soziales_kapital
Priska Buchner. (Trans-)Formation in der Corona-Pandemie: Neue Normalität oder alte Normie-
rungsprozesse? Impulse aus den eorien von Michel Foucault und Norbert Elias. soziales_kapital,
27. Ausgabe 2023
Akademisierung Sozialer Arbeit
(Trans-)Formation in der Corona-Pandemie:
Neue Normalität oder alte Normierungsprozesse?
Impulse aus den Theorien von Michel Foucault und
Norbert Elias
Priska Buchner
Zusammenfassung
Im Fokus der folgenden komparativen Analyse steht die Janusköpfigkeit von Emanzipations-
und Disziplinierungsprozessen, von Individualisierung und Homogenisierung, von Freiheit und
Anpassung. Während der Corona-Pandemie vollzog sich eine beispiellose Anpassungsleistung
von Bevölkerung, Regierung, Politik, Medien und Wissenschaft. Wie war das möglich oder,
genealogisch gefragt, was ist die Bedingung ihrer Möglichkeit? Norbert Elias und Michel Foucault
liefern spannende Impulse für ein besseres Verständnis der Prozesse in der Corona-Zeit, da sie
mit ihren genealogischen Verfahren die kontingenten Anfänge von Wissen, Programmen und
Praktiken untersuchen. Von besonderer Relevanz sind folgende, in der Komparation erarbeitete,
für die moderne Gesellschaft typische Kennzeichen: Pazifizierung bzw. das Verschwinden der
Körperlichkeit, Rationalisierung, Selbstkontrolle, Individualisierung/Homogenisierung, Schwund
des öffentlichen Raums/Verwiesenheit auf das Private, Disziplinargesellschaft. Wie folgend gezeigt
wird, bieten Elias‘ und Foucaults Untersuchungen von Subjektivierungspraktiken und -rationalitäten
fruchtbare Ansätze, um Disziplinierungs- und Normierungsmechanismen sichtbar und sich von
vermeintlichen Alternativlosigkeiten frei zu machen.
Schlagworte: Emanzipation, Anpassung, Normierungsprozesse, Verinnerlichung, Subjektivierung,
Genealogie, Corona-Pandemie
Abstract
The focus of my comparative analysis concerns the „janus-facedness“ or ensemble of emancipation
and disciplinary processes, of individualization and homogenization, of freedom and adaptation.
During the Corona pandemic, an unprecedented adaptive effort by the population, government,
politics, media, and academia took place. This raises the question: how was such a response
made possible and what are the conditions underlying this process? Through their genealogical
and power-critical analyses, Norbert Elias and Michel Foucault provide ideas for comprehending
the processes taking place during the Corona pandemic by examining the contingent origins of
knowledge, institutions, programs, and practices. The following characteristics, which are typical
of modern society, are particularly relevant: pacification or the disappearance of the physical
body, rationalization, self-control, individualization and homogenization, disappearance of public
space and retreat to the private, disciplinary society. The theories of subjectivation practices and
rationalities by Elias and Foucault provide promising approaches to reveal the mechanisms of
disciplining and norming mechanisms and to disengage from supposed lack of alternatives.
Keywords: emancipation and adaptation, norming processes, internalization, subjectification,
genealogy, corona pandemic
1
Einleitung
Norbert Elias und Michel Foucault befassten sich mit gesellschaftlichen Transformationen: Elias
im Prozess der Zivilisation (1978; 1979) über 1000 Jahre hinweg, Foucault in Überwachen und
Strafen (1977) beim Übergang in die Moderne. Sie analysierten, wie Vorstellungen von Normalität
und Abweichung formiert, legitimiert, stabilisiert und selbst wieder transformiert werden.
Während der Corona-Pandemie vollzog sich eine beispiellose Anpassungsleistung von
Bevölkerung, Regierung, Politik, Medien und Wissenschaft. Unter welchen Voraussetzungen war
diese Formation möglich? Was war und ist die Bedingung ihrer Möglichkeit? Für eine Analyse dieser
Prozesse sind Elias‘ und Foucaults Schriften aufschlussreich, da sie „bei jedem geschichtlichen
Gebilde nach seiner Genese“ (Elias 1978: LXXVII) fragen, also Genealogie betreiben: Ein
machtkritisches Verfahren, das sich für die ‚Entstehungsherde‘ einer Institution oder von Wissen
interessiert. Beide Denker gehen dabei von der Kontingenz historischer Phänomene aus, die zwar
auch anders möglich, aber nicht beliebig sind, da sie in eine bestimmte Ordnung eingebettet sind.
Diese Ordnung will die Genealogie sichtbar machen, um die Gegenwart mit Hilfe der Geschichte
zu begreifen, „die Geschichte der Gegenwart zu schreiben“ (Foucault 1977: 7). Sowohl Elias als
auch Foucault wollten mit ihren Arbeiten Aufschluss über moderne Normierungsprozesse geben:
„Hier breche ich dieses Buch ab, das verschiedenen Untersuchungen über die Normierungsmacht
und die Formierung des Wissens in der modernen Gesellschaft als historischer Hintergrund dienen
soll“ (Foucault 1977: 397), lautet der letzte Satz von Überwachen und Strafen. Elias hofft, mithilfe
seines Werkes zu einem „klareren Verständnis“ von Zivilisationsprozessen beizutragen, um sie
einer „bewussteren Lenkung“ zugänglich zu machen (Elias 1979: Rückklappentext). Dieses soll im
Folgenden versucht werden.
Gehen wir in eine kurze Rückblende in den April 2020: Olaf Scholz, damals noch deutscher
Bundesfinanzminister, und Jens Spahn, damaliger Bundesgesundheitsminister, rufen in mehreren
Reden die ‚neue Normalität‘ aus. Die Anrufung soll beruhigen, stabilisieren und Ordnung herstellen.
Sie ist verknüpft mit der Botschaft, dass man eine bestimmte Realität anerkennen und sich
in ihr einrichten soll – unabhängig davon, was man von ihr halte. Sie sei, wie sie sei, und nun
müsse man sich an sie gewöhnen. Im konkreten Fall forderte die Regierung dazu auf, mit den
Beschränkungen der Corona-Pandemie zu leben. Zentrales Element der angerufenen Normalität
und Realität ist die Einhaltung sozialer Distanz: AHA-L Regeln, kein Händeschütteln, Homeoffice und
Distanzunterricht, Verwiesenheit auf die Kernfamilie, keine Feiern, Konzerte, Kinos, Gottesdienste,
Restaurantbesuche, Reisen. Stattdessen zunehmender Individualverkehr, Maske tragen, testen,
impfen und entsprechende 1/2/3G-Regeln.
Die Abnahme des öffentlichen Raums, die Verlegung physischer Kontakte ins Private,
zunehmende Fernkommunikation und Hygienemaßnahmen, die Ausdifferenzierung von
Verhaltensregeln und deren Kontrolle, die Verinnerlichung der Disziplin und Anonymisierung von
Autoritäten – Entwicklungen, die von Elias in seiner Zivilisationstheorie und Foucault in der Theorie
der Disziplinargesellschaft herausgearbeitet wurden. Werte wie Sicherheit, Schutz, Hygiene,
Gesundheit, Prävention wurden in der Moderne zu Universalien und Selbstverständlichkeiten.
Sie sind keine neuen Erscheinungen der Corona-Pandemie und stellen auch keine besonderen
Abweichungen von der Regelhaftigkeit zivilisatorischer Entwicklungen dar, sondern sie sind in
der Tendenz typisch für den westlichen Zivilisierungs- und Disziplinierungsprozess und bekamen,
legitimiert durch die Pandemie-Bekämpfung, einen starken Schub. Im Folgenden werden Aspekte
dieses Normierungsprozesses genealogisch verortet.
2
Veränderung der Produktions- und Eigentumsverhältnisse – Pazifizierung
und Rationalisierung
Die Entwicklung des Kapitalismus spielt bei Elias und Foucault eine zentrale Rolle. Mit wachsender
Bevölkerung und knapper werdendem Boden kommt es im 16. Jahrhundert zu einer beschleunigten
„Monetarisierung und Kommerzialisierung“ (Elias 1979: 243), die eine Reihe miteinander verflochtene
Mechanismen in Gang setzen. Relativ freie Konkurrenzkämpfe wandeln sich in gebundenere, in
denen Besitz und Macht weiter akkumuliert werden und Monopole entstehen (vgl. ebd.: 146).
Es kommt zur Integration von immer mehr Menschen in größeren Gebieten, immer mehr Städte
entstehen, ein neuer Stand bildet sich, das Bürgertum. Das Zusammenleben vieler Menschen
erfordert und fördert die zunehmende Differenzierung ihrer Funktionen und ein mobileres und
flexibleres Tauschmittel. Das Geld, „die Inkarnation der Funktionsteilung“ (ebd.: 205), löst den
Boden als wichtigstes Produktionsmittel ab.
Aufstiegswille und Kampf gegen den Abstieg sind nach Elias Hauptmotoren in der
Geschichte des Abendlandes, die in verschiedenen Epochen unterschiedliche Formen annehmen
(vgl. ebd.: 356). Heute sei es „selbstverständlich, daß die Erzeugung und vor allem auch der Erwerb
von Produktions- und Konsumtionsmitteln normalerweise ohne Androhung und ohne Ausübung
körperlich-militärischer Gewalt von statten geht. Nichts ist weniger selbstverständlich“ (ebd.: 205).
Es ist, wie auch Foucault feststellt, eine Errungenschaft der Zivilgesellschaft, dass man „das Recht,
sich zu verteidigen, auf den Souverän übertragen“ hat und darauf verzichtet, „selbst von den Waffen
Gebrauch zu machen“ (Foucault 2015: 77).
Elias und Foucault beschreiben beide die Körperlichkeit und Sinnlichkeit des Daseins der
Menschen in der Feudalgesellschaft, in der Fleischeslust und Fleischesschmerz nah beieinander
liegen. Die ausführliche Darstellung des „Fest[s] der Martern“ (Foucault 1977: 44), die Foucault uns
zumutet, wirkt aus moderner Sicht unfassbar grausam. Wie auch Elias feststellt, hatten Leben und
Tod eine andere Stellung: „Den Tod nicht zu fürchten, war eine Lebensnotwendigkeit für den Ritter“,
aber auch im „Leben der Bürger in den Städten“ seien „Angriffslust, Haß und die Freude an der Qual
anderer ungebändigter“ gewesen“ (Elias 1978: 271f.). Die Lust wie der Tod gehörten zum Alltag.
Ähnlich erklärt Foucault die Hemmungslosigkeit der körperlichen Gewalt in der Marter:
„Gewiß hängt die ‚Verachtung‘ des Körpers auch mit einer allgemeinen Einstellung
zum Tod zusammen, in der […] die demographische und gewissermaßen biologische
Situation eine Rolle spielt: die Verheerungen der Krankheit und des Hungers, die
periodischen Massaker der Epidemien, die ungeheure Kindersterblichkeit, die
Labilität der bio-ökonomischen Gleichgewichte – all das machte den Tod vertraut und
ließ um ihn herum Rituale entstehen, die ihn integrieren und annehmbar machen,
seiner ständigen Aggression einen Sinn verleihen sollten.“ (Foucault 1977: 72)
Diese körperlichen Konfrontationen nehmen parallel zur beschleunigten Monetarisierung ab.
WährenddasGeldvolumenwächstundseinWertsinkt, kommtesnachEliaszueinerRationalisierung
und Pazifizierung (vgl. Elias 1979: 377, 354), die auch Foucault beobachtet: „Seit dem Ende des
17. Jahrhunderts ist tatsächlich eine beträchtliche Abnahme der Blutverbrechen und überhaupt der
physischen Gewaltsamkeiten zu bemerken; die Eigentumsdelikte scheinen die Gewaltverbrechen
abzulösen.“(Foucault1977:95f.)DasGeldalsdas„Gesellschaftsinstrument“, dasdieTransformation
„am genauesten anzeigt“ (Elias 1979: 360), ist verglichen mit Boden und Schwert ein körperloses,
abstraktes Machtmittel. „In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts“ findet sich „der Protest gegen
die peinlichen Strafen [...] überall“, schreibt Foucault (1977: 93): „Wie der Nahkampf“ soll jetzt auch
in Strafverfahren das Physische verschwinden. Foucault verweist hier auf eine Veröffentlichung
des französischen Justizministeriums, der zufolge die „der Menschlichkeit ins Gesicht schlagenden
Martern abgeschafft werden [sollen]“ (Foucault 1977: 93).
Tatsächlich sind in einer monetarisierten Gesellschaft die Strukturen der Feudalmacht
„zu ‚kostspielig‘ im eigentlichen Sinn des Wortes“ (ebd.: 280). Die für eine solche Gesellschaft
geeigneten Machtmechanismen dürften nicht „durch Abschöpfung wirken, sondern im Gegenteil
durch Wertschöpfung […]. An die Stelle des Prinzips von Gewalt/Beraubung setzen die Disziplinen
das Prinzip von Milde/Produktion/Profit“ (ebd.: 281). Auch nach Elias ist es nun weniger die
Repression einer bestimmten Person wie des Souveräns, die „zu Triebverzicht, Triebregelung
und Zurückhaltung zwingt“, sondern es sind „weniger sichtbare und unpersönlichere Zwänge der
gesellschaftlichen Verflechtung, der Arbeitsteilung, des Marktes und der Konkurrenz“ (Elias 1978:
206f.). Sowohl Foucault als auch Elias erklären die Verschiebung der Unterwerfungsmechanismen in
der pazifizierten Gesellschaft vom Körper auf die Seele nicht mit humanistischen Motiven, sondern
verorten sie in der Logik des Kapitals.
3
Die Genealogie der Ratio
Um die „Akkumulation von Menschen“ in immer größeren Gebieten zu bewältigen, musste man sich
Foucault zufolge „einer verfeinerten und kalkulierten Technologie der Unterwerfung/Subjektivierung“
bedienen (Foucault 1977: 283). Für diese prägt er den Begriff der Disziplinierung, Elias den der
Zentralisierung und Zivilisierung. Zentral ist für beide „eine bessere Kontrolle der gewaltsamen
Triebe“ (ebd.: 96). Je mehr Menschen auf engem Raum aufeinander angewiesen und in langen
„Interdependenzketten“ (Elias 1979: 317) verflochten sind, desto mehr Vorteile hat, wer seine „Affekte
zu dämpfen vermag“ und „über den Augenblick hinaus in die vergangenen Ursach-, die zukünftigen
Folgeketten“ (ebd.: 322 f.) denken kann. Diese Art des Denkens ist, was wir üblicherweise unter
Ratio oder Vernunft verstehen. Elias und Foucault zeigen in ihren genealogischen Analysen, dass
sie nicht mit Gewaltfreiheit gleichgesetzt werden kann:
„[W]enn auch die Anwendung körperlicher Gewalt aus dem Verkehr der Menschen
nun zurücktritt, […] übt der Mensch auf den Menschen nun in mannigfachen,
anderen Formen Zwang und Gewalt aus. [...] Intrigen, Kämpfe, bei denen um Karriere
und sozialen Erfolg mit Worten gestritten wird, […] verlangen und züchten andere
Eigenschaften, als die Kämpfe, die mit der Waffe ausgefochten werden können:
Überlegung,BerechnungauflängereSicht,Selbstbeherrschung,genauesteRegelung
der eigenen Affekte, Kenntnis der Menschen und des gesamten Terrains werden zu
unerläßlichen Voraussetzungen jedes sozialen Erfolges.“ (Elias 1979: 369f.)
Sich zurückzunehmen und gegebenenfalls zu verstellen, instrumentelle Vernunft und psychologische
Kenntnis der Mitmenschen sind Fähigkeiten, die in der Feudalgesellschaft weniger Vorteile bringen.
Rationalität ist nicht universal, sondern funktional und sozial bedingt: was rational ist, verändert sich
mit den Gesellschaften.
Die zunehmende funktionale Differenzierung und die damit verbundenen immer längeren
Interdependenzketten erzeugen eine „gleichmäßigere Abhängigkeit aller von allen“ (Elias 1979:
430), die mehrere Effekte hat. Die Menschen entwickeln eine andere, weitreichendere Vorsicht,
Langsicht und Rücksicht, mit der eine stärkere Trieb- und Affektregulierung einhergeht (vgl. ebd.:
328f.). Sie handeln und interagieren körperferner und diese restringierte Körperlichkeit wird mit Ratio
gleichgesetzt. Anhand zahlreicher Analysen von Manierenschriften zeigt Elias, „wie die Menschen
im Laufe der Zivilisationsbewegung alles das zurückzudrängen suchen, was sie an sich selbst als
‚tierische Charaktere‘ empfinden“ (Elias 1978: 162). Am Beispiel des veränderten Verhaltens im
Schlafraum macht er deutlich, wie alles, was als triebhaft oder tierisch betrachtet werden kann,
„in einer bestimmten Enklave, der Kleinfamilie, gleichsam eingeklammert“ (ebd.: 247) und also
privatisiert wird. Die Gründe, warum ein Benehmen, eine Tischsitte oder ein bestimmter sprachlicher
Ausdruck erwünscht und andere unerwünscht sind, seien nicht rationaler Natur, vielmehr diene das
Gebot als solches der sozialen Distinktion (vgl. ebd.: 152–167). Dementsprechend werden in dieser
Phase Gebote auch nicht begründet, da Begründungen die Selbstverständlichkeit untergraben
könnten, die diese für jeden distinguierten Menschen haben sollen.
Im Lauf der Zivilisationsbewegung steigt die „Peinlichkeitsschwelle“ stetig an, indem alle
körperlichen Funktionen „‚hinter die Kulissen‘ des gesellschaftlichen Verkehrs“ (ebd.: 222) verlagert
werden, ein Prozess, der laut Elias erst im Nachhinein, beispielsweise als Hygienemaßnahme,
gerechtfertigt wurde. So ist die Rationalisierung von Verhalten und Handlungen, also deren
Begründung, zwar eine typische Entwicklung der Moderne, aber nicht zwingend ein Nachweis ihrer
‚Rationalität‘.
„[W]as wir substanzialisierend ‚Ratio‘ oder ‚Verstand‘ und ‚Vernunft‘ nennen […,]
existiert nicht [...] relativ unberührt von dem geschichtlich-gesellschaftlichen Wandel
[…]. Es gibt nicht eigentlich eine ‚Ratio‘, es gibt bestenfalls eine ‚Rationalisierung‘.“
(Elias 1979: 378)
In seiner „Soziogenese des Physiokratismus“ (Elias 1987: 55) beschreibt Elias die rhetorische
Gleichsetzung der Vernunft mit Natur, wodurch jedes abweichende Vernunft-Verständnis gleichzeitig
etwas Widernatürliches wird. Ein Infragestellen des Vernunft-Begriffs wird damit nahezu unmöglich.
Auch Foucault erwähnt die Physiokraten, die sich dadurch auszeichneten, dass sie moralisch-
rationales Verhalten auf Produktivität bezogen: Delinquenz besteht demzufolge im „Umherwandern,
keinen festen Ort zu haben, nicht durch eine Arbeit bestimmt zu sein. Das Verbrechen beginnt,
wenn man keinen Personenstand hat, […] ohne festen Wohnsitz“ (Foucault 2015: 71f.) ist. Detailliert
zählt er sodann die ökonomischen Schäden dieses „ewigen Ortswechsels“ auf. Das Unvernünftige
ist das Unökonomische. Ebenso wie Elias versteht auch Foucault unter Rationalität nicht den Bezug
auf
„eine transzendentale Vernunft, sondern auf historische Praktiken, in deren Kontext
Wahrnehmungs- und Beurteilungsstrategien generiert werden. [Rationalität] impliziert
also keine normative Wertung, sondern besitzt vor allem relationale Bedeutung: ‚Die
Zeremonie einer öffentlichen Folter ist für sich genommen nicht irrationaler als die
Einsperrung in einer Zelle; aber sie ist irrational in Bezug auf […] die Wirkungen[, die
man] zu erzielen sucht.“ (Lemke/Krasmann/Bröckling 2000: 20)
Für dieses Miteinander einer bestimmten Praktik mit einer bestimmten Rationalitätsordnung, kurz
eine „Rationalisierungspraxis“ (Maurer/Weber 2006: 13), prägte Foucault den Begriff Macht/Wissen-
Komplex. In diesem Komplex ist Wissen eben nicht „neutral“, sondern eine „Bearbeitung der
Realität […], an der dann politische Technologien ansetzen können“, um „Subjekte […] zu regieren“
(Lemke et al.: 20f.). Ein weiteres Beispiel für Rationalisierung ist bei Foucault die Disziplinierung bzw.
Dressur des Körpers. Die Zu- und Ausrichtung des Verhaltens erfolgt nicht über Begründung und
Einsicht, sondern über die „Mechanik einer Dressur“ (Foucault 1977: 232). „Im Laufe des klassischen
Zeitalters spielte sich eine Entdeckung des Körpers als Gegenstand und Zielscheibe der Macht ab
[…], den man manipuliert, formiert und dressiert“ (ebd.: 174). Insofern sind die „Entdeckung des
Körpers“ und die Verlegung seiner Funktionen, „dieses ‚Hinter-die-Kulissen-Verlegen‘ des peinlich
Gewordenen“ (Elias 1978: 163), das Elias beschreibt, kein Widerspruch, sondern zwei Seiten der
gleichen Medaille: Erst der bearbeitete, zivilisierte Körper kann zurückgenommen und abgesondert
werden.
4
Selbstkontrolle, Individualisierung und Homogenisierung
Die von Foucault und Elias beschriebenen sozialen Wandlungen verlangten und bildeten eine neue
Form von Individuum: ein Subjekt, das auch in einer größeren Menschenmenge identifizierbar,
kontrollierbar und nützlich ist, und zwar auf eine politisch und ökonomisch effiziente Weise: als
Arbeitskraft, Konsument, Peer der Macht. Die erforderliche Effizienz ist Foucault zufolge aber nur
erreichbar, wenn das Subjekt sich selbst kontrolliert, selbst rational respektive ökonomisch denkt
und sich zum „homo oeconomicus“ (Foucault 1977: 158, Herv.i.O.) optimiert. Auch Elias analysiert,
wie und warum der Mensch diese Selbstkontrolle erlernt. Er beschreibt sie als Ablösung von
Fremdzwängen (beispielsweise Waffengewalt) durch Selbstzwänge wie den eigenen Aufstiegswillen
und das Bedürfnis, sich nach unten abzugrenzen. Primäres Motiv dafür sei das Grundgefühl der
Angst: „Ängste vor dem Verlust des unterscheidenden, des ererbten oder vererblichen Prestiges“
sind, mehr als Ängste vor physischen Entbehrungen und Schmerzen, durch Erziehung konditioniert
und „verfestigen sich […] zu inneren Ängsten, die […] unabhängig von jeder Kontrolle durch andere,
automatisch gebunden halten“ (Elias 1979: 449) und so tiefer und bindender als eine Repression
von außen oder ‚oben‘ wirken.
Foucaults Analyse der Selbstkontrolle als Folge der Sichtbarkeit liest sich zunächst etwas
anders, da es in der Metapher des Panopticons um eine Kontrolle von außen geht, jedoch beschreibt
er ebenfalls die allmähliche Internalisierung:
„Derjenige, welcher der Sichtbarkeit unterworfen ist und dies weiß, übernimmt die
Zwangsmittel der Macht und spielt sie gegen sich selber aus; er internalisiert das
Machtverhältnis, in welchem er gleichzeitig beide Rollen spielt, er wird zum Prinzip
seiner eigenen Unterwerfung. Aus diesem Grunde kann ihn die äußere Macht
von physischen Beschwerden befreien. Die Macht wird tendenziell unkörperlich,
und [...] um so beständiger, tiefer, endgültiger und anpassungsfähiger werden ihre
Wirkungen […].“ (Foucault 1977: 260f.)
Deutet man Sichtbarkeit als die ständige Vor-, Rück-, und Weitsicht der Menschen, die in langen,
differenzierten Interdependenzketten versuchen, die Aktionen und Reaktionen der anderen zu
antizipieren, zeigt sich die Ähnlichkeit zu Elias’ Beschreibungen. Während in einer „einfachen
natural-wirtschaftenden Krieger-Gesellschaft […] die Menschen […] immer gewärtig sein [müssten]
mit der Waffe in der Hand angegriffen zu werden“, verlange der
„Verkehr auf den Hauptstraßen einer großen Stadt in der differenzierten Gesellschaft
unserer Zeit […] eine ganz andere Modellierung des psychischen Apparats. […] Die
Hauptgefahr, die hier der Mensch für den Menschen bedeutet, entsteht dadurch,
daß irgend jemand inmitten dieses Getriebes seine Selbstkontrolle verliert.“ (Elias
1979: 318f.)
Das Leben in großen, interdependenten Menschengruppen erfordert Einfühlungsvermögen und
psychologische Kenntnisse. In diesem Sinne ist Empathie, wie Ratio, ein Produkt gesellschaftlicher
Bedingungen.
Die Kehrseite dieser Individualisierung, der ausgeprägten Wahrnehmung der eigenen
inneren und äußeren Eigenschaften und der anderer, ist die Homogenisierung der Gesellschaft. Das
Assimilationsstreben „der Aufsteigenden“ führt zu einer „Amalgamierung“ der Verhaltensformen,
das Aufstiegs- und Distinktionsbedürfnis des Menschen zu einer Angleichung an die Gebote und
„Über-Ich-Apparatur“ der oberen Schichten (vgl. Elias 1979: 428).
Die Normierungsmacht, um größere Menschengruppen zu disziplinieren, wirkt also
gleichzeitig homogenisierend und „individualisierend, da sie Abstände mißt, Niveaus bestimmt,
Besonderheiten fixiert und die Unterschiede nutzbringend aufeinander abstimmt“ (Foucault 1977:
237f.). Gerade wenn alle gleicher werden, werden Abgrenzungen besonders wichtig. Der*die
Einzelne muss in der Masse identifizierbar bleiben und die anderen identifizieren können. Diesen
Aspekt analysiert Foucault als „absteigende Individualisierung“ in der Disziplinargesellschaft, in der
anders als in der Feudalgesellschaft nicht der Souverän das sichtbare Individuum ist, sondern der
Bürger. Die Disziplinarmacht
„setzt sich durch, indem sie sich unsichtbar macht, während sie den von ihr
Unterworfenen die Sichtbarkeit aufzwingt. In der Disziplin sind es die Untertanen, die
gesehen werden müssen, die im Scheinwerferlicht stehen, damit der Zugriff
der Macht gesichert bleibt. Es ist gerade das ununterbrochene Gesehenwerden, das
ständige Gesehenwerdenkönnen,…was das Disziplinarindividuum in seiner
Unterwerfung festhält.“ (Foucault 1977: 241)
5
Subjekt und Macht
In diesen Prozessen objektivierte der moderne Mensch sich allmählich zu einem
empirischen Forschungsgegenstand. Gleichzeitig entwickelten sich Subjektivierungs- bzw.
Individualisierungsverfahren,„jenePraktiken,TechnikenundÜbungen“,durchdieeinIndividuumsich
letztlich selbst als Subjekt begreift und anerkennt (vgl. Rieger-Ladich 2004: 204) und die es erst zum
Agenten seiner eigenen Unterwerfung werden lassen. Für diese Operationen, mit denen Menschen
und ihr Verhalten sowohl beobachtet als auch ab- und ausgerichtet werden, prägte Foucault das
Begriffspaar „objektivierende Vergegenständlichung und subjektivierende Unterwerfung“ (Foucault
1977: 247). Elias beschreibt diesen Prozess ebenfalls:
„DiederartimZusammenlebenerzeugtenselbsttätigen,individuellenSelbstkontrollen,
etwa das ‚rationale Denken‘ oder das ‚moralische Gewissen‘, schieben sich nun
stärker und fester gebaut als je zuvor zwischen Trieb- und Gefühlsimpulse […]. Das
ist der Kern der individuellen Strukturveränderung […], die etwa von der Renaissance
an, ihren Ausdruck in der Vorstellung von dem einzelnen ‚Ich‘ im verschlossenen
Gehäuse findet, von dem ‚Selbst‘, das durch eine unsichtbare Mauer von dem, was
draußen vor sich geht, abgetrennt ist.“ (Elias 1978: LXI f.)
Gerade die von Elias beschriebenen Selbstkontrollen, die Fähigkeit also, die eigenen Gedanken
und Gefühle zurückzuhalten, erscheinen dem Menschen wiederum als Bestätigung, Subjekt und
Objekt voneinander trennen zu können. Sie vertieften die Individualisierung, das Selbstverständnis,
ein getrenntes Individuum zu sein. Auf diese Weise stellt sich oft das „Abgekapselte […], die
zurückgehaltenen, [...] verhinderten Trieb- und Affektimpulse der Menschen […] als das eigentliche
Selbst, als Kern der Individualität dar“ (ebd.: LXII f.).
„Die ‚Aufklärung‘, welche die Freiheiten entdeckt hat, hat auch die Disziplinen erfunden“
(Foucault 1977: 285), lautet somit Foucaults Kritik an der Aufklärung und sie wird durch seinen
spezifischen Disziplin-Begriff verständlich. Eine simplifizierende Beschreibung, der zufolge der
Mensch vor der Aufklärung freier und besser gelebt habe, wird jedoch dem „komplizierten Zugleich“
(Rieger-Ladich 2004: 204, Herv.i.O.) seines Denkens nicht gerecht. Zwar brachte die Aufklärung
Freiheit in Form eines Rückgangs physischer Gewalt und Willkür sowie einer Vervielfachung
individueller Optionen. Sicherheit und Optionen mussten indes mit Disziplin erkauft und abgesichert
und mit der Verlagerung der Trieb- und Affektkontrolle nach innen gekehrt werden. Ein plötzlich
über das Individuum hereinbrechender Fremdzwang wandelt sich in einen gleichmäßigeren und
stabileren Selbstzwang. Elias wie Foucault zeichnen eine Verschiebung der Disziplinierung/
Zivilisierung entlang der Achse Körper-Seele-Selbstkontrolle.
„Der Mensch ohne Restriktionen ist ein Phantom“ (Elias 1978: 298), schließt Elias aus
seinen soziohistorischen Analysen und verdeutlicht das Zugleich von Freiheit und Gebundenheit:
Jede Antithese zeigt eine Relation an. Je mehr äußere Freiheiten zunehmen, umso mehr wachsen
die inneren Zwänge. So ergibt sich „aus der Interdependenz der Menschen“ durch zunehmende
Differenzierung und Funktionsteilung „eine Ordnung von ganz spezifischer Art, eine Ordnung, die
zwingender und stärker ist, als Wille und Vernunft der einzelnen Menschen, die sie bilden“ (Elias
1979: 314, Herv.i.O.).
Das Bild eines solchermaßen befreit-disziplinierten Subjekts wirft die Frage nach seiner
Stellung in Machtverhältnissen auf. In seiner Repressionshypothese weist Foucault die Vorstellung
zurück, dass Macht- bzw. Unterwerfungsmechanismen lediglich von oben nach unten verlaufen.
Eher solle man sie sich „wie ein Beziehungsnetz von oben nach unten und bis zu einem gewissen
Grade auch von unten nach oben und nach den Seiten“ (Foucault 1977: 228f.) vorstellen. Auch
funktionieren solche Mechanismen nicht nur mit Repression – täten sie dies, wären sie leicht zu
unterlaufen. Macht ist nach Foucault allerdings „hinterhältiger […], indem sie Begehren schafft, Lust
hervorruft und Wissen hervorbringt“ (Sarasin 2016: 162). „Hinterhältig“ ist Macht insofern, als sie sich
nicht pompös und für alle hör- und sichtbar zeigt, sondern verinnerlicht und kompensiert. Gleichzeitig
greift die Vorstellung einer Dichotomie anonymer Machtstrukturen und passiver Subjekte ebenfalls
zu kurz, denn letztere können selbst als „ein Stück der Herrschaft“ (Foucault 1977: 42) verstanden
werden. Auch Elias’ Theorie der Verflochtenheit von Psycho- und Soziogenese überschreitet
oppositionelle Vorstellungen von Unterwerfung durch ‚die Gesellschaft‘ und Unterworfenheit ‚des
Subjekts‘.
In Die Strafgesellschaft schildert Foucault eine „starke Vermehrung von Moralgesell-
schaften“ (Foucault 2015: 150) ab dem Ende des 18. Jahrhunderts. Diese waren Freiwilligengruppen,
„die nicht von oben organisiert waren“ und „die sich die Überwachung, Kontrolle und Bestrafung
explizit zum Ziel setzten“ (ebd.: 147), zunächst aus Selbstschutz, um dem außerordentlich harten
englischen Strafgesetz zu entgehen, doch später engagierten sie sich selbst „für die Erlassung
neuer Verordnungen, neuer Gesetze [...]. Sie intervenier[t]en als Interessengruppen bei der
Macht und nicht als Selbstverteidigungsgruppen gegenüber der Macht“ (ebd.: 153). Bürgerliche
„Selbstverteidigungsgruppen mit paramilitärischem Charakter“, „private Polizeivereine zur
Sicherung des Eigentums“ (Sarasin 2016: 157) sowie Sittlichkeitsvereine entstanden und setzten
sich beispielsweise dafür ein, „dass der Sonntag respektiert wird“ (Foucault 2015: 148). Das heißt,
sie versuchten zu verhindern, „dass sich die Leute zerstreuen, in Wirtshäuser gehen, sich dort treffen
und Geld ausgeben“ und wollten „das Spiel und den Rausch als Quellen der Geldverschwendung
und Behinderung der Arbeit […] unterbinden“ (ebd.). Die Form, in der das Subjekt zum Akteur und
Wächter von Moral und Ordnung wird, ist für Foucault der Ursprung der Disziplinargesellschaft.
6
Panoptismus bei Foucault und Vergesellschaftung bei Elias
Die Ähnlichkeit von Foucaults Panopticon mit der Elias‘schen Zentralisierung und Monopolisierung
in Bezug auf eine absolutistische Einherrschaft liegt auf der Hand. Während das Panopticon
eine Disziplinarinstitution beschreibt, bezeichnet der Panoptismus die Disziplinargesellschaft, in
der die Menschen zeitlebens in Institutionen eingebunden sind und die Disziplinierungspraktiken
darüber hinaus in den von den Institutionen „offengelassenen Lücken“ wirken, kurz, in der
Gesamtgesellschaft „koextensiv“, unsichtbar und verinnerlicht sind (vgl. Foucault 1977: 276).
Elias’ Definition der „entwickelteren Nationalstaaten“ mit einem hohen Grad von Differenzierung,
Integrierung und vergesellschafteten Monopolen (vgl. Elias 1978: XLIV), weist viele Parallelen dazu
auf: Wie bei Foucault wird das panoptische Prinzip koextensiv bzw. „vergesellschaftet“ (Elias 1979:
148).
Panoptismus bzw. Vergesellschaftung ist charakterisiert durch Anonymität und
Unsichtbarkeit der Überwachung, was diese zu einem äußerst flexiblen, ökonomischen Medium
der Normalisierung macht. Sie wirkt durch Techniken der Objektivierung (Sichtbarwerden) und
Subjektivierung (Verantwortlichwerden) des Individuums. Große Gesellschaften können so regiert,
kontrolliert und pazifiziert werden, und zwar in mehrfacher Weise: Erstens überträgt der Einzelne
das Recht des Waffengebrauchs auf die Zentralmacht (vgl. Foucault 2015: 77). Zweitens kann die
Zentralmacht in der Regel auf physische Gewalt verzichten und „Gewalt und Zwang durch die
sanfte Wirksamkeit einer bruchlosen Überwachung ersetzen“ (Foucault 1977: 320). Drittens geht
die physische Gewalt zwischen den Subjekten zurück, weil diese sich selbst überwachen, selbst
kontrollieren und andere Formen der Interessensdurchsetzung und Konfliktlösung entwickeln.
Nach Foucault ist die vielleicht bedeutsamste Funktion des Panoptismus, dass die „Macht
automatisiert und entindividualisiert“ (Foucault 1977: 259), anonym wird, während die Unterworfenen
identifiziert und individualisiert, also zunehmend differenziert werden. Dabei haben die Disziplinen
einen durchaus demokratischen Charakter. Die Verfügungsgewalt geht in die Hände einer größeren
Zahl von Menschen über, Gleichgestellte und Peers kontrollieren sich selbst und gegenseitig,
der Disziplinarapparat wird diskreter, effizienter, alltäglicher und allgegenwärtiger. „Dieses Netz
‚hält‘ das Ganze und durchsetzt es mit Machtwirkungen, die sich gegenseitig stützen: pausenlos
überwachte Überwacher.“ (Foucault 1977: 228) Damit ergibt sich ein hochorganisiertes, gebundenes
Konkurrenzfeld, das nicht mehr frei erkämpft werden kann, und das starke Beharrungskräfte, eine
hohe Stabilität aufweist.
Je mehr Menschen in großen Gebieten miteinander verflochten sind, desto notwendiger wird
eine Vereinheitlichung des Rechts und der Währung. Diese sowie das Gewaltmonopol von Polizei
und Militär sind ihrerseits „Organe der Verflechtung“, „Erzeuger von Interdependenzen“ (Elias 1979:
466), die die bestehende Ordnung stabilisieren und reproduzieren. Je größer das zentralisierte
Gebiet, je fortgeschrittener die Funktionsteilung und je länger die Interdependenzketten, desto
weniger ist es für den Einzelnen überschaubar und veränderbar, desto weniger kommt es zu einer
„immer erneuten Überprüfung der gesellschaftlichen Stärkeverhältnisse durch den körperlichen
Kampf, zu der die Menschen in weniger interdependenten Gesellschaften immer geneigt sind“
(ebd.).
Die hohe Differenzierung und Integrierung sind wesentliche Kennzeichen panoptischer
respektive nationalstaatlicher Gesellschaften. Elias zieht daher eine Parallele zwischen dem
„Aufbau des ‚zivilisierten‘ Verhaltens“ und der „Organisierung der abendländischen Gesellschaften
in der Form von ‚Staaten‘“ (Elias 1978: LXXVI). Die Homogenisierung und Normierung vollzieht sich
sowohl auf gesellschaftlicher (Währung, Recht) wie psychischer Ebene (Verhalten). Beide Autoren
sehen die produktiven Effekte dieser Entwicklungen – Wohlstand, Sekurität, Pazifizierung, weniger
Willkürerfahrungen –, aber auch den Preis, den das Subjekt dafür bezahlt. Gerade Elias beschreibt
wiederholt auf bedrückende Weise die mit der soziogenetischen Zivilisation einhergehende „stärkere
‚Zivilisation‘ der psychischen Selbststeuerung“ (Elias 1979: 357), beschreibt „wie sich der Mensch
[…] spaltet“ (ebd.: 372).
In dieser Gesellschaft wird „die Familie zum Hauptort der Disziplinarfrage nach dem
Normalen und Anormalen“ (Foucault 1977: 277). Je mehr „die meisten körperlichen Verrichtungen“
ins Private verlagert werden, so stellt auch Elias fest, bleibt nur die „Kleinfamilie als einzige legitime,
gesellschaftlich-sanktionierte Enklave“ für alle diese Funktionen übrig, wodurch ihr die „Aufgabe
der ersten Konditionierung“ (Elias 1978: 222) zufällt. Sie wird „zum primären Züchtungsorgan der
gesellschaftlich geforderten Triebgewohnheiten und Verhaltensweisen für den Heranwachsenden“
(ebd.: 259). Ein Ge- und Verbot, das in früher „Form dem Kinde eingeprägt wird, erscheint [...] dem
Erwachsenen als ein Gebot seines eigenen Innern und erhält die Form eines mehr oder weniger
totalen und automatisch wirkenden Selbstzwanges“ (ebd.: 189).
Diesen Prägeprozess umschreibt auch Foucault, wenn er den Menschen beschreibt als „Resultat
einer Unterwerfung, die viel tiefer ist als er“ (Foucault 1977: 42). Bemerkenswert ist in diesem
Zusammenhang Elias’ These, dass die Verinnerlichung der Kontrolle und Überwachung möglich ist,
weil sich im Seelenhaushalt des Individuums eine ähnliche funktionale Teilung vollzieht wie in der
Gesellschaft. Wie dort kommt es in der Seele zu einer immer feineren Differenzierung: Die Spaltung
in Es, Ich und Über-Ich entwickelt sich. „Im Laufe dieses Prozesses wird, um es schlagwortartig zu
sagen, das Bewußtsein weniger triebdurchlässig und die Triebe weniger bewußtseinsdurchlässig.“
(Elias 1979: 390, Herv.i.O.)
Mit dem Abnehmen äußerer Ängste und Zwänge kommt es Elias zufolge zur Zunahme von
Neurosen und innerlichen Ängsten sowie der Abdrängung von Trieben ins Unbewusste. Einfach
formuliert: Früher gab es Restriktionen, heute „Ängste vor der Durchbrechung der Restriktionen“
(Elias 1978: 332). Ähnlich argumentiert auch Foucault und illustriert dies mit einem Zitat des
Strafrechtsreformers und Justizbeamten Joseph M.A. Servan aus dem Jahr 1767:
„Wenn ihr so die Kette der Ideen in den Köpfen eurer Mitbürger gespannt habt, könnt
ihr euch rühmen, sie zu führen und ihre Herren zu sein. Ein schwachsinniger Despot
kann Sklaven mit eisernen Ketten zwingen; ein wahrer Politiker jedoch bindet sie
viel fester durch die Kette ihrer eigenen Ideen; deren erstes Ende macht er an
der unveränderlichen Ordnung der Vernunft fest. Dieses Band ist um so stärker, als
wir seine Zusammensetzung nicht kennen und es für unser eigenes Werk halten.
Verzweiflung und Zeit nagen an Ketten aus Eisen und Stahl, sie vermögen aber
nichts gegen die gewohnheitsmäßige Vereinigung der Ideen, sondern binden sie
nur noch fester zusammen. Auf den weichen Fasern des Gehirns beruht die
unerschütterliche Grundlage der stärksten Reiche.“ (Foucault 1977: 131)
7
Impulse aus den Theorien von Michel Foucault und Norbert Elias
In der Coronazeit zeigten sich viele der von Elias und Foucault beschriebenen Kennzei-chen
moderner, komplexer Gesellschaften wie durch ein Brennglas. Sicherheit, Schutz und der
Versuch, Krankheit und Tod durch soziale Distanz, Hygiene und medizinisch-pharmazeutische
Errungenschaften zu bezwingen, gelten als alternativlose Rationalitä-ten und Programme. Deren
Vermittlung muss immer früher erfolgen und ins Private ver-lagert werden. Bereits im Kindergarten
und in den ersten Konditionierungen in der Fami-lie sollten das Masketragen, Abstandhalten,
das richtige Händewaschen und ähnliches erlernt werden, unvermittelte Körperlichkeit wurde
zunehmend befremdlich und beängs-tigend. Desinfektionsmittel, Handschuhe, Masken und
digitale Kommunikation begleite-ten oder ersetzten direkte physische Kontakte. Auffällig war hier
auch die individualisie-rende Auslagerung struktureller (ökologischer, sozialer, gesundheitlicher,
ökonomischer) Problematiken. Verweise auf die Wissenschaft, Wahrheit und Vernunft hatten
Konjunktur, ohne ihre Relationalität zu reflektieren, und dienten zur Legitimierung ‚alternativloser‘
Maßnahmen. Markante Beispiele hierfür lieferte z.B. der Chef des Robert-Koch-Instituts (RKI) Lothar
Wieler: „Die [Regeln] müssen also der Standard sein. Die dürfen überhaupt nie hinterfragt werden.
[…] Die dürfte und sollte niemand mehr in Frage stellen. Das soll-ten wir einfach so tun.“ (Wieler
zit.n. Wildermuth 2020). Auch der deutsche Bundesge-sundheitsminister Karl Lauterbach wusste
seine Doppelrolle als Wissenschaftler und Politiker zu nutzen:
„Ich finde es immer wieder bestürzend […], wenn Kolleginnen und Kollegen aus
der Medizin […] ihre Reputation als Ärzte nutzen, um etwas zu sagen, was von der
gesamten Wissenschaft weltweit in Abrede gestellt wird. [...] Wir sind durch diese
Krise gekommen, indem wir uns auf die Wissenschaft verlassen haben […].“
(Deutscher Bundestag 2022)
Die Kritik an derlei autoritär-absoluten Äußerungen wurde weitgehend den alternativen Medien
überlassen. Laut Umfragen stiegen die Zustimmungsraten der Bevölkerung zu Regierungspolitik
und Wissenschaften zeitweise auf über 80, respektive 73 Prozent – Werte, die vor Corona
deutlich geringer waren (vgl. Statista 2021). Die Gefahr solcher Hypes ist, dass sie in ihr Gegenteil
kippen können und es in der Gegenbewegung zu drastischen Vertrauensverlusten kommt.
Diese politikwissenschaftliche Binsenweisheit bestätigte sich in der Zeit nach Corona, so dass
sich die Österreichische Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und die deutsche Leopoldina
veranlasst sahen, eine selbstkritische Handreichung für eine reflektiertere und autonomere
Wissenschaftskommunikation und Politikberatung in zukünftigen Krisen zu verfassen, die sie am 1.
Februar 2023 als „Wiener Thesen zur wissenschaftsbasierten Beratung von Politik und Gesellschaft“
präsentierten (vgl. ÖAW 2023).
DieFragenachderMöglichkeitsbedingungfürdiegesamtgesellschaftlicheAnpassungsleistung
während Corona und innerhalb kürzester Zeit ist vielfach gestellt und soziologisch beantwortet
worden (vgl. Scherr 2020; Lessenich 2020). Meine, auf Foucaults und Elias‘ Theorien beruhende
These ist, dass sie ein hohes Maß an selbstverständlich gewordener Disziplinierung und Zivilisierung
voraussetzt und über direkte Repressionen nicht in dieser Effizienz und Totalität möglich gewesen
wäre. DassdieüberwältigendeMehrheitderMenschendieCorona-Maßnahmenmittrug, warmöglich
durch bereits tief verinnerlichte Norm- und Wertvorstellungen wie Sicherheit, Prävention, Kontrolle.
Jedoch zeigen sich schwerwiegende Folgen der Eindämmungs- und Präventionsmaßnahmen, die
vorhersagbar waren und vorhergesagt wurden: z.B. Inflation, in der Folge eine weiter verschärfte
soziale Ungleichheit, verschlechtertes Gesundheitsverhalten, insbesondere Kinder und Jugendliche
sind von einer Zunahme seelischer und chronifizierter Krankheiten betroffen. Die Analysen von
Foucault und Elias zu Subjektivierungs- bzw. Individualisierungspraktiken und -rationalitäten bieten
vielversprechende Ansätze, um Disziplinierungs- und Normierungsmechanismen sichtbar und die
Kehrseiten von vermeintlichen Alternativlosigkeiten bewusst zu machen.
Literaturverzeichnis
Deutscher Bundestag (2022): 28. Sitzung, TOP
6
Impfpflicht gegen SARS-CoV-2,
Drucksachen 20/516, 20/680, 20/899, 20/954, 20/978, 20/1353. S. 2342. https://
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deutschland-rki-praesident-die-100.html. (06.12.2023).
Über die Autorin
Priska Buchner, BA MA
Absolvierte das Bachelor- und Masterstudium der Kindheitswissenschaften und Kinderrechte an
der Hochschule Magdeburg-Stendal. Sie arbeitete einige Jahre in der Kinder- und Jugendhilfe,
zuletzt als Teamleitung einer Mädchenschutzstelle. Seit Oktober 2022 Universitätsassistentin
und Doktorandin am Institut für Erziehungswissenschaft und Inklusionsforschung der Universität
Klagenfurt.