Peter Peinhaupt. Transformative Justice. Neue Perspektiven für den Gewaltschutz. soziales_kapital,
28. Ausgabe 2024
Soziale Arbeit, Staat und Zivilgesellschaft
Transformative Justice
Neue Perspektiven für den Gewaltschutz
Peter Peinhaupt
Zusammenfassung
Das Paper stellt dar, wie Transformative Justice und Community-Accountability-Ansätze neue
Perspektiven für den Gewaltschutz in der Sozialen Arbeit eröffnen. Ausgangspunkt dafür ist die
Darstellung der Widersprüche im gegenwärtigen Gewaltschutz, woran anschließend das Konzept
Transformative Justice als Alternative vorgeschlagen wird. Dieses hat ein enormes Potential,
um Gewalt auf eine moderierende und unterstützende Weise in Gemeinschaften zu bekämpfen.
Nicht der strafende Staat, sondern kleine, sorgende Gemeinschaften werden hier zum Raum der
Transformation und Intervention. Das Paper beschreibt Konzepte, die in der aktivistischen Praxis
entstanden sind, und zeigt mögliche Anschlüsse, um den Gewaltschutz in Österreich zu erneuern
und zu erweitern. Der Beitrag soll insgesamt zu einer gewaltfreien und demokratischen Welt
beitragen, indem er ein Plädoyer für abolitionistisch-feministischen Gewaltschutz formuliert.
Schlagworte: Transformative Justice, Strafrechtsfeminismus, Intersektionalität, Gewaltschutz,
Feminismus, Abolitionismus, Community Accountability, Anti-Gewalt-Arbeit
Abstract
The paper shows how transformative justice and community accountability approaches offer new
perspectives for the protection against violence and social work. The starting point for this is the
delineation of the contradictions in the current approach to violence prevention. This is followed
by the presentation of the concept of transformative justice as an alternative. The concept has
enormous potential to combat violence in communities in a moderating and supportive way. It is not
the punitive state, but rather small, caring communities that become the space for transformation
and intervention. The paper describes concepts that have emerged in activist practice and shows
possible connections for renewing and expanding the existing protection against violence in Austria.
The paper thus aims to contribute to a non-violent and democratic world by formulating a plea for
abolitionist feminist protection against violence.
Keywords: transformative justice, carceral feminism, abolition, community accountability,
community-based response, feminism, anti-violence work, intersectionality, protection against
violence
1
Einleitung
In der Arbeit mit Betroffenen als auch mit Ausübenden von Gewalt bin ich immer wieder
mit den Rahmenbedingungen des österreichischen Gewaltschutzes konfrontiert. Die
Unterstützungsmöglichkeiten sind meist an strafrechtliche Interventionen gebunden, was sowohl
historische als auch ethisch-philosophische Wurzeln hat. Straf- und Zivilrechtliche Interventionen
sind sehr wichtig, auf vieles können sie aber nicht reagieren und vor allem öffnen sie nicht den Blick
auf und für ein gewaltfreies Miteinander.
DerGewaltschutzinÖsterreichisteinerkämpftesundwichtigesGutderFrauenhausbewegung.
Sein wichtigstes Instrument und auch die zentrale Errungenschaft der Bewegung ist das
Gewaltschutzgesetz.Estrat1997inKraftundmitihmgelanges,GewaltgegenFrauenausdemPrivaten
zu holen und staatlich zu bearbeiten. Der aktuelle professionelle Gewaltschutz ist entsprechend eng
verbunden mit der Strafjustiz. Psychosoziale Prozessbegleitung, die Begleitung von Adressat:innen
in einem Strafprozess, ist eine zentrale Praxis der Anti-Gewalt-Arbeit. Wegweisungen finden in
einer engen Interventionskette, bei hoher Vernetzung und im Austausch zwischen Polizei und
Gewaltschutzzentren sowie weiteren Sozialeinrichtungen statt. Derzeit wird Sicherheit durch die
Augen der Strafjustiz definiert; die im Notfall zu rufende Polizei soll diese garantieren. Die Gerichte
strafen die gewaltausübenden Personen und sollen vor weiteren Taten schützen. Gefängnisse und
Anti-Gewalt-Therapien sollen resozialisieren. Dieses Sicherheitsverständnis ist auch prägend für
die Praxis im Gewaltschutz. Anzeige, Begleitungen und das Stellen von einstweiligen Verfügungen
sind gängige sozialarbeiterische Praxen. Transformative-Justice-Frameworks setzen hier an. Sie
fordern uns heraus, Sicherheit neu zu denken. Die Theoretiker:innen und Praktiker:innen fordern
eine sichere Gesellschaft ohne Strafjustizsystem, ohne Polizei und ohne Gefängnisse (vgl. Quan
2024: 187f.).
Entwickelt wurden und werden Transformative-Justice-Modelle und -Praxen von
abolitionistischen Feminist:innen. Aufbauend auf intersektionalen Herrschaftsanalysen verbindet
das Konzept interpersonelle Gewalt mit sozio-materiellen Umständen, Marginalisierungen,
heteropatriarchalen Ausgrenzungen usw. (vgl. Quan 2024: 187f.). Transformative Justice ist praktisch
und bietet konkrete methodische Vorschläge für Anti-Gewalt-Arbeit im sozialen Nahraum. Gewalt
wird als gemeinschaftliche Bürde verstanden. Die Gemeinschaft wird zum Ort der Prävention,
Intervention und durch gelebte Praxen zum Katalysator für Transformation. Für abolitionistische
Feminist:innen bietet die Befähigung sozialer Netzwerke, nachhaltig Gewalt zu bearbeiten, eine
transformative Chance: Die Chance einer gesellschaftlichen Veränderung durch alltägliche sorgende
Praxen. Davon ausgehend machen sich abolitionistische Feminist:innen für neue Rationalitäten
stark und sie fordern, Sicherheit und Gewalt neu zu begreifen. Gewalt muss diesem Konzept zufolge
in ihrer Vielfältigkeit und Interdependenz begriffen werden, wodurch auch gängige Gewaltanalysen
des bestehenden Gewaltschutzes herausgefordert werden. Die Soziale Arbeit kann in diesem
Zusammenhang eine zentrale Rolle einnehmen. Entsprechend ihres Anspruches, Menschen zu
befähigen und Ungleichheitsverhältnisse zu bekämpfen, verhelfen Transformative-Justice-Praxen
zu einer möglichen Neuausrichtung: weg von strafender Anti-Gewalt-Arbeit, hin zu befähigenden
Prozessen und zur gesellschaftlichen Transformation.
Im folgenden Paper wird in einem ersten Schritt dargestellt, warum es eine intersektionale
Perspektive braucht, um Menschen vor Gewalt zu schützen. Ich werde beschreiben, warum ein
erweitertes Verständnis von Gewalt notwendig ist, das unterschiedliche Gewaltformen verbindet
und das interpersonelle oder intime Partner:innen-Gewalt im Kontext größerer gewalttätiger
Regime denkt (vgl. Quan 2024: 186). Daran anschließend wird anhand einer abolitionistischen Linse
auf die Grenzen der Veränderungshorizonte im aktuellen Gewaltschutz verwiesen. In Abgrenzung
dazu werde ich darlegen, wie abolitionistische Praxis gesellschaftlich transformativ wirkt. Das
Vielversprechende an diesem Zugang ist gerade, dass Gewalt sowohl mit Blick auf das individuelle
Verhalten als auch auf Makro- und Mesoebene bearbeitet wird. Da Transformative-Justice-Praxen
Gemeinschaften dazu befähigen, die Gewalt im Nahraum zu bekämpfen, ohne dabei den Blick auf
die Verhältnisse zu verlieren, ermöglichen sie auch langfristige Veränderungen und Prävention. In
einem letzten Schritt wird dargelegt, welche Konsequenzen und Widersprüchlichkeiten sich aus den
kontrovers diskutierten Konzepten Transformative Justice und Community Accountability ergeben.
Im Anschluss werden professionsethische Konsequenzen für die Soziale Arbeit dargestellt. Darüber
hinaus werden durch die Vorstellung von praktischen Methoden und konkreten Implementierungs-
Überlegungen die Möglichkeiten der Operationalisierbarkeit des Konzepts gezeigt.
2
Die Notwendigkeit einer intersektionalen Analyse
Bei einer Podiumsdiskussion gegen Gewalt an Frauen im vergangenen Herbst, an der ich
teilnahm, verwiesen migrantische Frauen wiederholt auf das Zusammenspiel von systematischer
Staatsgewalt und Gewalt in der Beziehung. Frauen, deren Aufenthaltsstatus an den Mann gebunden
ist, oder die aufgrund der fehlenden Arbeitserlaubnis kein eigenes Einkommen haben, sind der
gewaltausübenden Person vollkommen ausgesetzt. Staatliche Schutzsysteme wie die Polizei
werden als gefährlich wahrgenommen. Ein repressives Fremden- und Arbeitsrecht drängt die
Frauen in die Gewaltbeziehung. Die geschilderten Erfahrungen der Aktivistinnen verweisen auf die
Probleme des aktuellen Gewaltschutzes: Der Gewaltschutz orientiert sich an den Lebensrealitäten
weißer, europäischer Frauen.
Intersektionale Analysen machen sichtbar, dass die Lebensrealitäten und multiplen
Ausformungen von Identität auch die spezifischen Ausformungen von erfahrener Gewalt prägen (vgl.
Crenshaw 1991: 1242). Kimberlé Crenshaw erkannte das schon früh. In ihrem kanonischen Artikel
„Mapping the Margins: Intersectionality, Identity Politics, and Violence against Women of Color“
(1991) problematisiert sie, dass Frauen bei der Analyse von Gewalt zumeist als homogene Gruppe
beschrieben werden, die eine gemeinsame Erfahrung der Welt teilen. Gerade die spezifischen
und multiplen Ausformungen der Identitäten bilden eben auch spezifische Ausformungen der
Gewalterfahrungen (vgl. Crenshaw 1991: 1242). Mimi Kim (2018) unterstreicht, dass Anti-Gewalt-
Programme zumeist von weißen Feminist:innen konzipiert wurden. Für BIPoC-Frauen, so Kim,
sind diese oft nicht relevant oder verstoßen gegen Interessen der eigenen Community (vgl. Kim
2018: 7). Mit ähnlicher Stoßrichtung fordert Ann Russo, dass der Gewaltschutz sich nicht nur an
den Lebensrealitäten von weißen Frauen orientiert, denn dadurch werden auch rassifizierte Opfer-
und Täter-Vorstellungen reproduziert (vgl. Russo 2019: 6). Im Extremfall, so zeigen die Berichte
der Aktivist:innen, drängen staatliche Praxen Betroffene dann regelrecht in Gewaltbeziehungen.
Mehrfach diskriminierte Menschen berichten häufig von schlechten Erfahrungen mit staatlichen
Institutionen, denen sie oftmals auch nicht trauen (vgl. Levinen/Meiners 2020: 8). Dies hat zur Folge,
dass marginalisierte Personen im Vergleich zu weißen Cis-Personen nicht nur spezifisch, sondern
auch überproportional und multipel von Gewalt betroffen sind (vgl. ebd.: 6).
Intersektionale Analysen von Feministinnen wie Angela Davis (2003; Davis et al. 2022)
oder Beth Richie (2022) ermöglichen es, Gewalt in ihrer Komplexität zu analysieren. Wird Gewalt
als strukturelle Größe und in Verbindung zu gewalttätigen Regimen wie dem Migrations- oder
Sicherheitsregime, der Polizei und Gefängnissen verstanden, kann auch intime Partner:innen-
Gewalt nicht mehr als individueller Einzelfall ausgelegt werden. Anti-Gewalt-Arbeit muss sich dann
zwingendmitHerrschaftssystemenwieeinemrassifiziertenKapitalismusoderdemHeteropatriarchat
auseinandersetzen. Es bedarf einer intersektionalen Herrschaftsanalyse, um Gewalt begreifen und
aufbrechen zu können.
3
Feministische Perspektiven und Abolitionismus
In abolitionistischer Tradition nehmen vorwiegend nordamerikanische BIPoC-Theoretiker:innen
und -Aktivist:innen staatliche Justizpraxen in den Blick und fragen, ob diese wirklich zu mehr
Sicherheit führen. Der häufig formulierte Vorwurf ist, dass die Strafjustiz die Verhältnisse eher
verfestigt und so im Gegenteil zu mehr Gewalt führt. Abolitionistische Feminist:innen verorten sich,
wie es der Name schon verrät, in einer feministischen und abolitionistischen Tradition. Geleitet
von abolitionistischen Analysen erkennen die Theoretiker:innen Gewalt als notwendige Folge eines
heteropatriarchalen und rassistischen Kapitalismus (vgl. Quan 2024: 15). Sowohl die Ungleichheit
zwischen den Geschlechtern als auch die rassistische Herrschaft werden durch vielfache Formen
der Gewalt aufrechterhalten. Beispielhaft zeigt sich dies in geschlechtsspezifischer Gewalt, bei
Zwangsheiraten, in diskriminierenden Gesetzen, in rassistischer Polizeigewalt und vielem mehr. Die
politischen und ökonomischen Verhältnisse sind diesem Verständnis zufolge also die Grundlage der
Gewalt und gehören, so der Schluss, als Ganzes abgeschafft. Abolitionismus fordert somit nichts
geringeres als die Transformation der bestehenden Verhältnisse. In der Tradition einer gelebten
Utopie geflüchteter Sklaven muss eine andere, gewaltfreie Welt ausprobiert und erfahren werden.
Die Utopie wird in alltäglichen Praxen gefunden (vgl. Loick/Thompson 2022: 10).
Der Abolitionismus hat immer zwei Seiten. Er ist eine kritische Auseinandersetzung mit
Herrschaftssystemen und gleichzeitig gelebte Praxis. Die neuen Verhältnisse, Rationalitäten und
Beziehungen werden im täglichen Tun gelebt. Transformative Justice setzt hier an. Transformative
JusticeistinspiriertvonAnti-Gewalt-PraxeninGemeinschaften,diesichnichtaufdiePolizeiverlassen
können. In der abolitionistischen Tradition wird praktisch an einer gewaltfreien Welt im Hier und Jetzt
gearbeitet. Gleichzeitig verweist die abolitionistische Analyse auf die Grenzen der Reformierbarkeit
des bestehenden Systems. Transformative Justice will eben nicht das Strafjustizsystem reformieren,
sondern eine Vielzahl funktionaler Alternativen schaffen. So grenzt sich das Konzept klar von
Formen des Strafens (Gefängnis, Polizei) oder restaurativen Praxen (Tatausgleich) ab. Nicht im
Strafjustizsystem wird also gearbeitet, sondern außerhalb davon, weil das Strafjustizsystem
diesem Verständnis zufolge im Dienst eines rassifizierten und vergeschlechtlichten Kapitalismus
steht (vgl. ebd.: 11f.). Abolitions-Feminist:innen kritisieren entsprechend die Entwicklung und die
Praxen des staatlich-institutionellen Gewaltschutzes. Sie werfen diesem Gewaltschutz vor, den
gesellschaftspolitischen Anspruch verloren zu haben und zum Ausbau des Sicherheitsapparats
beizutragen.
Der moderne Gewaltschutz ist geprägt von der Idee eines starken Staates, der Gewalt
verhindert. Gleichzeitig ist er das Resultat von Kämpfen, deren Errungenschaften jedoch eng mit
der Strafjustiz verknüpft sind. Sylvia Walby (2013) hinterfragt in ihrer Forschung, ob ein stärkerer
Staat interpersonelle Gewalt minimieren kann. Sie kritisiert die Annahme, dass Gewalt durch den
Ausbau eines Nationalstaates weniger werde. Walby sieht hier eine Idee der Moderne am Werk, wenn
davon ausgegangen wird, dass ein immer weiter ausgebauter Nationalstaat zu einer gewaltfreien
Welt führe. Sie führt diese Idee auf Max Weber und Thomas Hobbes zurück, die dem Staat das
Gewaltmonopol zusprechen, um ein reguliertes und gewaltfreies Miteinander zu sichern. Beide
verorten Gewalt nach Walby an den unregulierten Rändern der Gesellschaft, die Devianz wird in
der Abgeschlagenheit der dunklen Gassen vermutet (vgl. Walby 2013: 98). Diese Annahmen halten
feministischer Forschung jedoch nicht stand, denn der Staat teilt sich nach Walby die Gewalt mit
Patriarchen und Rassisten. Gewalt gegen Frauen und marginalisierte Menschen entsteht nicht an
den Rändern der Gesellschaft, sondern durchdringt alle Gruppen und sozialen Schichten. Nicht die
gesellschaftlich Abgeschlagenen, die Marginalisierten nutzen die Gewalt, sondern die Privilegierten,
um Herrschaftsverhältnisse aufrechtzuerhalten (vgl. Walby 2013: 7). Walby unterstreicht, dass das
Versprechen der Moderne von einer gewaltfreien Welt für marginalisierte Gruppen nicht eingelöst
wurde.
In diesem Spannungsfeld zwischen Gewaltschutz und Staat lässt sich auch die Entwicklung
des österreichischen Gewaltschutzes skizzieren. Der Leitspruch der Frauenhausbewegung der
1970er Jahre war: Das Private ist politisch. Bis in die 1970er Jahre war häusliche Gewalt rechtlich
eine private und familiäre Angelegenheit und wurde nicht in gesellschaftlicher Verantwortung
gesehen. Der Mann galt gesetzlich als Familienoberhaupt, seinen „Maßregeln“ hatte sich die
Ehefrau unterzuordnen. Der Slogan ‚Das Private ist politisch‘ verweist auf die bis dahin staatlich
akzeptierte Gewalt im Privaten, welche von nun an politisch und eben auch staatlich bearbeitet
werden sollte. 1997 trat nach jahrzehntelanger Lobby- und aktivistischer Arbeit das Bundesgesetz
zum Schutz vor Gewalt in der Familie, kurz: Gewaltschutzgesetz, in Kraft. Entwickelt wurde es nach
einer ministeriellen Auftragserteilung von Feministinnen der Frauenhausbewegung, gemeinsam mit
Polizei, Zivil- und Strafjustiz (vgl. Dearing 2017: 2ff.). Das Gesetz gilt als zentrale Errungenschaft der
Frauenhausbewegung.
David Garland argumentiert, dass die Entwicklung vom Sozialstaat in den 1970er Jahren
zum neoliberalen Staat der Gegenwart dazu geführt hat, dass Gewalt nicht mehr als Produkt
der Verhältnisse verstanden wird, die mit dem Ausbau sozialer Leistungen gemeinschaftlich
gelöst werden könne. Gewalt wurde immer mehr als individuelle Abweichung begriffen, die
sicherheitspolitisch bearbeitet werden sollte (vgl. Garland 2016: 367f.). In diesem Zusammenhang
entwickelte die Soziologin Elisabeth Bernstein den Begriff des Carceral Feminismus (Strafjustiz
Feminismus). Sie beschreibt, wie sich die feministischen Werkzeuge praktisch und ideologisch
durch diese Entwicklungen verändert haben. Die feministischen Utopien einer gewaltfreien Welt
durch die Abschaffung des Patriarchats wurden durch Praktiken der Strafjustiz ersetzt. Gewalt wird,
so die Kritik, individualisiert und nicht als gesellschaftliches Problem begriffen. Stattdessen wird
davon ausgegangen, dass das soziale Problem patriarchaler Gewalt durch eine Law-and-Order-
Politik lösbar sei (vgl. Bernstein 2007: 16).
Dies führte schlussendlich auch dazu, dass der Gewaltschutz zunehmend Service- und
Einzelfall-orientiert ausgerichtet wurde und eng mit den Strafjustizbehörden arbeitete (vgl. Logar
2014: 353f.; Kim 2018: 5, 2020: 254). Gewalt wird dann nicht mehr gesellschaftlich bearbeitet,
sondern in Einzelberatungen und individuellen Therapien. Professionist:innen im Gewaltschutz
beraten sodann, bieten juristische und psychosoziale Prozessbegleitung oder vermitteln an
andere Institutionen. Russo hält diesbezüglich fest, dass die Akteur:innen im Gewaltschutz für die
Betroffenen,abernichtmitihnenarbeiten.Zielewerdennichtgemeinsamentwickelt,sondernmüssen
in ein vorgefertigtes Korsett passen: „This service approach structures support as something we
– as individuals, as experts – do for a survivor, not something we do with them.“(Russo 2019: 114)
Auch Kim beschreibt mit ihrer Idee des „Carceral Creep“, dass der einst progressive Gewaltschutz
durch seine Forderungen nach (härteren) Gesetzen und (verstärktem) polizeilichen Einschreiten
Stück für Stück vom Strafjustizsystem vereinnahmt wurde. Schlussendlich hat er dadurch seine
gesellschaftspolitischen Ziele verloren bzw. sich den sicherheitspolitischen Zielen untergeordnet
(vgl. Kim 2020: 254). Dieser sicherheitspolitische Gewaltschutzdiskurs ist zum dominanten Diskurs
geworden und er beeinflusst Rechtsvorschriften und Reformen (vgl. Davis et al. 2022). Der ständige
Verweis auf Sicherheit wird so auch von konservativen Politiker:innen genutzt, um Strafjustizsysteme
auszubauen (vgl. Bernstein 2007: 143).
4
Transformative Justice
Abolitionistische Feminist:innen fordern neue Formen des Gewaltschutzes außerhalb des
Strafjustizsystems bzw. schlussendlich dessen Abschaffung (vgl. Levine/Meiners 2020: 12;
McGlynn 2022: 1). Praktische Lösungen finden sie in Transformative-Justice-Ansätzen. Diese
wurden primär von Gruppen entwickelt und praktiziert, die sich nicht auf die Polizei verlassen
können oder für die die Polizei sogar gefährlich ist (vgl. Levine/Meiners 2020: 144). Vorstellungen
von Verantwortung, Strafen oder Sicherheit werden neu und außerhalb der Logiken der Strafjustiz
interpretiert. Community Accountability und Transformative Justice stellen dem Strafjustizsystem
dabei eine sorgende Ethik gegenüber (vgl. Brazzell 2015: 3).
Diesen Ansätzen entsprechend sollen Lösungen gegen Gewalt in kleinen, sicheren
Gemeinschaften gefunden werden. Dies unterstreichen auch die Bezeichnungen Community
Accountability oder Community-based Response, die häufig synonym mit der Bezeichnung
TransformativeJusticeverwendetwerden.GemeinschaftenwerdenzumprimärenRaumderPrävention,
Intervention und Transformation, es wird ausprobiert, initiiert und Gewaltschutzmechanismen
werden implementiert. Die Gemeinschaft dient dabei als Alternative zu staatlichen Systemen (vgl.
Kim 2018: 11f.).
Transformative-Justice- und Community-Accountability-Ansätze können nicht als
abgeschlossene Konzepte betrachtet werden. Die Praxen sind in ständiger Entwicklung. Mariam
Kaba unterstreicht, dass die abolitionistische Praxis das Ausprobieren, Fallen, Evaluieren und
erneutes Versuchen impliziert (vgl. Kaba/Hassan 2019: 12). Ganz klar ist dabei, dass die individuelle
Sicherheit von Betroffenen oberste Priorität hat. Menschen, die Gefahren ausgesetzt sind, müssen
unterstützt, ermächtigt und geschützt werden (vgl. Creative Interventions 2022: 47; Generation
FIVE 2007: 40). Wie mit gewalttätigen Personen umzugehen sei, ist wiederum eine zentrale Frage
und ein zentraler Kritikpunkt an Transformative-Justice-Ideen. Gewaltausübende Menschen sollen,
begleitet durch ihren sozialen Nahraum, Verantwortung (accountability) für ihr Verhalten übernehmen.
Nicht die Strafe ist zentral, sondern die Auseinandersetzung mit und langfristige Veränderung des
Verhaltens der gewaltausübenden Person und des Umfeldes. Accountability wird dabei als Prozess
verstanden, der ständig geübt, reflektiert und gepflegt werden muss und nie ganz abgeschlossen
ist (vgl. Kaba/Hassan 2019: 78; Russo 2019: 6).
Das Gesagte impliziert auch, dass Gewalt bei diesen Ansätzen nicht als moralische
Schwäche oder pathologischer Zustand verstanden wird, sondern als sozialisiertes Verhalten, das
verlernt werden kann. Dies findet sich auch in der Sprache wieder. So wird in der Literatur von
„Gewalt ausübenden Personen“ statt von Täter:innen geschrieben, um damit die Veränderbarkeit
des Verhaltens zu unterstreichen (vgl. Brazzell 2015: 30; Creative Interventions 2022: 54). In diesem
KontextwarntLiseGotelldavor, dasseinVerzichtaufstrafrechtlicheMaßnahmenGefahrläuft, Gewalt
wieder ins Private zu drängen und damit Gewalt ausübende Menschen nicht durch den Staat in die
Verantwortung zu nehmen (vgl. Gotell 2015: 54). Doch Accountability meint sowohl die Reflexion
der eigenen Handlungen als auch die strukturelle Verantwortung den Mitmenschen gegenüber (vgl.
Brazzell 2015: 28). Die Übernahme von Verantwortung wird dabei als individuell-subjektiver, aber
auch als kollektiver Prozess verstanden (vgl. Russo 2019: 6). Community-Accountability-Konzepte
fordern also Verantwortung auf einer Verhaltensebene und auf einer systemischen Ebene. Umstritten
bleibt dabei, welche Gewaltformen überhaupt bearbeitbar sind. Die meisten praktischen Vorschläge
richten sich gegen interpersonelle Gewalt. Wie die Verhältnisse praktisch bearbeitet werden, bleibt
oftmals unbeantwortet (vgl. Brazzell 2015: 29ff.).
5
Widersprüche und Grenzen von Transformative Justice
Viele Feminist:innen weisen auf Widersprüche, Grenzen und auch Gefahren von Transformative-
Justice-Ansätzen hin. Zwar teilen sie die intersektionalen Analysen und erkennen den Verlust
gesellschaftspolitischer Perspektiven durch die Hinwendung zu Gewaltschutzmaßnahmen, die eng
mit den Strafjustizbehörden verbunden sind. Doch gilt „Das Private ist politisch“ zugleich als zentrale
Forderung und größte Errungenschaft der Frauenhausbewegung. So warnen Feminist:innen, dass
eine totale Ablehnung des Strafjustizsystems dazu führt, Gewalt wieder ins Private zu verschieben,
wodurch Gewalt Ausübende keine Rechenschaft mehr schuldig sind. Des Weiteren liege der
Ablehnung staatlicher Schutzsysteme ein verkürztes Verständnis von Staat und Recht zugrunde
(vgl. McGlynn 2022: 3; Terwiel 2020: 9; Wegerstad 2022: 3). Denn so etwas wie ein einheitliches
Rechtsverständnis gibt es diesen Argumentationen zufolge nicht: Recht wird diskursiv hergestellt
und verhandelt. Gerade die Kategorie Geschlecht und der rechtliche Umgang damit befinden sich
ständig in Veränderung und Entwicklung. Recht entwickelt sich demnach auch nicht linear, sondern
es wird beeinflusst durch unterschiedliche Interessen, durch Widerstände und Kämpfe. Jeden
Rechtserfolg von Feminist:innen im Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt als Unterordnung
unter den strafenden Staat abzutun, ist demzufolge zu kurz gedacht, denn das Strafgesetz trägt
nicht die alleinige Verantwortung für Dominanzverhältnisse und deren Reproduktion (vgl. McGlynn
2022: 3; Terwiel 2020: 9; Wegerstad 2022: 3). Viele Betroffene wünschen sich Gerechtigkeit durch die
Strafjustiz und auch diesen Wunsch gilt es zu beachten. Kritiker:innen stellen dem entgegen, dass
häufig nur wenige Alternativen aufgezeigt werden und ein anderes Verständnis zur Wiederherstellung
von Gerechtigkeit erst entwickelt werden müsse (vgl. McGlynn 2022: 4).
Auch die Idee der Community wirft Widersprüche auf. Die Begriffe Community Accountability
und Community-based Interventions verraten, dass Gewalt in und durch Gemeinschaften bearbeitet
wird. Wer nun allerdings eine Gemeinschaft ist, ist umstritten. Angela Davis warnt diesbezüglich
davor, die Communities zu romantisieren. So schreibt sie, dass der Fokus auf Gemeinschaft
manchmal fast mystisch ist. Die Gemeinschaft, so Davis, muss vieles gleichzeitig sein: eine
radikale Vision, eine flüchtige, schwer greifbare Möglichkeit und ein aktiver Kampf (vgl. Davis et
al. 2022). Damit hängt auch der Einwand zusammen, dass Gemeinschaften, Freund:innen oder
Familie häufig das Wissen über komplexe Gewaltdynamiken fehlt. Somit mangelt es auch an der
Fähigkeit, Missbrauch als solchen zu erkennen, zu benennen und zu bearbeiten. In konservativen
und patriarchalen Gemeinschaften ist schädliches Verhalten zudem tief in den gemeinschaftlichen
Kulturen und Normen verankert. Bei geschlechtsspezifischer Gewalt kommt es regelmäßig zu Täter-
Opfer-Umkehrungen oder dazu, dass patriarchale kommunale Strukturen die Männer schützen (vgl.
Gupta Rahila 2020).
Auf Gemeinschaften ist also nicht per se schon Verlass, denn kommunale Unterstützung darf
nicht einfach vorausgesetzt werden. Gemeinschaftliche Unterstützungsnetzwerke müssen von den
Beteiligten aktiv aufgebaut und getragen werden (vgl. Russo 2019: 120). Ein zentrales Element von
Transformative Justice ist entsprechend, ein kritisches Bewusstsein gegenüber Gewaltdynamiken
und den dahinterliegenden Verhältnissen zu etablieren. Machtstrukturen, die Gewalt fördern,
müssen dekonstruiert, herausgefordert und reflektiert werden (vgl. Russo 2019: 183).
Mia Mingus arbeitet für das Bay Area Justice Collective und berichtet aus ihrer Praxis, dass
der Begriff Community nicht wirklich passend ist. Wenn Menschen aufgefordert werden, sich an
ihre Community zu wenden, wissen viele nicht, wen oder was sie konkret ansprechen sollen. Um
sichere Netze sichtbar zu machen und aufzubauen, haben die Aktivist:innen den Begriff Community
verworfen. Sie verwenden den Begriff Pod als Bezeichnung für ein konkretes und enges soziales
Netzwerk. So können Menschen im sozialen Nahraum bestimmt werden, die in Zeiten von Krisen
oder erfahrener Gewalt gerufen werden können, um sodann gemeinschaftlich zu intervenieren (vgl.
Mingus 2017: 118f.).
6
Konsequenzen für die Soziale Arbeit und methodische Chancen
Die Black-Lives-Matter-Proteste haben ein Schlaglicht auf die Soziale Arbeit geworfen. Durch sie
wurden abolitionistische feministische Ideen in den USA wieder diskursfähig: Aktiv wurde und
wird nach Alternativen zur Polizei gesucht. Dabei wird auch der Sozialen Arbeit eine zentrale Rolle
zugeschrieben. Vielfach wurde die Forderung laut, dass diese ausgebaut und die Polizei dafür
abgebaut wird. Ob Soziale Arbeit tatsächlich eine Alternative zur Polizei ist, ist jedoch fraglich.
Jacobs und Kolleg:innen heben in ihrem Positionspapier hervor, das die Praktiken der Sozialen
Arbeit in den USA immer eng mit der Polizei verbunden waren. Das kann auch gegenwärtig
dazu beitragen, white supremacy und kapitalistische Ungleichheit zu verfestigen (vgl. Jacobs et
al. 2020: 3f.). Entsprechend nehmen Thompson und Loick in ihrer abolitionistischen Kritik nicht
nur die Institution Polizei, sondern auch das Fürsorge-Regime in den Blick. Sie weisen auf die
Verstrickungen sozialarbeiterischer Praktiken mit den Praxen der Unterdrückung durch Polizei und
Psychiatrien hin (vgl. Loick/Thompson 2022: 30).
Das Aufgreifen abolitionistischer feministischer Ideen in der Sozialen Arbeit zog eine Reihe
von Positionspapieren nach sich. So fordert eine Gruppe von US-Professor:innen der Sozialen
Arbeit eine anti-carcerale Ausrichtung der Profession. Die Soziale Arbeit soll ihre Zusammenarbeit
mit Strafjustizbehörden kritisch hinterfragen, sie in Folge eindämmen und sich in Lehre und
Forschung intensiv mit ihrer Rolle im Strafjustizsystem beschäftigen (vgl. Jacobs et al. 2020).
Auch Murray et al. verweisen auf die Widersprüchlichkeit zwischen Professionsethik und gelebter
Praxis. Eine abolitionistische Linse kann den Autor:innen zufolge helfen, die Praxis dem ethischen
Professionsanspruch anzugleichen. Schwierigkeiten erkennen sie jedoch in einem konsequent
zu Ende gedachten Abolitionismus, der eine totale Ablehnung und sofortige Einstellung der
ZusammenarbeitmitStrafjustizBehördenfordert(vgl.Murray/Copeland/Dettlaff2023).Feldmangeht
hier sogar noch einen Schritt weiter und fordert eine disruptive Soziale Arbeit. In abolitionistischer
Tradition soll sich eine disruptive Soziale Arbeit aktiv gegen repressive Systeme stellen. Da die
Soziale Arbeit häufig Teil solcher Systeme ist, hat sie die einzigartige Möglichkeit, diese durch
widerständige Praxen von innen zu zersetzen. Gleichzeitig sollen Adressat:innen befähigt werden,
Widerstandspraxen zu entwickeln (vgl. Feldman 2022).
Ein Paradebeispiel für die Verstrickung von Sozialer Arbeit und Polizei ist der Gewaltschutz.
Eng vernetzte Interventionsketten, wie beispielsweise die Meldung von häuslicher Gewalt von
den Behörden an die Gewaltschutzzentren, werden als internationales Best-Practice-Modell des
Gewaltschutzes beschrieben (vgl. Logar 2014: 353f.). Auch die deutsche Interventionsstelle sieht
in der Polizei ihren wichtigsten Kooperationspartner. Insgesamt ist bei häuslicher Gewalt eine
Verschiebung hin zum Ausbau von polizeilicher Bearbeitung bemerkbar (vgl. Pütter 2021: 159).
Transformative-Justice-Konzepte beschäftigen sich primär mit aktivistischen Praxen, die erst
langsam ihren Einzug in die Soziale Arbeit finden. Konkrete Beispiele einer Sozialen Arbeit, die
sich an den Konzepten und Methoden der Transformative Justice und Accountability Community
orientieren, können dabei die Frage der Anwendbarkeit für die Gewaltschutzarbeit beantworten.
Das Bay Area Justice Collective, aber auch Creative Interventions bieten konkrete
methodische Lösungsvorschläge, wie sozialräumliche Schutznetzwerke aufgebaut werden können.
Diese ermöglichen es, Gewalt gemeinschaftlich und nachhaltig zu bearbeiten. Dabei kommt den
Betroffenen die zentrale Rolle zu: sie entscheiden, wer wann und wie mit ihnen arbeitet. Der
Wechsel von individualisierten Services hin zu gemeinschaftlichen sorgenden Netzwerken hat den
Vorteil, dass die Bedürfnisse der Betroffenen besser in den Blick genommen werden können, dass
die Last der Gewalt gemeinsam getragen wird und dass die Auswirkungen der Gewalt auf alle
wahrgenommen werden (vgl. Russo 2019: 115). Erfahrungen jahrelanger praktischer Anwendung
wanderten sodann in das Creative Interventions Toolkit. Dieses Toolkit umfasst eine immense
Sammlung von Vorschlägen und Methoden für die gemeinschaftliche und moderierte Bearbeitung
von Gewalt. Auf nicht ganz 600 Seiten finden sich Erklärungen zu Gewaltdynamiken, Reflexionen zur
eigenen Rolle, konkrete Vorschläge zur gemeinschaftlichen Bearbeitung von Gewalt, Überlegungen,
wie Betroffenen Sicherheit gegeben werden kann, aber auch, wie Verantwortungsübernahme bei
Gewalt ausübenden Personen hergestellt werden soll. Dazu gibt es Checklisten, Anregungen zur
Dokumentation und vieles mehr (vgl. Creative Interventions 2019). 2022 erschien die erste Beta
Version des Creative Interventions Workbook (2022) eine gekürzte und zusammengefasste Form
des Creative Interventions Toolkits.
Zur konkreten Ausgestaltung und Implementierung von Transformative Justice und
Community Accountability in Gewaltschutzeinrichtungen liefert die Implementation Study of
Community-Based and Social Network Intervention to Gender-Based-Violence von Mimi Kim
Vorschläge. Kim entwickelte ein Untersuchungsmodell, mit dem sich Community-Accountability-
Ansätze von konventionellen Methoden des Gewaltschutzes kategorisch abgrenzen lassen (vgl. Kim
2021: 229). Die entwickelten Unterscheidungskategorien von Kim liefern eine konkrete analytische
Linse zur Untersuchung von Gewaltschutzeinrichtungen. Campbell untersucht anhand von
Fokusgruppeninterviews Implementierungsmöglichkeiten von Transformative-Justice-Methoden
für die Arbeit mit Gewalt ausübenden Personen in North Carolina. Auch wenn die Teilnehmenden
Vorbehalte formulierten und auf organisatorische Grenzen verwiesen, erkannten sie auch die
Möglichkeiten der kommunalen Anti-Gewalt-Arbeit (vgl. Campbell et al. 2023).
Die Arbeiten von Creative Interventions und anderen liefern somit einen Schatz an
methodischen und praktischen Vorschlägen (vgl. Generation FIVE 2007; Kaba/Hassan 2019; Nia
2020; Zionov/Valgre 2021), wie sich Anti-Gewalt-Arbeit konkret ausgestalten lässt. Hier kann die
Soziale Arbeit eine übersetzende Rolle einnehmen und die methodischen Vorschläge auf den Wiener
Gewaltschutz übertragen, um Gewaltschutzeinrichtungen bei der Implementierung zu unterstützen
und das Gelernte zu evaluieren.
7
Resümee
Es konnte dargelegt werden, warum eine intersektionale und abolitionistische Perspektive sinnvoll
für den Gewaltschutz ist. Die vorgestellten Konzepte laden nicht nur zur Reflexion der eigenen
Position ein, sie zeigen auch konkrete Möglichkeiten auf, wie Gewalt nachhaltig und gesellschaftlich
transformativbearbeitetwerdenkann. DerSozialenArbeitkanneineRollealsVermittlerinzukommen,
um gemeinsam mit den Betroffenen Gewalt zu bearbeiten. Die Grundlage für eine abolitionistisch-
feministische Neuausrichtung des Gewaltschutzes ist dabei die Auseinandersetzung mit dem
Strafjustizsystem und der Polizei. Soziale Arbeit kann hier sowohl in der Lehre als auch in der Praxis
eine tragende Rolle übernehmen. Durch kritische Forschung und praktisches Ausprobieren können
neue Formen der Anti-Gewalt-Arbeit entwickelt werden. Aus einer intersektionalen Perspektive
muss dabei darauf geachtet werden, dass die von Gewalt am meisten betroffenen Menschen und
Gruppen in die Entwicklung von Theorie und Praxis eingebunden werden.
Die erarbeiteten Tools von Creative Interventions und anderen liefern methodische und
praktische Vorschläge, wie sich abolitionistische Anti-Gewalt-Arbeit praktisch umsetzen lässt.
Diese Vorschläge können von der Sozialen Arbeit auf den Wiener Gewaltschutz übertragen werden,
um Gewaltschutzeinrichtungen bei der Implementierung zu unterstützen und das Gelernte zu
evaluieren. Eine Weiterentwicklung der sozialarbeiterischen Praxis weg von nur serviceorientiertem
Case Management hin zu Transformative-Justice-Konzepten bietet die einzigartige Möglichkeit,
Gewaltschutz in Einklang mit der Professionsethik zu bringen. Denn das Befähigen von
Gemeinschaften, insbesondere marginalisierten Gruppen gehört traditionell zu den Kernaufgaben
der Profession. Community-Accountability- und Transformative-Justice-Konzepte sind hochaktuell
und noch kaum beforscht. Von Einrichtungen wie dem Bay Area Justice Kollektive oder API Chaya
kann hier viel gelernt werden. Mithilfe von Aktions-Forschungsmethoden könnte herausgefunden
werden, was Wiener Gemeinschaften konkret Sicherheit schafft. Spannend wäre auch eine
Diskursanalyse zur Verbindung von Strafrecht und Feminismus im österreichischen Gewaltschutz
und deren Auswirkung auf die Gesetzgebung und die professionelle Landschaft.
Die Gefahr des Zurückdrängens von Gewalt ins Private und einer Umkehr der historischen
Erfolge des Gewaltschutzes ist real. Aber auch die Vereinnahmung durch konservative und
polizeiliche Sicherheitsdiskurse ist ein Risiko. Es darf der Blick auf diejenigen Betroffenen nicht
versperrt sein, die aufgrund von staatlichen Systemen sowieso ins Private gedrängt sind. Das
Konzept der Community Accountability bietet hier Handlungsorientierungen, um den Gewaltschutz
konstruktiv auszubauen und gesellschaftliche Transformationsprozesse zu beleben. So kann
das Handwerkszeug des Gewaltschutzes erweitert und Betroffenen von Gewalt, besonders aus
marginalisierten Gruppen, Handlungsmacht zurückgegeben werden.
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Über den Autor
Peter Peinhaupt, BA MA (er/ihm)
Ich bin Sozialarbeiter und Sozialwissenschaftler. Seit Jahren arbeite ich im Feld, früher in der Offenen
Kinder- und Jugendarbeit, jetzt im Gewaltschutz. Ich arbeite sowohl mit Gewalt-Ausübenden als
auch mit Gewaltbetroffenen als Sozialarbeiter und Psychosozialer Prozessbegleiter. Aktuell forsche
ich im Rahmen meiner Dissertation zu abolitions-feministischen Perspektiven für den Gewaltschutz
in Wien. Ich freue mich über jegliches Feedback und bin unter meiner E-Mail-Adresse erreichbar.