soziales_kapital
Johanna M. Hefel, Anja Kerle. Die Akademisierung und Professionalisierung der Sozialen Arbeit in
Österreich. soziales_kapital, Bd. 27 (2023). Rubrik: Editorial. Vorarlberg. Printversion: http://www.soziales-
27. Ausgabe 2023
Akademisierung Sozialer Arbeit
Die Akademisierung und Professionalisierung der
Sozialen Arbeit in Österreich
Johanna M. Hefel & Anja Kerle (Standort Vorarlberg) für die Redaktion
Die 27. Ausgabe von soziales_kapital widmet sich der Akademisierung der Sozialen Arbeit in
Österreich. Im Jahr 1912 gründete Ilse Arlt die erste unabhängige Fürsorgeschule in Wien und legte
wesentliche Grundsteine für den langen und bis dato unabgeschlossenen Weg der Akademisierung
der Sozialen Arbeit. Ihre Entwicklung ist in der Frauenbewegung des 19. und 20. Jahrhunderts
grundgelegt und unmittelbar mit dieser verknüpft; sie verläuft vom Ehrenamt über die Verberuflichung
hin zur anerkannten Profession und Disziplin, deren Studium sich heute durch die Aneignung von
theoriegeleitetem Wissen und Kompetenzen sowie eine entsprechende Praxistätigkeit auszeichnet.
Die formale Akademisierung der Sozialen Arbeit in Österreich erfolgte im Rahmen der Überführung
der Ausbildung von den Sozialakademien an die Fachhochschulen ab dem Jahr 2001. Die Beiträge
zum Thema diskutieren die historischen Entwicklungen der Akademisierung Sozialer Arbeit in
Österreich mitsamt ihren Diskontinuitäten, spüren kritisch Professionalisierungsprozessen und De-
Professionalisierungstendenzen nach und gehen auf relevante Organisationen, wie beispielsweise
Fachhochschulen und Fachgesellschaften, ein.
Johanna M. Hefel und Iris Kohlfürst leisten in ihrem Beitrag eine Bestandsaufnahme der
AkademisierungderSozialenArbeitmitBlickaufdenRegelabschlussvonFachkräften, dieFörderung
von Nachwuchswissenschaftler*innen, Forschungsstrukturen, ein notwendiges Kerncurriculum
sowie das fehlende Berufsgesetz. Sie argumentieren für die Notwendigkeit von Fachgesellschaften
wie der Österreichischen Gesellschaft für Soziale Arbeit (ogsa) in Akademisierungsprozessen.
Die Entwicklung der Ausbildung und Theorie der Sozialen Arbeit in Österreich, welche sich
dem Engagement von Pionier*innen wie Ilse Arlt verdankt, erfuhr eine Unterbrechung durch
und im Nationalsozialismus, wie Eva Fleischer und Andrea Trenkwalder-Egger in ihrem Beitrag
argumentieren. Dieser Bruch findet, so die Autorinnen, seinen Ausdruck in einer verspäteten
Professionalisierung der Sozialen Arbeit und zeigt sich auch am Fehlen eines Berufsgesetzes. Diese
Leerstelle des Berufsgesetzes wiederum birgt die Gefahr der De-Professionalisierung der Praxis, da
die Soziale Arbeit keinem Berufs- und Titelschutz unterliegt und daher die beliebige Verwendung
der Bezeichnung Sozialarbeiter*in möglich ist. Sie verdeutlichen die Wichtigkeit einer gesetzlichen
Regelung, die gegenwärtig noch aussteht.
Dem Thema Berufsgesetz widmet sich auch der Beitrag von Julia Pollack, welcher die
historischen Entwicklungen und aktuellen Bestrebungen zu einem solchen Gesetz darstellt. Die
mehr als 25-jährige Auseinandersetzung verweist auf durchaus unterschiedliche Berufsbilder und
Professionsverständnisse, sie ist gekennzeichnet durch unterschiedliche Debatten um Gesetzes(vor)
entwürfe und Verwerfungen – insgesamt ein komplexer Prozess, dessen Kontinuität durch das
Engagement des Oesterreichischen Berufsverbands für Soziale Arbeit (OBDS) sichergestellt wird.
Präsentiert werden im Beitrag darüber hinaus Vorschläge für eine zeitgemäße gesetzliche Regelung
Sozialer Arbeit, die richtungsweisende Perspektiven für ein aktuelles Berufsgesetz darstellen
können. Deutlich wird: Ähnlich unabgeschlossen wie die Geschichte der Akademisierung der
Sozialen Arbeit, die im Beitrag von Eva Fleischer & Andrea Trenkwalder-Egger sowie dem von
Johanna M. Hefel & Iris Kohlfürst nachgezeichnet wird, ist auch das Ringen um ein Berufsgesetz
der Sozialen Arbeit.
Fachhochschulen, die in Österreich zentrale Institutionen der Akademisierung der Sozialen
Arbeit darstellen, fungieren als Brücke zwischen Theorie und Praxis. Insbesondere die Praxislehre
und Praxiskoordination ist aufgrund ihrer engen Bezüge zu den Handlungsfeldern Sozialer Arbeit ein
Seismograf für die Entwicklungen in ebendiesen. Als Schauplatz der Akademisierung der Sozialen
Arbeit beschreibt auch Gertraud Pantuček die Fachhochschulen in ihrem Beitrag. Ausgehend von
der seit nunmehr 20 Jahre bestehenden Ausbildung von Sozialarbeiter*innen an Fachhochschulen
überlegt sie, inwiefern die von der International Association of Schools of Social Work (IASSW)
formulierten „Global Standards For Social Work Education & Training“ an Hochschulen realisiert
werden und welche Desiderate gegenwärtig bestehen. Diskutiert werden hierbei zum Beispiel ein
Kerncurriculum,dieDiversitätinderAusbildung,diePartizipationvonStudent*innenundNutzer*innen
Sozialer Dienste sowie der Einbezug aktueller sozialer Entwicklungen in die Ausbildung.
Akademisierungsprozesse sind verwoben mit der Professionalisierung Sozialer Arbeit, aber
auch deren De-Professionalisierung. Diskutieren lässt sich im Zuge der Entwicklungen an den
Fachhochschulen, ob De-Professionalisierungstendenzen mit der Umstellung der Studienstruktur
im Zuge des Bolognaprozesses und der interdisziplinären Öffnung der Masterstudiengänge für
Quereinsteiger*innen einhergehen. Hier zeigt sich auch das wechselseitige Verhältnis zwischen
Hochschulen und Praxisfeldern der Sozialen Arbeit. Dynamiken aus den – teilweise unter Druck
stehenden – Handlungsfeldern wirken sich auf die (Un-)Möglichkeiten akademischer Ausbildung
aus, wie am Beispiel der Praxislehre deutlich wird. Gleichwohl sollten die in der akademischen
Ausbildung vermittelten Inhalte aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen aufnehmen und so zur
Weiterentwicklung der Profession und zur Professionalisierung von Fachkräften beitragen.
In der Rubrik Sozialarbeitswissenschaft stellen Ernest Aigner, Hanna Lichtenberger,
Judith Ranftler und Sonja Schmeißl die Auswirkungen des Klimawandels auf armutsbetroffene
Kinder und Familien dar und zeigen, dass die Klimakrise bestehende soziale Ungleichheiten
vertieft und neue Herausforderungen entstehen lässt. Die Soziale Arbeit ist daher gefordert,
richtungsweisende Perspektiven hin zu mehr Klimagerechtigkeit zu entwickeln und diese Inhalte
gegenwärtig und zukünftig stärker in Curricula zu berücksichtigen. Dagmar Fenninger-Bucher und
Gabriele Kronberger gehen in ihrem Beitrag der Frage nach einem Fachkräftemangel in der Sozialen
Arbeit nach. Sie zeigen, dass sich dieser auf Praktika während des Studiums auswirkt und zu
VereinbarkeitsproblemenundArbeitsstressfürStudierendeführenkann.AusdiesemGrundplädieren
sie für eine Evaluierung des Bedarfs der Fachkräfte in der Sozialen Arbeit in Österreich. Bettina
Eichinger befasst sich mit professioneller Unterstützung für Eltern mit Lernschwierigkeiten und
verweist auf die Randständigkeit dieser Thematik. Tamara Mandl argumentiert für eine notwendige
Öffnung der Palliative Care ausgehend von der Diversität und Pluralität von sterbenden Menschen
und deren Angehörigen. Karen Meixner fokussiert in ihrem Beitrag auf online hate speech und geht
den Fragen nach, welche Faktoren die Veröffentlichung von Hassreden im Internet befördern und
welche Präventionsmöglichkeiten der Sozialen Arbeit zur Verfügung stehen. Die Herausforderungen
in der Beratung der Offenen Jugendarbeit, aber auch Möglichkeitsräume zeichnen Manuela Hofer
und Marc Diebäcker in ihrem Beitrag nach, der auf den Ergebnissen einer explorativen Studie zum
Thema basiert.
In der Rubrik Junge Wissenschaft thematisiert Priska Buchner gesellschaftliche Prozesse
zwischenEmanzipationeinerseitsundDisziplinierungandererseitsimRahmenderCorona-Pandemie.
Cordula Hinterholzer legt in ihrem Beitrag dar, dass die zunehmende Sichtbarkeit der Vielfalt von
geschlechtlichen Identitäten und sexuellen Orientierungen von Professionellen geschlechter-
und queerreflexive Kompetenzen erfordert, welche nicht per se gegeben sind. Fabian Matthias
Kos befasst sich mit Führungsethik und plädiert für eine kontextabhängige und kontextsensible
Form ethischer Entscheidungsfindung. Er stellt ein Klassifikationsschema vor, das die Reflexion
von Entstehungsbedingungen und die Erläuterung von Problemsituationen unterstützen kann. Im
Beitrag von Stefanie Premitzer wird das Angebot der Kurzzeitpflege in Kärnten erläutert und kritisch
diskutiert.
In der Rubrik Werkstatt diskutieren Katharina Kirsch-Soriano da Silva und Eva-Maria Kehrer
die Rolle der Gemeinwesenarbeit und geben einen Überblick über kooperative Entwicklungsansätze
für Quartiersräume in neuen Stadtteilen von Wien. Im Beitrag von Manfred Tauchner, Johann Praith,
Manuela Kovalev et al. werden entlang zentraler Ergebnisse einer in Österreich und der Slowakei
durchgeführten Studie sowohl die Herausforderungen für Gründer*innen von Sozialunternehmen
als auch Lücken im Studium der Sozialen Arbeit aufgezeigt. Geschlechtsspezifische Gewalt an
wohnungslosen und obdachlosen Frauen thematisieren Barbara Unterlerchner, Bojana Bonić und
Anna Aszódi. Sie zeigen, wie adäquate Unterstützung durch strukturelle Ungleichverhältnisse
sowie die Individualisierung von Problemlagen verhindert wird. Melanie Zeller stellt die Information
von zivilen Personen über häusliche Gewalt in den Mittelpunkt ihres Beitrags und arbeitet heraus,
dass Bewusstseinsbildung und unterstützende Handlungsanleitungen wesentliche Elemente der
Gewaltprävention darstellen.
In der Rubrik Positionen thematisieren Simone Tillian und Hubert Höllmüller die Erfahrungen
von Jugendlichen in den Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe sowie die dortige prekäre
Personalsituation und ziehen Vergleiche zu einer Publikation in diesem Journal aus dem Jahr 2015.
Außerdem finden sich in dieser Ausgabe zwei Rezensionen: Anna Gamperl hat den Band Praxis
Sozialer Arbeit in Österreich (2022) rezensiert, der von Josef Bakic, Johanna Coulin und Gabriele
Kronberger herausgegeben wurde, Gertraud Pantuček widmet sich dem Sammelband Geschichte
und Entwicklung der Sozialen Arbeit in Österreich (2022) von Arno Heimgartner und Josef Scheipl.
Die Beiträge in den Rubriken Sozialarbeitswissenschaft, Junge Wissenschaft, Werkstatt und
Positionenverdeutlichen, dassesanAnlässenfürdieProfessionalisierungundWeiterentwicklungder
Sozialen Arbeit gegenwärtig nicht mangelt. Mag ihre Akademisierung auch eine junge Entwicklung
sein, präsentiert sich die Soziale Arbeit in Österreich in dieser Ausgabe doch als wache, kritische,
differenzierte und fachlich profunde Disziplin und Profession. Wir wünschen Interesse, Neugierde
und eine spannende Lektüre der interessanten und inspirierenden Beiträge.