soziales_kapital
Heimgartner, Arno / Scheipl, Josef (Hg.) (2022): Geschichte und Entwicklung der Sozialen Arbeit in
Österreich. Wien: LIT Verlag. soziales_kapital, Bd. 27 (2023). Rubrik: Rezession. Graz. Printversion:
27. Ausgabe 2023
Akademisierung Sozialer Arbeit
Heimgartner, Arno / Scheipl, Josef (Hg.) (2022):
Geschichte und Entwicklung
der Sozialen Arbeit in Österreich
Wien: LIT Verlag
Erschienen in der Reihe „Soziale Arbeit – Social Issues“, herausgegeben von Arno Heimgartner und
Maria Maiss, werden in Geschichte und Entwicklung der Sozialen Arbeit in Österreich die vielfältige
theoretische Fundierung von Sozialer Arbeit anhand von individuellen Konzepten, gesetzliche
Entwicklungen sowie Besonderheiten der Ausbildungen und Organisationen im Sozialbereich
vorgestellt.ZusätzlichbeschreibenselbstinderPraxisTätigeodertätigGewesene–Professionist*innen
mit viel Praxiserfahrungen – Entwicklungen in unterschiedlichsten Bereichen: Von der Kinder- und
Jugendhilfe, der Jugendarbeit, der klinischen, sozialpsychiatrischen und Drogenarbeit bis zur Arbeit
mit Menschen mit Behinderung, Inklusionsarbeit und geschlechtsbezogenen Themen. Der Band
endet mit persönlichen Reflexionen und Fotografien zu acht historischen Orten der Sozialen Arbeit.
Den beiden Herausgebern dieses Bandes, Josef Scheipl und Arno Heimgartner, sind aus ihrer
langjährigen Tätigkeit als Professoren am Institut für Erziehungswissenschaften an der Universität
Graz die Diskurse, Reformen, Pionier*innen und ihre Pionierprojekte bestens bekannt. Die erklärten
Motive für dieses Buch sind, dass Personen gewürdigt werden sollen, die zur Verbesserung der
Lebenssituation von Menschen beigetragen haben; dass historische Denkparadigmen sichtbar
gemacht werden, die auch gegenwärtig bedeutsam sind; und dass soziale Themen und Phänomene
im Lebensalter mit all seinen Herausforderungen sowie die Unterstützungsangebote seitens
Sozialer Arbeit vorgestellt werden. Dies alles im Sinne einer österreichischen Soziallandschaft mit
einer „regional- und nationalstaatlich strukturierten Sozialszene“ (ebd.: 2). Heimgartner und Scheipl
schlagen vor, das Buch als Spurensuche zu verstehen, in dem Erinnerungen eingebracht und
festgehalten werden. Es ist ihnen bewusst, dass sie keine Gesamtschau liefern, sondern im Gegenteil
dazu aufrufen, weitere historisch-aktuelle Diskurse, Konzepte und Angebote aus der Versenkung zu
holen und darzustellen. Die eigene regionale Verortung der Herausgeber im Bundesland Steiermark
erklärt die Verankerung der meisten Beiträge genau dort. Dies bietet einer Leserin, die beruflich in
einem anderen regionalen Umfeld sozialisiert wurde – wie dies auf die Schreiberin dieser Rezension
zutrifft –, interessante Impulse und erinnert daran, dass viele Unterstützungsangebote nicht neu
erfunden werden müssten, sondern bereits gedacht und getan wurden.
Die Fülle der einzelnen Beiträge und deren Anzahl können als Gegenbewegung zu einer
sich rasch einen Überblick verschaffenden Social-Media-Community verstanden werden. Für
dieses Werk braucht es Muße, um beim Lesen und Nachvollziehen der jeweiligen Beiträge in die
Zeithorizonte und Geschichte(n) einzutauchen, ihren vorder- und hintergründigen Sinn zu verstehen
und daraus Ableitungen für eine gelungene, ethisch vertretbare Soziale Arbeit zu kondensieren.
Im Abschnitt „Individuelle Konzepte aus der Geschichte“ werden sieben historische
Besonderheiten vorgestellt, manche davon bekannter und manche wie ein neu gefundener Schatz.
Berichtet wird hier von Maria Theresia und ihren Ansätzen zur Vermeidung von Kindsmord (Josef
Scheipl); von Franz Michael Vierthaler als einem Vorläufer sozialpädagogischen Denkens in
Österreich (Birigit Bütow); von Vincenz Eduard Milde als einem Wegbereiter der Sozialen Arbeit im
19. Jahrhundert (Gerald Grimm); von der Wirklichkeit des Nichtbenannten (Michael Winkler); von der
Sozialpädagogik der Wiener Individualpsychologie (Lothar Böhnisch); von der gesellschaftlichen
und volkswirtschaftlichen Bedeutung der Fürsorge und Volkspflege und Positionen von Christian J.
Klumker und Ilse Arlt (Maria Maiss) und schlussendlich von August Aichhorn und der Geschichte
der psychoanalytischen Sozialarbeit in der Steiermark (Klaus Posch).
Bei den gesetzlichen Entwicklungen werden fachkundig drei Bereiche vorgestellt: ein
kurzer Abriss des österreichischen Kinderschutzrechtes (Josef Hiebl), der mühsame Weg zum
ersten österreichischen Jugendwohlfahrtsgesetzes (Helga Neuninger) und die Gewerbeordnung
1859 (Markus Steppan). Vier Beiträge finden sich im Teil zur Entwicklung von Ausbildung und
Organisation: Der erste widmet sich Ausbildungen in Sozialpädagogik und Sozialarbeit in Österreich
(Josef Scheipl und Arno Heimgartner), ein weiterer der Ausbildung von Sozialpädagogik im (post)
sekundären Bildungssektor in Österreich (Karin Lauermann), der dritte beschäftigt sich mit Sozialer
Arbeit im Jungarbeiterdorf Hochleiten bis ins Steinfeld (Reinhold Stipsits) und ein vierter beleuchtet
Entwicklungsprozesse von sozialen Organisationen (Maria Anastasiadis).
Die folgenden vier Abschnitte sind handlungsfeldbezogen und beginnen mit vier Beiträgen
zur Kinder- und Jugendhilfe: 50 Jahre Pflegekinderwesen in der Steiermark (Friedrich Ebensperger),
Entstehungsgeschichte der österreichischen sozialpädagogischen Jugendwohngemeinschaften
(Walter Perl und Donat Schöffmann), Kriseneinrichtungen im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe
in Österreich (Regina Enzenhofer) und die Geschichte von institutionalisierter Gewalt in der
Heimerziehung und ihre Aufarbeitung (Michaela Ralser). Im Handlungsfeld Jugendarbeit wird
die Geschichte der verbandlichen Jugendarbeit zwischen Pädagogik und Politik beschrieben
(Natalia Wächter), die offene Jugendarbeit in Vorarlberg von 1970 bis heute (Eva Häfele) und die
Geschichte von bOJA (Stephanie Deimel-Scherzer und Lukas Trentini). Im Handlungsfeld klinische,
sozialpsychiatrische und drogenbezogene Entwicklungen finden sich drei Beiträge: der Weg
des Klinischen in Österreichs Sozialer Arbeit (Heinz Wilfing), internationale Entwicklungen in der
Sozialpsychiatrie mit Bezug zu Österreich (Barbara Kerschbaumer und Sandra Buchgraber) und
zur Geschichte der Drogenberatung in der Steiermark (Marin Riesenhuber und Renate Hutter). Im
Abschnitt Inklusion schreibt Hannelore Reicher zu Menschen mit Behinderung. Weiters findet sich
ein Beitrag zur Selbstbestimmt-Leben-Bewegung (Ernst Kočnik, Rahel More, Marion Sigot) und
eine Beschreibung zur Wohnplattform Steiermark (Birgit Schörgi, Martin Urban, Teresa Kern, Gerold
Wedenig und Klaus Posch).
Geschlechtsbezogene Entwicklungen werden in zwei Beiträgen bearbeitet: zu Pionierinnen
bei SOS-Kinderdorf (Christina Lienhart) und zu Männerarbeit und Männerpolitik (Josef Christian
Aigner und Josef Hölzl). Beendet wird das Werk durch einen Fotorundgang mit Reflexionen zu
acht historischen Orten der Sozialen Arbeit (Arno Heimgartner, unterstützt von Simone Babl und
Franz Gombocz). Die Foto-Stationen sind: das Museum Marienthal, die Gedenktafel für Ilse Arlt,
Oberhollabrunn und August Aichhorn, das Anton-Afritsch-Monument in Graz, das Gebäude der
Caritas in der Mariengasse/Graz, das ISOP-Gebäude in der Dreihackengasse, die Holzstatue von
Eugenie Schwarzwald in Payerbach und die Gedenktafel Ottakringer Settlement.
Wie oben zu sehen ist, kommen viele – in Summe 39 (!) – Denker*innen und Handelnde der
Sozialen Arbeit zu Wort. Und gleichzeitig fehlen viele, die ebenfalls von Besonderheiten berichten,
Vertiefungen und vielleicht auch Widerspruch einbringen könnten und die in der Lage wären,
Fragezeichen aufzulösen und den großen gemeinwohlorientierten Schatz der Sozialen Arbeit
historisch nachzuzeichnen. Kraft aus der Geschichte zu schöpfen, ist eine Intention der Herausgeber
und Autor*innen und dazu können die einzelnen Beiträge jedenfalls ermutigen.
Im Sinne des Schaffens von Verbindungen zwischen Sozialpädagogik und Sozialarbeit
verweisen viele Beiträge auf gemeinsame Entwicklungen und gemeinsames Tun, auch wenn die
Ausbildungen quer dazu organisiert waren und noch immer sind (vgl. Heimgartner/Scheipl und
Lauermann im vorliegenden Band). Bemerkenswert ist die ausgeglichene Anzahl an Autorinnen
und Autoren, nämlich 19 Frauen und 20 Männer. Das diesbezügliche Verhältnis in der Praxis
liegt hier bekanntlich noch anders. Basissozialarbeit mit Klient*innen wird weitgehend von
Sozialarbeiter*innen durchgeführt, während Leitungsstellen und Positionen in der Lehre und
Forschung geschlechtsbezogen eher ausgeglichen besetzt oder auch männlich dominiert sind.
Wünschenswert wäre für einen nächsten Band, bewusst Pionierinnen von Projekten, theoretische
Denkerinnen und Wegbegleiterinnen zu gewinnen, die ihre Erinnerungen zu Aufbauarbeiten,
Umsetzungen und Widerständen einbringen.
Zusammenfassend bietet dieses Werk spezifische Theoriediskurse und reflexive Beschreibungen
von Entwicklungen in einzelnen Handlungsfeldern, bei denen weniger die Perfektion als der Mut
und eine Handlungs-, Denk- und Umsetzungskraft für die Lösung von aktuellen Aufgaben im
Vordergrund stehen. Ein Nachteil des Werkes ist seine Schwere: es ist mit seinen 724 Seiten nicht
dazu geeignet, nebenbei mitgenommen oder gelesen zu werden. Es braucht seinen besonderen
Platz, Zeit und Muße, um daraus Erkenntnisse zu gewinnen. Wer sich die Zeit dafür nimmt, wird
Interessantes erfahren, Bekanntes wieder entdecken und potenziell in seinem eigenen Denken und
Tun bestärkt und ermutigt werden.
724 Seiten / EUR 57,95
Gertraud Pantuček