soziales_kapital
Fabian Matthias Kos. Führungsethik in sozial-wirtschaflichen Organisationen. Angewandte
Grundlagen zum Erkennen und Behandeln moralischer Probleme auf mittlerer Managementebene.
soziales_kapital, Bd. 27 (2023). Rubrik: Junge Wissenschaf. Wien. Printversion: http://www.soziales-
27. Ausgabe 2023
Akademisierung Sozialer Arbeit
Führungsethik in sozialwirtschaftlichen Organisationen
Angewandte Grundlagen zum Erkennen und Behandeln
moralischer Probleme auf mittlerer Managementebene
Fabian Matthias Kos
Zusammenfassung
Sozialwirtschaftliche Organisationen sind mit einer Fülle von normativen Ansprüchen konfrontiert:
Sie sollen sich am Gemeinwohl orientieren und den Bedürfnissen ihrer Klient*innen zuwenden,
gleichzeitig kosteneffizient handeln und die konkreten Wirkungen ihrer Dienste nachweisen.
Die Frage, wie Führungskräfte diese unterschiedlichen Erwartungshaltungen erleben und
verantwortungsvoll damit umgehen können, wurde in der wissenschaftlichen Literatur bisher nur
schlaglichtartigbeleuchtet. AnhandeinesKlassifikationsschemaszurBeschreibungvonmoralischen
Problemsituationen und ausgehend von konkreten Erfahrungen aus der beruflichen Praxis zeigt
der Beitrag, wie Führungskräfte in der Sozialwirtschaft bei ethischen Entscheidungsprozessen
strukturell unterstützt werden können.
Schlagworte: Wirtschaftsethik, qualitative Sozialforschung, soziale Dienstleistungen, Soziale
Arbeit, mittleres Management, Führungskräfteentwicklung
Abstract
Social economy organisations are confronted with a set of normative demands. They aim to promote
the common good and meet the needs of their clients. At the same time, they are expected to be
cost-efficient, as well as to prove the concrete impact of their service. The question of how managers
in social economy perceive these different expectations and how they can handle them responsibly
has, however, been little discussed in research. Hence, using a classification scheme to describe
moral problems and based on concrete experiences from professional practice, the article shows
how managers in the social economy can be structurally supported in ethical decision-making.
Keywords: business ethics, qualitative social research, social services, social work, middle
management, leadership development
1
Wozu Führungsethik?
Die Sozialwirtschaft hat soziale Dienstleistungen zum Gegenstand. Dabei handelt es sich um eine
Reihe vielfältiger Beratungs-, Betreuungs- und Unterstützungstätigkeiten, die soziale Bedarfslagen
in den Blick nehmen und an den lebensweltlichen Bedürfnissen von Individuen ausgerichtet
sind (vgl. Merchel 2022: 803). Im Unterschied zu Geld- und Sachzuwendungen werden soziale
Dienstleistungen direkt an und mit Menschen erbracht. Kinder- und Jugendwohlfahrt, Gesundheit
und Pflege, Flucht und Asyl, Arbeitsmarktintegration sowie Hilfen für Menschen mit Behinderung
oder in besonderen Notlagen – etwa Wohnungslosigkeit, Haft, Sucht oder Überschuldung – zählen
zu den zentralen Handlungsfeldern (vgl. Cremer/Goldschmidt/Höfer 2013: 8–9).
Eng mit ihrem fachlichen Auftrag verbunden, wird der Sozialwirtschaft eine besondere
moralische Verantwortung zugeschrieben: „[W]o Leistungen zugunsten besonders verletzlicher
Menschen erbracht werden, stehen die Organisationen als Unternehmen der Moral für die
Verwirklichung gesellschaftlicher Solidarität“ (Herzka 2017: 110). Dieser normative Anspruch ist
sowohl von der International Association of Schools of Social Work (IASSW 2018) als auch von
zahlreichen nationalen Verbänden wie dem Österreichischen Berufsverband der Sozialen Arbeit
(OBDS 2020) umfassend aufgearbeitet worden. Die daraus resultierenden professionsethischen
Standards beziehen sich in erster Linie auf die Kerntätigkeiten Sozialer Arbeit. Eine genuin ethische
Perspektive auf sozialwirtschaftliche (Führungs-)Tätigkeiten, die nicht im direkten Kontakt mit den
Klient*innen erbracht werden, hat sich bis dato hingegen kaum etabliert.
Der Beitrag verfolgt vor diesem Hintergrund ein dreifaches Ziel: Er leistet erstens eine
Einführung in die Besonderheiten der Sozialwirtschaft sowie in das Feld der angewandten Ethik und
legt deren wechselseitige Bezüge offen. Zweitens wird darauf aufbauend ein Klassifikationsschema
erarbeitet, anhand dessen moralische Probleme in der Führung sozialwirtschaftlicher Organisationen
identifiziert werden können. Drittens verdeutlichen Fallbeispiele aus der Praxis, welche Rolle der
ethischen Reflexion im Rahmen eines Entscheidungsprozesses zukommt. Aufbauend auf diesen
Erkenntnissen hält der Artikel schließlich fest, welche organisationalen Strukturen es braucht, um
die individuellen Akteur*innen im Umgang mit moralischen Problemen zu unterstützen.
2
Sozialwirtschaft im Spannungsfeld unterschiedlicher Ansprüche
Soziale Dienstleistungen sind praktischer Ausdruck von staatlicher Daseinsvorsorge und liegen
insofern im Interesse des (politisch definierten) Gemeinwohls – unabhängig davon, ob sie sich
in öffentlich-rechtlicher, privat-gemeinnütziger oder gewinnorientierter Trägerschaft befinden
(vgl. Merchel 2022: 801–802). Durch ihren Bezug zu sozialpolitischen Beschlüssen folgen sie
außerdem einer eigenen Finanzierungs- und Steuerungslogik: Anders als Dienstleistungen auf dem
freien Markt werden soziale Dienstleistungen meist nicht nur von jener Person finanziert, die sie
in Anspruch nimmt, „sondern auch durch öffentliche Gelder (Förderungen, Leistungshonorare),
durch private Zuwendungen (Spenden, Donationen) und durch ehrenamtlich geleistete Arbeitszeit“
(Dimmel/Schmid 2013: 62). Daraus resultiert das traditionelle Leistungsdreieck der Sozialwirtschaft
zwischen Klient*innen, Kostenträger*innen und sozialen Dienstleister*innen. Der Staat kann hierbei
unterschiedliche Rollen einnehmen: als Produzent übernimmt er den gesamten Prozess bis zur
BereitstellungeinersozialenDienstleistung;alsNachfragerbeauftragterausgewählteOrganisationen
mit der Erbringung sozialer Dienstleistungen und finanziert diese; als Regulator setzt er bestimmte
Standards dafür, wer soziale Dienstleistungen an wen erbringen darf und wie diese beschaffen sein
sollen (vgl. Schneider/Pennerstorfer 2014: 168).
Mit dem Ziel, „mehr Wettbewerb, niedrigere Preise, mehr KundInnenbewusstsein und
höhere Qualität“ (Gruber 2014: 8) zu etablieren, wird die Produktion sozialer Dienstleistungen
in Europa beginnend in den 1980er Jahren vermehrt an private Organisationen delegiert bzw.
abgegeben. Neben klassischen Non-Profit-Organisationen treten dabei immer häufiger auch
gewinnorientierte Unternehmen und soziale Start-ups in Konkurrenz zueinander (vgl. Stepanek
2018: 372). Diese zunehmende (und durchaus umstrittene) Vermarktlichung führt dazu, dass soziale
Dienstleistungen verstärkt unter ökonomischen Gesichtspunkten beurteilt werden (vgl. Lambers
2016: 70–74). Das zeigt sich sinnbildlich am sogenannten SROI-Ansatz:i Soziale Dienstleistungen,
so dessen Grundgedanke, tragen nicht nur dazu bei, die Lebenssituation von hilfsbedürftigen
Menschen zu verbessern, sondern verhindern auch gesellschaftliche Folgekosten und sorgen
insofern für eine beachtliche Umwegrentabilität (vgl. Dimmel/Schmid 2013: 14). Die Anbieter*innen
sozialer Dienstleistungen sehen sich vor diesem Hintergrund einem wachsenden ökonomischen
Rechtfertigungsdruck ausgesetzt – er bildet die erste von insgesamt vier verschiedenen
Anspruchslogiken. Darüber hinaus wird von sozialwirtschaftlichen Organisationen erwartet, dass
sie auf politisch festgelegte Bedarfslagen reagieren und sich am Gemeinwohl orientieren, sich
der Lebenswelt und den individuellen Bedürfnissen ihrer Klient*innen zuwenden sowie ihr eigenes
Professionsverständnis erfüllen (vgl. Merchel 2022: 804). Hinter diesen Erwartungen stehen jeweils
verschiedene Anspruchsgruppen, die sich in der Praxis teilweise überlappen, aber auch „in
Spannungen zueinanderstehen können und zum Teil widersprüchliche Appelle an die Organisation
transportieren“ (ebd.). Die Frage, welche konkreten Handlungskonflikte sich daraus ergeben und
wie sozialwirtschaftliche Organisationen bzw. deren Mitarbeiter*innen und Führungskräfte damit
umgehen sollen, führt in das Feld der Ethik.
3
Ethik als wissenschaftliche Disziplin und praktisches Analysewerkzeug
Sämtliche Normen – „also Prinzipien, Regeln und Tugenden, die das Verhalten von Menschen und
deren Einstellungen zu anderen und zur Umwelt leiten“ (Pauer-Studer 2020: 14) – werden in der
wissenschaftlichen Literatur unter dem Begriff Moral zusammengefasst. Die Aufgabe der normativen
Ethik als Teildisziplin der praktischen Philosophie besteht darin, solche Normen kritisch auf ihre
moralische Plausibilität hin zu untersuchen.ii Dabei existieren verschiedene Theorien und Modelle.
3.1 Drei Dimensionen der ethischen Betrachtung sozialer
Dienstleistungsproduktion
Im Laufe der letzten Jahrzehnte haben sich zwei konzeptionelle Hauptströmungen innerhalb
der normativen Ethik herausgebildet: Während begründungsorientierte Ansätze darauf abzielen,
allgemeingültige Handlungsprinzipien zu definieren, gehen anwendungsorientierte Ansätze von
konkreten Problemsituationen im Alltag aus (vgl. Fenner 2022: 19–20). Ihr Anliegen ist es, den
betreffenden Entscheidungsträger*innen eine ethische Orientierungsgrundlage zur Verfügung
zu stellen und Handlungsoptionen aufzuzeigen, die möglichst angemessen, umsetzbar und
wirkungsvoll sind. Um diesen Anspruch erfüllen zu können, fokussieren angewandte Ethiker*innen
in der Regel abgegrenzte Handlungsbereiche und greifen in ihrer Arbeit auf Erkenntnisse aus
relevanten Bezugsdisziplinen zurück (vgl. Ostheimer/Zichy/Grimm 2012: 15). Die Wirtschaftsethik
– zu der auch die Überlegungen in diesem Beitrag gezählt werden können – beschäftigt sich
etwa mit der Frage, inwiefern und unter welchen Umständen ökonomische Handlungsweisen mit
bestimmten Vorstellungen vom guten Leben vereinbar sind. In diesem Zusammenhang nimmt
sie drei verschiedene Analyseebenen in den Blick: die Makro-, Meso- und Mikroebene. Alle drei
stehen mit unterschiedlichen Akteurstypen sowie spezifischen Formen von Handlungsmacht und
Verantwortlichkeit in Verbindung (vgl. Fenner 2022: 415–416).
Auf der Makroebene werden die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen beleuchtet, inner-
halb derer sich wirtschaftliches Handeln vollzieht. Unter dem Eindruck multipler gesellschaftlicher
KrisenfindetdiesePerspektiveauchinaktuellenDiskursenderSozialwirtschaftzunehmendBeachtung.
Konzepte wie die Gemeinwohlökonomie, die Sharing Economy oder die Postwachstumsökonomie
bilden hierfür konkrete Anknüpfungspunkte (vgl. Stepanek 2018: 367–372). Ebenfalls ein zentrales
Thema auf der Makroebene ist die Reichweite des Sozialstaates: „Inwieweit und in welchem
Umfang z. B. Menschen mit einer Drogenerkrankung durch Therapieangebote unterstützt und
gefördert werden sollen, ist […] auch davon abhängig, wie innerhalb einer Gesellschaft eine solche
soziale Problemlage beurteilt wird“ (Cremer/Goldschmidt/Höfer 2013: 3). Dies macht deutlich, dass
ökonomische Ordnungen nicht nur grundsätzlich veränderbar, sondern auch durch eine Vielzahl an
verschiedenen Einflüssen geprägt sind.
Auf der Mesoebene wird die kollektive Verantwortung von Unternehmen und Organisationen
bzw. deren Gremien thematisiert. Die Aufgabe der Organisations- und Unternehmensethik liegt
darin, die bestehenden Normen innerhalb einer Organisation zu reflektieren sowie in weiterer Folge
die eigenen Strukturen und Verhaltensstandards darauf abzustimmen (vgl. Fenner 2022: 448).
Sobald es darum geht, organisationale Wertvorstellungen konkret in die Tat umzusetzen, tragen
aber nicht nur Organisationen als Ganzes Verantwortung, sondern je nach Funktion auch deren
Angehörige. Dies kommt insbesondere bei der Gestaltung organisationsinterner Prozesse und
zwischenmenschlicher Beziehungen zum Ausdruck, wo sich Mitarbeiter*innen und Führungskräfte
in der Regel nicht nur kollektiv, sondern auch und gerade individuell für ihr Handeln rechtfertigen
müssen (vgl. ebd.: 449).
Auf der Mikroebene wird die individuelle moralische Verantwortung einzelner
Wirtschaftsakteur*innen untersucht. Dabei lassen sich drei Schwerpunkte unterscheiden: 1.)
Die Mitarbeiter*innenethik stellt ab auf die moralische Verantwortung von Beschäftigten ohne
Führungsfunktion. Sie tragen eine doppelte Verantwortung: intern gegenüber Kolleg*innen und
Vorgesetzten; nach außen gegenüber Klient*innen und Finanziers, Kooperationspartner*innen und
der Öffentlichkeit. Themen wie die Einstellung zur eigenen Arbeit, Kollegialität oder Aufrichtigkeit
erhalten in diesem Zusammenhang besondere Zuwendung (vgl. Fenner 2022: 460–461). 2.) Die
Führungsethik setzt sich mit der moralischen Verantwortung von Personen auseinander, die
eine Leitungsfunktion innerhalb einer Organisation ausüben. Sie sind einerseits gegenüber ihren
Mitarbeitenden verpflichtet – etwa was den zwischenmenschlichen Umgang im Team, Fragen der
Gesundheitsförderung oder der gerechten Entlohnung betrifft (Personalführung). Andererseits tragen
sie Verantwortung für die Gestaltung und Entwicklung der Organisation als Ganzes und müssen vor
diesem Hintergrund auch strategische Aspekte und externe Interessengruppen berücksichtigen
(Unternehmensführung) (vgl. ebd.: 462–463). 3.) Die Konsument*innenethik richtet ihren Blick
schließlichwegvonderAngebots-aufdieNachfrageseite.GeradeinmarktwirtschaftlichenSystemen
wird den Konsument*innen aufgrund ihrer (mehr oder weniger) freien Kaufentscheidung individuelle
moralische Verantwortung für die Performance des Marktes zugeschrieben (vgl. ebd.: 464–465). In
der Sozialwirtschaft spielt diese Betrachtungsweise jedoch eine vergleichsweise untergeordnete
Rolle. Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass soziale Dienstleistungen in der Regel durch
Dritte (mit)finanziert werden. Darüber hinaus lässt sich das Prinzip der Konsument*innensouveränität
gerade im Kontext von Hilfe- und Unterstützungsbedürftigkeit kritisch in Frage stellen (vgl. Merchel
2022: 803).
Professionsethische Kodizes wie jener der IASSW (2018) oder des OBDS (2020) fokussieren
vor allem darauf, allgemeine Leitlinien für die berufliche Praxis in Form von Standards und Prinzipien
zu formulieren: Sie sollen zeigen, was für Sozialarbeiter*innen moralisch geboten ist. Um ethische
Verantwortlichkeiten genau lokalisieren und im Zweifel auch situativ abwägen zu können, bildet die
analytische Unterscheidung zwischen Makro-, Meso- und Mikroebene jedoch eine grundlegende
Ergänzung. Schließlich rücken dadurch verstärkt auch jene sozialwirtschaftlichen (Führungs-)
Tätigkeiten ins Zentrum ethischer Aufmerksamkeit, die nicht im unmittelbaren Kontakt mit den
Klient*innen erbracht werden und in der Debatte um den Status Sozialer Arbeit als Profession bis
dato kaum eine Rolle spielen. Der nächste Abschnitt stellt daran anknüpfend einen Ansatz vor,
mithilfe dessen moralische Problemsituationen in ihrer Genese erkannt und rekonstruiert werden
können.
3.2 Was ist ein moralisches Problem?
Grundsätzlich lassen sich zwei Formen moralischer Probleme unterscheiden:iii objektive und
subjektive. Objektive moralische Probleme „resultieren daraus, dass gegen eine wohlbegründete
moralische Forderung verstoßen wird“ (Kallhoff 2012: 36). Ein prominentes Beispiel für eine
solche Forderung, die gesellschaftlich breit akzeptiert ist, bilden Grundrechte, wie sie etwa in der
entsprechenden Charta der Europäischen Union kodifiziert sind. Diese enthält unter anderem das
Recht aller Menschen auf körperliche und geistige Unversehrtheit, freie Meinungsäußerung und
Diskriminierungsfreiheit. Die Verletzung solcher Rechte und Werte, „die mit Gründen gerechtfertigt
[werden], denen jeder zustimmen können sollte“ (ebd.: 37), gilt es aus ethischer Perspektive strikt
zu vermeiden.iv Subjektive moralische Probleme hängen im Unterschied dazu von der Einschätzung
jener Person ab, die sich in ihrem Denken und Handeln an moralischen Regeln orientiert und
bestimmte Vorstellungen vom Guten umzusetzen versucht. Sie treten also dort auf, wo sich aus
einer konkreten Handlungssituation heraus moralische „Unsicherheiten, Konflikte, vielleicht sogar
prinzipiell unlösbare Dilemmata“ (ebd.: 36) für das betreffende Individuum ergeben. In diesem
Sinne werden subjektive moralische Probleme gleichermaßen als konstitutiver Bestandteil und
Irritationsmoment auf der Suche nach dem richtigen Handeln verstanden (vgl. ebd.: 52).
Angela Kallhoff identifiziert für subjektive moralische Probleme drei verschiedene
Ausgangspunkte: Erstens kann ein subjektives moralisches Problem in Zusammenhang mit
konfligierenden Interessen entstehen. Dabei ist nicht jeder beliebige Interessenskonflikt von
moralischer Relevanz. Genau dann aber, „wenn eine Person oder Partei benachteiligt wird, wenn
Nebenfolgen besonders schädlich sind oder wenn Menschen in einer Weise in Mitleidenschaft
gezogen werden, die berechtigten Ansprüchen zuwider läuft“ (ebd.: 40), ist eine Form des
Konfliktmanagements angezeigt, die auch ethische Bewertungsmaßstäbe anlegt. Dessen
Kernaufgabe besteht dann darin, überlegt abzuwägen, „welchen Interessen welcher Stellenwert
zuerkannt werden muss“ (ebd.: 38) – auch und gerade in Situationen, in denen dies nicht immer
eindeutig ist.
Ein subjektives moralisches Problem kann nach Kallhoff, zweitens, vorliegen, wenn es einer
Person nicht gelingt, ein schlüssiges normatives Selbstbild zu formen. Dieses Phänomen geht von
der Beobachtung aus, dass Menschen nicht nur interessenorientiert handeln, sondern „mit ihren
Handlungen auch ausdrücken, an welche Werte sie sich binden möchten, was sie für richtig halten
– und schließlich auch, wer sie sind“ (ebd.: 43). Das Anliegen, die eigenen Entscheidungen mit
ausgewählten Prinzipien eines guten Lebens in Einklang zu bringen, kann in der Praxis jedoch aus
unterschiedlichen Gründen scheitern. Einerseits reicht es nicht aus, moralische Wertvorstellungen
nur abstrakt anzuerkennen – sie müssen auch auf konkrete Handlungssituationen angewandt
werden können und schließlich umgesetzt werden. Andererseits stehen moralische Prinzipien
mitunter in direkter Konkurrenz zueinander, was unweigerlich zu Abwägungsprozessen führt (ebd.:
47–48). Aus diesen Momenten des Zweifels darüber, was gesollt und richtig ist, resultieren offene
Interpretationsspielräume für die Entscheidungsträger*innen, die entsprechend ausgefüllt werden
müssen.
Drittens tauchen subjektive moralische Probleme dort auf, wo das angestrebte Gute – trotz
und gerade wegen aller redlichen Bemühungen – nicht erreicht wird (vgl. ebd.: 48–49). Dieser Form
des Problems liegt die Einsicht zugrunde, dass sich ein gutes Leben „immer nur fragmentarisch
oder in gewissen Hinsichten“ (ebd.: 40) verwirklichen lässt. Das Streben nach dem richtigen
Handeln erweist sich dann für das betreffende Individuum entweder als (zu) anstrengend und
desillusionierend oder – im Falle einer moralisch weitgehend gelingenden Lebensführung – als
besonders entbehrungsvoll in Hinblick auf andere Lebensaspekte (vgl. ebd.: 51).
Die Unterteilung in objektive und subjektive moralische Probleme knüpft an die beiden
Kernaufgaben der Ethik an. Deren Ziel liegt in einem ersten Schritt darin, moralisch relevante
Problemsituationen aus subjektiver Perspektive, das heißt mit Rücksicht auf die involvierten
Akteur*innen, Kontextbedingungen und Verantwortungsbeziehungen darzustellen (vgl. Kallhoff
2012: 37). Darauf aufbauend strebt die Ethik in einem zweiten Schritt schließlich danach,
moralische Forderungen – und daraus resultierende Verhaltensweisen – so zu begründen, dass sie
„in dem Sinne objektiv gültig sind, als alle Beteiligten den rechtfertigenden Gründen zustimmen“
(ebd.: 37) können. Dabei ist zu beachten, dass nicht jede Lösung eines moralischen Problems
notwendigerweise diesen Standards entspricht, sondern sich mitunter nur bestmöglich daran
annähert (vgl. ebd.: 52). Die Voraussetzung für einen solchen ethischen Entscheidungsprozess
bleibt aber immer, dass das handelnde Individuum die konkrete Situation als moralisches Problem
(an)erkennt. Genau hier setzt der empirische Teil des vorliegenden Artikels an. Er zeigt anhand von
Fallbeispielen aus der Sozialwirtschaft, wie sich Herausforderungen im Streben nach dem Guten für
Entscheidungsträger*innen darstellen und wie sie sich systematisch bearbeiten lassen.
4
Moralische Probleme erkennen und beschreiben
Wie bereits gezeigt, steht die Erbringung sozialer Dienstleistungen unter besonderen Vorzeichen.
Einerseits unterscheiden sich die Produktionsbedingungen deutlich von jenen in anderen
Wirtschaftsbereichen, andererseits müssen die ausführenden Akteur*innen außerordentlich
hohen moralischen Ansprüchen genügen. Diese Ansprüche lassen sich aus drei verschiedenen
analytischen Perspektiven betrachten. So kann sich die Frage danach, was gut und gesollt ist, auf
gesamtgesellschaftliche Strukturen (Makroebene), Unternehmen bzw. Organisationen (Mesoebene)
und einzelne Individuen (Mikroebene) beziehen. Auf der Mikroebene wird die Frage nach dem
richtigen Tun für die betreffenden Entscheidungsträger*innen in der Regel besonders greifbar – sei
es in Form von komplexen Interessenskonflikten, aufgrund der gescheiterten Selbstbindung an
moralische Wertvorstellungen oder im Rahmen des Erkennens individueller Machbarkeitsgrenzen.
Gleichzeitig bilden diese Momente der Konfrontation mit moralischen Problemsituationen die
zentralen Knackpunkte, an die ein reflektierter Prozess zur Entscheidungsfindung im Sinne einer
kontextsensitivenEthikandockenmuss:„Ethicistsshouldnotlimitthemselvestoformulatingabstract
and general principles. They have to specify and operationalize principles for particular contexts“
(Musschenga 2005: 473). Um angemessen auf moralische Problemsituationen eingehen zu können,
ist es demnach unerlässlich, dass sich normative ethische Theorien auf Lebenswirklichkeiten und
somit auch auf die Ergebnisse empirischer Forschung beziehen.
Es existiert eine wachsende Zahl an Studien, die moralische Führungsprobleme anhand
empirischer Fallbeispiele verdeutlichen. Auch mit spezifischem Blick auf die Sozialwirtschaft gibt
es erste Systematisierungsversuche und Bestandsaufnahmen, die den „Grauzonen zwischen
rechtswidrigem und unbedenklichem Leitungshandeln“ (Langer 2018: 112–113) gewidmet sind.v
InsgesamthatsichbisherjedochwedereineinheitlichesBegriffsverständnisnocheinstandardisiertes
Identifizierungsverfahren für moralische Probleme in der Führung sozialwirtschaftlicher
Organisationen etabliert.
Um Führungskräften das Erkennen und Beschreiben moralischer Problemsituationen zu
vereinfachen, plädiert der vorliegende Artikel für ein empirisch-systematisches Vorgehen. Zu diesem
Zweck wird anhand von Fallbeispielen verdeutlicht, inwiefern sich die verschiedenen Formen
subjektiver moralischer Probleme auf die sozialwirtschaftliche Praxis anwenden lassen. Die zentrale
Forschungsfrage lautet: Welche moralischen Probleme erleben Führungskräfte sozialwirtschaftlicher
Organisationen im deutschsprachigen Raum? Abbildung 1 zeigt, wo die Problemerkennung
und -beschreibung im ethischen Entscheidungsfindungsprozess angesiedelt ist. Um die damit
verbundenen individuellen Verantwortlichkeiten deutlich machen zu können, werden die jeweiligen
Handlungssituationen schlaglichtartig auch im Kontext ihrer Entstehungsbedingungen beleuchtet
und so für eine tiefergehende moralphilosophische Analyse vorbereitet.
Abbildung 1: Stellung der Problemidentifikation im ethischen Entscheidungsfindungsprozess
innerhalb sozialwirtschaftlicher Organisationen (eigene Darstellung).vi
Der empirischen Studie dieser Arbeit liegt ein qualitativer Forschungsansatz zugrunde. Dessen
Vorgehen „hat den Anspruch, Lebenswelten „von innen heraus“ aus der Sicht der handelnden
Menschen zu beschreiben“ (Flick/von Kardoff/Steinke 2012: 14), und eignet sich in besonderer
Weise dafür, Wissen über soziale Wirklichkeiten hervorzubringen, die bisher wenig erforscht sind
(vgl. ebd.: 22–25). Um moralische Probleme in der Führung sozialwirtschaftlicher Organisationen
offenlegen zu können, wurde vor diesem Hintergrund das leitfadengestützte, problemzentrierte
Interview nach Andreas Witzel (2000) als Datenerhebungsmethode eingesetzt. Die Auswahl der
Interviewpartner*innen erfolgte nach dem zielgerichteten Intensity Sampling (vgl. Patton 2002: 234):
Da Beschäftigte im mittleren Management den Arbeitsalltag in sozialwirtschaftlichen Organisationen
aufgrund ihrer Sandwichposition sowohl aus Mitarbeiter*innen- als auch aus Führungssicht kennen
(vgl. Noll 2012: 184–185), stehen sie im Fokus der Studie. Insgesamt wurden vier Personen interviewt,
drei davon weiblich und eine männlich. Die Arbeitsbereiche, in denen sie tätig sind, umfassen
psychosoziale Versorgung, Behinderung und Inklusion, Wohnungslosenhilfe sowie Jugendarbeit.
Zum Zeitpunkt der Befragung hatten die Interviewpartner*innen zwischen zweieinhalb und acht
Jahren Führungserfahrung und trugen für zwei bis 28 Mitarbeiter*innen Führungsverantwortung. Die
Dauer der Interviews betrug zwischen 59 und 97 Minuten. Sie wurden als Audiodatei aufgezeichnet
und wörtlich transkribiert. Für die Auswertung des erhobenen Materials wurde nach dem
Ablaufschema der inhaltlich-strukturierenden Variante der qualitativen Inhaltsanalyse vorgegangen
(vgl. Kuckartz/Rädiker 2022: 132).
5
Fallbeispiele zu moralischen Führungsproblemen in der Sozialwirtschaft
Auf der Grundlage des erhobenen Interviewmaterials lässt sich feststellen, dass subjektive
moralische Probleme im beruflichen Alltag der befragten Führungskräfte omnipräsent sind. Im
Folgenden werden beispielhafte Entscheidungssituationen anhand der dreigliedrigen Typisierung
aus Abschnitt 3.2 vorgestellt.
5.1 Interessenskonflikte zwischen haupt- und ehrenamtlichen
Mitarbeiter*innen
Die Mischung aus haupt- und ehrenamtlich Tätigen bildet ein zentrales Strukturmerkmal der
Sozialwirtschaft im deutschsprachigen Raum und ist für den gesellschaftlichen Zusammenhalt
in vielfacher Hinsicht von Bedeutung. Gleichzeitig birgt das unentgeltliche Engagement aber
auch problematische Aspekte, etwa wenn es zum „Lückenbüßer für unzureichende staatliche
Absicherung wird oder zunehmend in versteckter Form zur Zuarbeit für (soziale) UnternehmerInnen
wird“ (Simsa/Rameder 2019: 175). Bedenklich ist auch, dass bestehende soziale Ungleichheiten
in der Freiwilligenarbeit fortgeschrieben und perpetuiert werden. So sind etwa Frauen und
Arbeitssuchende sowie Menschen mit formal niedrigem Bildungsabschluss in leitenden
Ehrenamtspositionen deutlich unterrepräsentiert (vgl. ebd.: 160–161). Zudem ist das Verhältnis der
beiden Mitarbeiter*innengruppen zueinander durch verschiedene Vorbehalte sowie einen Macht-
und Informationsvorsprung zugunsten der Hauptamtlichen geprägt (vgl. Schumacher 2015: 14–
25). Daraus können moralisch relevante Interessenskonflikte entstehen, wie das Beispiel soziale
Kontrolle zeigt.
Während der Interviews kam ein Fall zur Sprache, in dem hauptamtliche Mitarbeiter*innen
die Weihnachtsfeier ihrer Organisation als Kontrastprogramm zum Arbeitsalltag begreifen. Ihren
ehrenamtlichen Kolleg*innen würden sie die Teilnahme an der Veranstaltung wegen möglicher
Differenzen und Kritik hinsichtlich der eigenen Arbeitsauffassung hingegen gerne verweigern: „Wir
möchten frei sprechen können!“ (B2: 384–387). Diesem Bedürfnis nach einer Rückzugsmöglichkeit
steht das Interesse an Anerkennung und betrieblicher Integration vonseiten der Freiwilligen
gegenüber. Für die betreffende Führungskraft resultieren diese konfligierenden Positionen in einem
moralischen Problem: „Also wie wertet man Ehrenamt und die festangestellte Person?“ (B2: 378–
379). Um darauf eine plausible Antwort finden zu können, muss die/der Entscheidungstragende
dafür sorgen, dass zunächst alle Perspektiven gehört werden und „nicht jene Interessen obsiegen,
die mit der größten Energie oder auch mit Macht verfolgt werden“ (Kallhoff 2012: 39).
5.2 Vertrauen, Transparenz und Kontrolle in asymmetrischen
Informationsbeziehungen
Beziehungen, in denen Informationen asymmetrisch verteilt sind, prägen die Sozialwirtschaft
auf verschiedenen Ebenen: Klient*innen haben in der Regel eingeschränktes Wissen über die
von ihnen in Anspruch genommenen Dienstleistungen; Geldgeber*innen haben nur begrenzt
Einsicht in die Abläufe der von ihnen begünstigten Organisationen; Mitarbeiter*innen haben einen
Informationsvorsprung gegenüber ihrer Leitung hinsichtlich des Prozesses der Leistungserbringung
(vgl. Kortendieck 2016: 116–117). Solche Beziehungskonstellationen zwischen einer besser
informierten Partei (Agent) und einer weniger gut informierten Partei (Prinzipal) bergen erhebliches
Konfliktpotenzial–undzwardann, wenndie/derWissendevertragswidrigodergareigennützigagiert.
In der mikroökonomischen Literatur ist dieses Phänomen als Prinzipal-Agent-Problem bekannt (vgl.
ebd.:121–123). BeispielhaftzumAusdruckkommtesinderBeziehungzwischenSozialarbeiter*innen
und ihren Vorgesetzten. Sofern letztere nicht unmittelbar in die Arbeit mit den Klient*innen involviert
sind, müssen sie sich auf die Auskünfte ihrer Mitarbeiter*innen verlassen, um sich ein Bild vom
Verlauf der sozialen Dienstleistungserbringung machen zu können. Dabei bleibt weitgehend offen,
ob und inwiefern sich die Agent*innen an getroffene Leistungsvereinbarungen halten. So kann es
zum Beispiel vorkommen, dass der erbrachte Leistungsumfang höher dargestellt wird als er in
Wirklichkeit ist, um ein besseres Betreuungsverhältnis für die einzelnen Klient*innen sicherzustellen
oder den eigenen Arbeitsaufwand kleinzuhalten (vgl. ebd.: 125). Gerade im Zuge der zunehmenden
Ökonomisierung Sozialer Arbeit geraten „Situationen, in denen Kolleg*innen beispielsweise sagen,
dass sie nach ihrem subjektiven Empfinden keine Kapazitäten mehr haben“ (B3: 397–399), zu einer
moralischen Herausforderung für die Entwicklung und Realisierung des normativen Selbstbilds
von Führungskräften. Die Prinzipien rationaler Kontrolle und zwischenmenschlichen Vertrauens
stehen hier in direkter Konkurrenz zueinander. Da Führungskräfte meist deutlich intensiver in
unternehmensstrategische Überlegungen eingebunden sind als ihre Mitarbeiter*innen, stellt sich
die Frage nach dem richtigen Umgang mit asymmetrischen Informationsbeziehungen aber auch in
die entgegengesetzte Richtung: „Welche Themen machen wir [als Führungskräfte] wie transparent
und wo bleibt die Türe einfach zu?“ (B2: 170–172) Derlei Fragen werden beispielsweise virulent,
wenn die Fortsetzung eines Projekts aus finanziellen Gründen in Zweifel steht. Das Verhältnis
zwischen einem paternalistischen Zugang – „wir klären das jetzt erstmal auf Leitungsebene, bevor
wir diese Unsicherheit an die Mitarbeitenden weitergeben“ (B2: 314–316) – und der möglichen
Außenwahrnehmung – die „Leitung behält Informationen bei sich, um ihre Machtposition zu stärken“
(B2: 308–309) – , gilt es dann aus ethischer Perspektive unter die Lupe zu nehmen.
5.3 Instabile Finanzierungsverhältnisse als Machbarkeitsgrenze des Guten
Die Kapitalbeschaffung gilt in sozialwirtschaftlichen Organisationen als „dominante Engpass-
funktion“ (Schellberg 2018: 499). Dass die Finanzierung sozialer Dienstleistungen in aller Regel von
Dritten, etwa vom Staat oder privaten Geldgeber*innen, abhängig ist, hat unmittelbaren Einfluss auf
die Organisations- und Mitarbeiter*innenführung: „[W]eil viel nicht geht, weil es zu teuer ist, weil wir
das Personal nicht haben, weil irgendjemand „Nein!“ sagt.“ (B4: 613–614) Als moralisches Problem
zeigt sich dieses Phänomen insofern, als Führungskräfte den sozialen Auftrag ihrer Organisation
– das angestrebte Gute – mit den ihnen zur Verfügung gestellten Mitteln häufig nur eingeschränkt
umsetzen können. Eine befragte Person macht das anhand der auslaufenden Finanzierung für ein
konkretes Projekt deutlich: „Wo wollen wir denn jetzt überhaupt noch Menschen aktivieren, wenn
wir wissen, in absehbarer Zeit sind wir dann nicht mehr da? Und wer kümmert sich dann?“ (B2: 547–
551) Entsprechend führt die wachsende Instabilität bei der Finanzierung sozialer Dienstleistungen
zu „ganz viel Unmut auch bei den Mitarbeitenden“ (B2: 564–565), die sich gerade durch befristete
Förderzusagen einer zunehmenden Prekarisierung ausgesetzt sehen.
DochauchausfachlicherSichtistdieAnpassungsozialerDienstleistungenandieökonomische
Logik umstritten. So werden Leistungskennzahlen, die den Erfolg bestimmter Maßnahmen definieren
und messen sollen, nur als unzureichendes Instrument erachtet, um sozialwirtschaftlichem Handeln
und insbesondere der Klient*innenarbeit in ihrer Komplexität gerecht zu werden. Manche Vorgaben
der Geldgeber*innen seien vor diesem Hintergrund „offenbar notwendig, um die Fördermittel
zu bekommen, aber für die Klient*innen nicht unbedingt sinnvoll“ (B3: 747–749). Die Forderung
etwa, „zu jedem messbaren Zeitpunkt zu hundert Prozent ausgelastet zu sein“ (B3: 693), stehe
in keinem Bezug zur Lebenswirklichkeit und dem realen Bedürfnis, „dass man auch einmal etwas
ausprobiert und von mir aus auch scheitert und dann wiederkommt und nochmal ausprobiert“ (B3:
698–699). In der Praxis laufen solche Vorgaben darauf hinaus, dass schwierig zu bearbeitende
Dienstleistungsfälle systematisch ausgegrenzt werden. Stattdessen kommen Personen zum Zug,
von denen eher erwartet wird, dass sie die vordefinierten Erfolgskriterien auch tatsächlich erfüllen.
Die Literatur spricht hier von einem sogenannten Creaming-Effekt (vgl. Dimmel/Schmid 2013: 90).
Zusammenfassend bringen diese Situationsbeschreibungen also nicht nur zum Ausdruck, welche
sozialen Konsequenzen mit der übermäßigen Regulierung finanzieller Mittel verbunden sein können,
sondern auch, inwiefern Entscheidungsträger*innen mit ihren begrenzten Möglichkeitsräumen
ringen.
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Schritte zu einer Ethik für den Führungsalltag in sozialwirtschaftlichen
Organisationen
Führungskräfte in der Sozialwirtschaft sehen sich in ihrem beruflichen Alltag mit einer Vielfalt an
moralischen Spannungsfeldern konfrontiert. Gleichzeitig ist der normative Anspruch an sie, das
Gute und Richtige zu tun, außerordentlich hoch. Der vorliegende Artikel argumentiert vor diesem
Hintergrund für eine kontextsensitive Führungsethik. Den Ausgangspunkt hierfür bilden konkrete
Fallbeschreibungen aus der Praxis. Anhand von drei empirischen Beispielen wurde gezeigt, wie
moralische Problemsituationen – unter Rücksicht auf die spezifischen Rahmenbedingungen
sozialer Dienstleistungsproduktion – systematisch identifiziert werden können. Darüber hinaus
wurde verdeutlicht, welche Rolle dieses empirische Analyseverfahren im Rahmen eines größeren,
standardisierten Prozesses zur ethischen Entscheidungsfindung einnimmt. Zusammenfassend ist
damit nicht nur eine geeignete Grundlage gegeben, um moralische Probleme von Führungskräften
offenzulegen. Vielmehr belegen die Ergebnisse auch, dass sich sozialwirtschaftliche Organisationen
darum bemühen sollten, die ethischen Kompetenzen ihrer Akteur*innen strukturell zu stärken. Ein
erster Schritt hierzu könnte die Implementierung unterstützender Instrumente wie Ethiktrainings,
partizipative Entscheidungsformate, Ombudsstellen oder Kommissionen sein.
Verweise
i SROI steht für Social Return on Investment (zu Deutsch: Sozialrendite).
ii
Neben der normativen Ethik gibt es noch die deskriptive Ethik, die die geltenden Normen von Gesellschaften beschreibt, sowie die
Metaethik, die sich mit den begrifflichen Grundlagen ethischer Theoriebildung auseinandersetzt (vgl. Fenner 2022: 13).
iii
Arnd Pollmann (2014) unterscheidet darüber hinaus eine dritte Perspektive, mithilfe derer gezeigt werden soll, inwiefern eine
konkrete Handlungssituation überhaupt von moralischer Relevanz ist, ohne an eine bestimmte Moralposition (wie Utilitarismus,
Tugendethik oder Deontologie) gebunden zu sein. Die vorliegende empirische Studie konzentriert sich demgegenüber auf die subjektive
Handlungsperspektive – im Wissen darum, dass diese stets auch moraltheoretisch bzw. soziokulturell vorgeprägt ist.
iv Eine ausführliche Beschreibung, wie Grundrechte oder Werte moralisch gerechtfertigt werden können, ist bei Kallhoff (2012: 52–57) zu
finden.
v Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang etwa der Beitrag von Lynne M. Healy (2010).
vi Die einzelnen Schritte sind lose an das Ablaufschema ethischer Entscheidungsfindung nach Donna McAuliffe und Lesley Chenoweth
(2008: 42) angelehnt.
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Über den Autor
Fabian Matthias Kos, BSc MA MA
Research Fellow am Internationalen Forschungszentrum für soziale und ethische Fragen (ifz) in
Salzburg. Lehrbeauftragter für den Studiengang Sozialwirtschaft und Soziale Arbeit an der FH
Campus Wien. Träger des Erika-Stubenvoll-Preises 2023.