viel verstanden, und für alles
andere war ich verantwortlich. Als Kind schon, zum Übersetzen und überall
mitzugehen. Noch als Erwachsene, bis zu seinem Tod. Bis zu seinem Tod war ich für
ihn da.
Interviewerin (I): War das schwierig für dich?
IP: Es ist mir nicht schwergefallen, das Ganze zu übersetzen. Aber zum Schluss
dann schon. [IP beginnt zu weinen]. Jede Diagnose ist zuerst auf mich zugekommen
und ich habe es dann vor ihm vorspielen müssen, so dass er es nicht mitbekommt,
worum es geht. Und es ihm dann zu erklären, zu sagen was los ist. Es ist schwer.
I: Also war das, was sonst Aufgabe der Ärzte wäre, deine Aufgabe?
IP: Genau, weil es war für mich ja generell schwer, weil ich sehr an meinen Vater
gebunden war. Also ich habe immer gesagt, wir teilen uns eine Seele und das war
bis zum Schluss so. Und als er in Pension ging, hat er sofort die Diagnose bekommen,
da war ein Fleck auf dem Gehirn. Und für mich ist eine Welt zusammengebrochen,
als ich das gehört habe. Das Erste, was ich gedacht habe, war, dass er sterben wird.
‚Ich werde meinen Vater verlieren.‘ Und das war irrsinnig schwer, und ich bin in
Depression gefallen. Hatte Schwierigkeiten bei der Arbeit, konnte dann nicht Arbeiten.
Ich hatte das Gefühl, ich ersticke, es erdrückt mich etwas seelisch. Im Hinterkopf
war immer die Angst vor seinem Tod. Ich habe ihn aber trotzdem fünf Jahre lang
begleitet, jeden Arzttermin. Ich war überall mit dabei und habe die starke Person
gespielt und im Endeffekt hat es mich komplett zerrissen.“ (Interview 6: 1f, Z.25ff.)
Durch den vermehrten Einsatz professioneller Dolmetscher_innen könnten solche Situationen
verhindert werden. Patient_innen werden, dadurch dass Gespräche mit ihnen selbst stattfinden, als
Expert_innen ihrer Situation wahrgenommen, Angehörige dürfen in ihrer Rolle als Bezugspersonen
bleiben (vgl. Jansky/Nauck 2015: 25).
3.2 Berücksichtigung der Biografie
Die Auseinandersetzung mit der Biografie von Patient_innen und Angehörigen macht ihre Werte
und Wünsche verständlich. In der Zeit der Migration und in der ersten Phase des Ankommens im
Zielland gemachte Erfahrungen können in der letzten Lebensphase wieder an Relevanz gewinnen,
da der Abschied vom Herkunftsland ähnliche Entwicklungsaufgaben mit sich bringen kann, wie
der schrittweise Abschied vom Leben. Biographiearbeit ermöglicht Zugang zu Informationen über
verschiedene Symptome und Verhaltensweisen der Patient_innen (vgl. Akademie am Johannes-
Hospiz Münster/DRK 2018: 34).
„Ich glaube, dass die Tatsache, wo ich herkomme, aus welcher Familie, mit welcher
Vorgeschichte, komme ich aus einem Kriegsland, komme ich von einem anderen
Land, wo es friedlicher ist, was habe ich schon alles erlebt, das spielt eine große Rolle,
denke ich mir. Die Sprache, dass meine Muttersprache halt eine andere ist wie die
österreichische Sprache. Auch wenn ich die gut beherrsche vielleicht. Und die
Religion vermute ich, dass das ein Thema ist. Vor allem am Lebensende. Wenn einem
die Religion wichtig ist.“ (Interview 5: 4, Z. 88ff.)
3.3 Auswahl von Speisen und Getränken
Speisen und Getränke dienen nicht nur dazu, den Körper mit ausreichend Nährstoffen zu versorgen,
sondern können auch zum persönlichen Wohlgefühl und somit zur Lebensqualität beitragen. Sie
sind wichtiger Aspekt von Identität und Kultur, können beruhigen und Erinnerungen an das gelebte
Leben hervorrufen. Sie können eine wichtige Brücke zum Herkunftsland und den dort gelebten
Traditionen sein. Individuelle Speisenwünsche von Patient_innen sollen unbedingt berücksichtigt
werden (vgl. Behzadi et al. 2018: 8).
Neben einem vielfältigen Speiseangebot ist auch das Ritual des gemeinsamen Essens
wichtig. Wenn das gemeinsame Einnehmen von Mahlzeiten schon vor der Erkrankung gelebt wurde,
soll es so lange wie möglich beibehalten werden. Wichtig ist dabei, Patient_innen nicht zum Essen
zu zwingen, Appetitlosigkeit ist ein weit verbreitetes Krankheitssymptom (vgl. Mandl 2019: 62f.).
„Ich wollte ihm nicht das Gefühl geben, dass er im Bett essen muss oder so. Weil, es
war so ein Ritual. Er hat immer im Wohnzimmer gegessen und den Fernseher
eingeschalten. Und ich bin immer vor der Arbeit zu ihm gegangen, wir haben Kaffee
getrunken und schnell gefrühstückt und dann bin ich zur Arbeit gefahren, schon als
er noch gesund war. Und das haben wir bis zum Schluss gemacht, ich habe ihn in
den Rollstuhl gehoben und ins Wohnzimmer geschoben. So dass er das Gefühl hat,
es hat sich nicht viel verändert.“ (Interview 6: 8, Z. 237ff.)
3.4 Rückkehr
RückkehrinsHerkunftslandisteinhäufiggenannterWunschvonPatient_innenmitMigrationserfahrung
(vgl. Mandl 2019: 64f.). Diese ist aus gesundheitlichen, organisatorischen, sicherheitspolitischen
oder finanziellen Gründen nicht immer vor dem Versterben möglich. Wie im Falle der Familie A., ist
die Überführung des Leichnams für viele Patient_innen und Angehörige eine alternative Möglichkeit,
noch eine letzte gemeinsame Reise anzutreten.
„Was mir als erstes einfällt, ist, dass viele Personen mit Migrationshintergrund, die
wir betreuen, in ihrem Heimatland begraben werden wollen. Da gibt es so einen
Spruch, ‚Heimat ist da, wo man begraben wird‘, und der ist mir gleich eingefallen.
Eben, es scheint so, auch Leute, die schon 30 Jahre hier gelebt haben, wollen nicht
in Österreich begraben werden, sondern in ihrem Geburtsland.“ (Interview 1: 1, Z. 3ff.).
3.5 Resümee der Forschung und Einblick in die Praxis
Insgesamt, das haben die Interviews mit der Angehörigen und den Sozialarbeiter_innen im Rahmen
der Masterarbeit sowie regelmäßige Rückmeldungen von Patient_innen und Angehörigen in der
Praxis gezeigt, fühlen sich jene Patient_innen, die als Gastarbeiter_innen nach Österreich kamen,
sowie andere mit Migrationserfahrung in den Steiermärkischen Palliativversorgungseinrichtungen
gut betreut. Durch die ganzheitliche Betrachtung der Patient_innen, nicht nur auf körperlicher
Ebene, sondern auch hinsichtlich ihrer psychischen, sozialen und spirituellen Bedürfnisse, und
durch den Zugang der radikalen Betroffenenorientierung kann sehr individuell auf Wünsche und
Bedürfnisse eingegangen werden. So können Symptome wie Schmerzen oder Ängste gelindert,
das Wohlbefinden durch Maßnahmen wie Aromapflege oder die Organisation von Wunschfahrten
gesteigert, soziale Notlagen abgefedert und Angehörige entlastet und über den Tod der Patient_
innen hinaus sozialrechtlich und psychosozial begleitet werden.
Die Betreuung durch die mobilen Palliativteams und die ehrenamtliche Hospizbegleitung
sind für Patient_innen und Angehörige in der Steiermark kostenlos. Die stationären Hospize und das
Tageshospiz haben mittlerweile niedrige Tagsätze. Für diese, sollten sie dennoch für Patient_innen
nicht leistbar sein, werden Finanzierungslösungen gefunden. Aufenthalte auf Palliativstationen
werden bis auf die Selbstbehalte von den Krankenversicherungen übernommen. Dadurch ist es für
die meisten Menschen leistbar, all diese Angebote in Anspruch zu nehmen. Das primäre Ziel der
Palliative Care ist die höchstmögliche Lebensqualität trotz der schweren, unheilbaren Erkrankung
für Patient_innen und Angehörige. Das vielfältige Angebot der Palliativversorgung ermöglicht einen
großen, auf die individuellen Bedürfnisse der Einzelpersonen zugeschnittenen Handlungsspielraum.
Trotzdem gibt es nach wie vor Handlungsbedarf, um die Barrieren, die für Patient_innen mit
Migrationserfahrung bestehen, abzubauen. Der dringendste Handlungsbedarf besteht wohl auf der
sprachlichen Ebene, da bisher kaum professionelle Dolmetschangebote, erst recht keine kurzfristig
abrufbaren zur Verfügung stehen. Diese wären aber wichtig, um Bezugspersonen zu entlasten
und Patient_innen adäquat über ihre Erkrankung, Behandlungsmöglichkeiten, sozialrechtlichen
Ansprüche etc. aufzuklären. Neben dem Ausbau von Dolmetschangeboten würde auch ein Mehr
an sprachlicher und kultureller Vielfalt in den Pallliativteams dabei helfen, Barrieren abzubauen. Eine
weitere wichtige Maßnahme wären regelmäßige Schulungen zu interkulturellen Themenstellungen
für die Mitarbeiter_innen der Palliativeinrichtungen. Diese könnten dazu beitragen, dass
Lebenswelten von Patient_innen mit Migrationserfahrung besser verstanden, Vorurteile abgebaut
und Alltagsrassismen verhindert werden.
4
Ausblick und Fazit
Die österreichische Bevölkerung wächst nur noch durch Zuwanderung, mittlerweile haben ungefähr
einViertelder inÖsterreichlebendenMenscheneinen Migrationshintergrund. In den nächsten Jahren
ist ein weiterer Zuwachs zu erwarten (vgl. Statistik Austria 2023). Dies führt dazu, dass auch in den
Einrichtungen der steirischen Palliativversorgung immer mehr Menschen mit Migrationserfahrung
betreut werden. Im mobilen Palliativteam Graz/Graz-Umgebung haben Schätzungen der Autorin
zufolge derzeit ungefähr 15% der Patient_innen und Angehörigen Migrationserfahrung. Diese
bilden, anders als der öffentliche Diskurs teilweise vermittelt, keineswegs eine homogene Gruppe,
sondern haben, genauso wie Patient_innen und Angehörige ohne Migrationserfahrungen, vielfältige
Biografien, Wertvorstellungen, Wünsche, Ziele und Wege, mit ihren Erkrankungen umzugehen.
Dennoch stoßen sie aufgrund ihrer Migrationserfahrung überproportional häufig auf Barrieren
und Ungleichheiten im Gesundheitssystem. Es ist Aufgabe von Professionist_innen der Palliative
Care, weiter am Abbau dieser zu arbeiten sowie im Sinne einer radikalen Betroffenenorientierung
auf die individuellen Bedürfnisse von Patient_innen und Angehörigen einzugehen. Ziel ist es, ein
Versorgungssystem zu schaffen, welches sich an die Adressat_innen anpasst und nicht umgekehrt.
Der größte Veränderungsbedarf liegt jedoch nicht im Palliativbereich, sondern auf
gesellschaftspolitischerEbene.DurchdieüberdieJahrewiederrestriktiverwerdendeMigrationspolitik
in Österreich werden Menschen mit Migrationserfahrung zum Teil von Sozialtransferleistungen
ausgeschlossen. Der aktuelle politische Diskurs zum Thema, das laute Nachdenken darüber, dass
der Zugang zu Sozialleistungen noch restriktiver gestaltet werden soll, ist menschenfeindlich.
Die Tatsache, dass gleichzeitig Arbeitskräfte aus dem Ausland angeworben werden, zeigt seine
Doppelbödigkeit. Ganz offensichtlich werden die Fehler von damals schon wiederholt. Doch
bestehen diese nicht darin, dass ehemalige Gastarbeiter_innen in Österreich blieben, sich hier ein
Leben aufbauten und versuchten, ihre Träume zu erfüllen, sondern im Umgang mit ihnen und den
vielen Personen, die ihnen nachfolgten.
Verweise
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Das Hintergrundgespräch fand am darauffolgenden Montag, den 13. März 2023, statt, nachdem einige der in der Rede zur Lage der
Nation verkündeten Pläne in den Medien und der Gesellschaft für breite Kritik gesorgt hatten.
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Interviewverzeichnis
Interview 1: am 13.03.2019 geführt mit Sozialarbeiterin A im Büro der Sozialarbeiterin; Dauer: 55
Minuten, Volltranskription.
Interview 5: am 24.04.2019 geführt mit Sozialarbeiterin G in der Technischen Universität Graz; Dauer
30 Minuten, Volltranskription.
Interview 6: am 29.05.2019 geführt mit Fr. A., Tochter eines in Palliativbetreuung verstorbenen
Patienten in der FH JOANNEUM; Dauer: 45 Minuten, Volltranskription.
Über die Autorin
Tamara Mandl, BA MA
SozialarbeiterinimMobilenPalliativteamGraz/Graz-Umgebung;LehrtätigkeitanderFHJOANNEUM,
der HS Hannover sowie bei Interprofessionellen Basislehrgängen für Palliative Care.