Maria Anastasiadis & Lisa-Maria Lembacher. Soziale Innovation in Zeiten von Krisen. Ergebnisse
einer explorativen Studie steirischer arbeitsmarktintegrativer Unternehmen im Kontext der Covid-
19-Pandemie. soziales_kapital, Bd. 28 (2024). Rubrik: Sozialarbeitswissenschaſt. Printversion: http://
28. Ausgabe 2024
Soziale Arbeit, Staat und Zivilgesellschaft
Soziale Innovation in Zeiten von Krisen
Ergebnisse einer explorativen Studie
steirischer arbeitsmarktintegrativer Unternehmen
im Kontext der Covid-19-Pandemie
Maria Anastasiadis & Lisa-Maria Lembacher
Zusammenfassung
Arbeitsmarktintegrative
Unternehmen
bilden
eine
zentrale
Säule
österreichischer
arbeitsmarktpolitischer Unterstützungsstrukturen. Sie sind insbesondere in Krisenzeiten gefordert,
raschundflexibelaufsichveränderndeProblemlagenihrerAdressat:innenzureagieren,ihreAngebote
und Methoden weiterzuentwickeln und adäquate politische Rahmungen einzufordern. Krisen wirken
demnach herausfordernd, können aber auch Chancen für Innovationen eröffnen. In diesem Beitrag
werden die Ergebnisse einer mehrstufigen explorativen Studie mit multiperspektivischer Ausrichtung
vorgestellt und davon ausgehend die mit der Covid-19-Krise einhergehenden Herausforderungen
bestimmt sowie Möglichkeiten für Innovationen ausgelotet und reflektiert.
Schlagworte: Soziale Innovation, Krisen, arbeitsmarktintegrative Unternehmen, Covid-19-bedingte
Herausforderungen und Chancen, Delphi-Technik
Abstract
Work integration social enterprises (WISEs) are a central pillar of Austrian labor market policy support
structures. In particular during periods of crisis, they are expected to react promptly and flexibly to
the changing needs of their clientele, enhance the quality and scope of their services and methods,
and advocate for the implementation of appropriate political frameworks. This illustrates that crises
can be challenging, yet they can also open up opportunities for innovation. This paper is based on
a multilevel explorative study with a multi-perspective approach. The objective was to determine
the challenges associated with the Covid-19 crisis and to explore and reflect on opportunities for
innovation.
Keywords: work integration social enterprises, crisis, social innovation, delphi technique, covid-19
related challenges and potentials for innovation
1
Einleitung
Angesichts der bestehenden, aber mittlerweile normalisierten Covid-19-Pandemie oder auch der
Kriege in der Ukraine sowie in Gaza mit ihren globalpolitischen Folgen ist die Krisenthematik zu
einemgesellschaftlichenDauerdiskursavanciert. Krisenhabennichtnurweitreichendeökonomische
Konsequenzen, sondern wirken auf Alltagsroutinen und den sozialen Zusammenhalt insgesamt.
Eine Veränderungskrise wie jene der Covid-19-Pandemie bringt zahlreiche Herausforderungen
mit sich, deren Bearbeitung allerdings auch Chancen bietet (vgl. Brinks/Ibert 2020: 252–253). So
wurden z.B. Organisationen im Hilfs- und Care-Segment vor neue Anforderungen gestellt. In einer
österreichischen Studie gaben zwei Drittel von 99 befragten Organisationen an, stark von der Krise
betroffen zu sein (vgl. BMSGPK 2021: 102). Sie sind in organisatorischer, finanzieller, personeller
und dienstleistungsbezogener Hinsicht gefordert sowie mit sich zuspitzenden Problemlagen der
Adressat*innen konfrontiert, denn mit der Pandemie haben sich auch die Exklusionsdynamiken
verschärft. So weist beispielsweise der Anstieg der langzeitbeschäftigungslosen Personen im
Jahr 2020 darauf hin, dass die Pandemie dazu beitrug, eine immer größere Zahl von Menschen
dauerhaft aus dem Erwerbsleben auszuschließen (vgl. arbeit plus 2022: 21). Es ist der Auftrag
der Sozialen Arbeit, auf gesellschaftliche Bedarfe zu reagieren und Soziale Innovationen zur
Bearbeitung neuartiger bzw. sich verschärfender Problemlagen mit zu initiieren. Insbesondere in
Krisenzeiten muss die Soziale Arbeit ihre Angebote und Methoden weiterentwickeln und von der
Politik Reformen einfordern (vgl. Anastasiadis 2022: 18–19).
Im folgenden Beitrag werden diese Dynamiken am Ausschnitt von steirischen Sozialen
Unternehmen, die im Kontext der Arbeitsmarktpolitik agieren, nachgezeichnet. Auf Basis von
Forschungsarbeiten, die im Zeitraum Oktober 2020 bis Februar 2024 an der Universität Graz
durchgeführt wurden, wird der Frage nachgegangen, welche Herausforderungen sich für die
Unternehmen,ihreAdressat*innenundfürdieArbeitsmarktpolitikimKontextderCovid-19-Pandemie
stellen. Zudem werden Innovationsmöglichkeiten eruiert und hinsichtlich ihrer Zukunftspotenziale
reflektiert. Der Ausgangspunkt des Beitrags ist eine theoretische Erschließung des Krisenbegriffes
sowie die Systematisierung der darin impliziten Innovationspotenziale, die an Beispielen im
Kontext der Covid-19-Pandemie exemplifiziert werden (Kapitel 2). Daran anschließend werden
arbeitsmarktintegrative Unternehmen charakterisiert und die im Handlungsfeld eingelagerten
Spannungszonen und Möglichkeitsräume dargelegt (Kapitel 3). Im Kapitel 4 des Beitrages wird
das Forschungsdesign vorgestellt, bevor im Kapitel 5 zentrale Ergebnisse zu krisenbedingten
Veränderungen und Innovationspotenzialen präsentiert werden. Eine Ergebnisdiskussion rundet
den Beitrag ab (Kapitel 6).
2
Krise und Soziale Innovation
Krisendiskurse sind eng mit Diskursen zur Sozialen Innovation verbunden. Zu beiden liegt eine
Vielzahl an nationalen und internationalen Publikationen aus unterschiedlichen Disziplinen vor wie
z.B. den Geistes-, Sozial-, Wirtschafts- und Politikwissenschaften. Es würde den Rahmen des
Beitrages sprengen, die Vielzahl der Perspektivierungen zu durchleuchten. Daher wird hier eine auf
Grundlagentexte reduzierte Selektion getroffen, um die Begriffe und den Konnex zwischen Krise
und Sozialer Innovation zu klären.
2.1 Krise
Als Krisen werden allgemein herausfordernde und bedrohliche Situationen verstanden, die
Ängste und Unsicherheiten schüren und in denen die betroffenen Akteur:innen unmittelbar zu
Entscheidungen und zum Handeln gezwungen sind, um Lösungen abseits routinierter Pfade zu
entwickeln (vgl. Brinks/Ibert 2020: 250). Diese Definition verbindet drei zentrale Aspekte: a) sich in
KrisenmanifestierenderealeProbleme,b)derenWahrnehmungundVerbreitungsowiec)dasHandeln
und damit verbundene Veränderungen (vgl. Bösch/Deitelhoff/Kroll/Thiel 2020: 5). Demnach ist der
Krisenbegriff kein statischer, sondern ein dynamischer (vgl. Graf 2020: 18). Insofern sind Krisen als
Prozesse zu denken, die in Phasen verlaufen (vgl. Brinks/Ibert 2020: 4). In der Krisenforschung wird
in der Regel zwischen drei Phasen differenziert: a) Ruhigere Prä-Krisenzeiten, die zur Vorbereitung
auf mögliche dramatische Ereignisse dienen; b) die akute Krisensituation, in der die Probleme
real werden, die Krisendiagnose erfolgt und ein rasches Reagieren gefordert ist; c) die Phase der
Post-Krise, in der das Lernen aus der Krise und das Reflektieren im Vordergrund steht (vgl. z.B.
Fischbacher-Smith/Eliott 2007; Bundy/Pfarrer/Short/Coombs 2017).
Mit Blick auf die akute Phase werden von Bösch et al. (2020: 26) Gefahren und Chancen
thematisiert. Akute Krisenphasen erzwingen rasche Entscheidungen, das Aussetzen von Routinen
und Einsetzen von oft unpopulären gefahreneindämmenden Maßnahmen (z.B. Covid-19-bedingte
Lockdowns oder das Insistieren auf die Impfpflicht). Ein zeitaufwändiges Abwägen und Entscheiden,
wie es für Demokratien konstitutiv ist, ist in Akutsituationen nur bedingt zu realisieren und deshalb
mit Gefahren der De-Politisierung verbunden. Demgegenüber können Krisendiagnosen aber auch
Gestaltungsmöglichkeiten eröffnen. Bösch et al. (2020: 7) verweisen dazu auf die Etymologie des
Begriffs, mit dem im antiken Griechenland (krisis) „Entscheidungen“ oder eine „entscheidende
Wende“ bezeichnet wurden. Damit wird die Handlungsfähigkeit der Akteur:innen betont sowie die
Möglichkeit, das Schlimmste abzuwenden und eine Veränderung zum Besseren zu erwirken. Brinks
undIbert(2020:252)konstatieren,dassKrisensituationen„Gelegenheitsfenster“oder„experimentelle
Freiheiten“ für Handlungen eröffnen, die unter regulären Bedingungen nicht möglich wären, wie
es z.B. zu Beginn der Covid-19-Pandemie am gestiegenen zivilgesellschaftlichen Engagement
und anhand von Solidaritätsinitiativen beobachtbar war. Insofern können Krisen die Entwicklung
Sozialer Innovationen begünstigen und gesellschaftliche Wandlungsprozesse einleiten, die sich in
Post-Krisenphasen zu institutionalisieren vermögen.
2.2 Soziale Innovation
Der Begriff Soziale Innovation bezieht sich allgemein auf am Gemeinwohl orientierte Erneuerungen
(vgl. Anastasiadis 2022: 8). Eine Definition, die sowohl die zielorientierte Perspektive auf Soziale
Innovation als auch die prozessorientierte Sicht integriert, legt Mulgan (2012: 35) vor. Diese liegt
auch jener der Europäischen Kommission zugrunde, wonach Soziale Innovation
„eine Tätigkeit [ist], die sowohl in Bezug auf ihre Zielsetzungen als auch ihre Mittel
sozial ist, insbesondere eine Tätigkeit, die sich auf die Entwicklung und Umsetzung
neuer Ideen für Produkte, Dienstleistungen, Verfahren und Modelle bezieht, die
gleichzeitig einen sozialen Bedarf deckt und neue soziale Beziehungen oder
Kooperationen zwischen öffentlichen Organisationen, Organisationen der
Zivilgesellschaft oder privaten Organisationen schafft und dadurch der Gesellschaft
nützt und deren Handlungspotenzial eine neue Dynamik verleiht.“ (Europäische
Kommission 2021: Artikel 2)
Dieser Begriffsbestimmung gemäß kennzeichnet sich Soziale Innovation durch die Merkmale
Zielgerichtetheit, Prozesshaftigkeit und Wirkungen (vgl. Anastasiadis 2022: 11). Hinsichtlich des
Ziels gilt es, neue Wege zur Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen zu entwickeln.
Insofern sind Soziale Innovationen Elemente des sozialen Wandels (vgl. Howaldt/Schwarz 2010:
63). Prozessual steht die Wahrnehmung gesellschaftlicher Probleme am Beginn, worauf ein
bedürfnis- und lösungsorientiertes Handeln folgt, an dem unterschiedliche Akteur:innen beteiligt
sind. Dadurch können neue Formen sozialer Beziehungen entstehen wie beispielsweise Netzwerke
oder Kooperationen. Vor diesen Hintergründen ist auch Partizipation ein wesentliches Element
Sozialer Innovation (vgl. Anastasiadis 2022: 11). Der Prozess selbst impliziert die Entwicklung neuer
sozialer Ideen (wie z.B. nachhaltiger Konsum) sowie deren Verbreitung (vgl. Howaldt/Schwarz 2010:
64). Zentral ist, dass die Veränderungen angenommen und genutzt werden. Nur dann können sie
als Soziale Innovation bezeichnet werden (vgl. ebd.: 66). Die Bewertungsmaßstäbe ihrer Wirkung
variieren je nach Interessenslage und es können damit auch unbeabsichtigte Nebenwirkungen
verbunden sein (vgl. ebd.: 64). So kann beispielsweise eine sozialpolitische Entwicklung nachteilig
auf ökonomische Belange wirken. Insofern sind Soziale Innovationen nicht per se gut oder
wünschenswert für alle.
2.3 Verbindungslinien
Es sind gerade diese angesprochenen Widerstände gegenüber Neuerungen, die sich in
Krisenperzeptionen finden. Krisen vermögen, gesellschaftliche Erwartungshaltungen zu ändern.
Sie prägen Erfahrungen. Es entsteht etwas Neues, das dennoch vor der Matrix einer idealisierten
Vergangenheit bewertet wird, deren Normalität wieder erreicht werden soll (vgl. Bösch et al. 2020:
12).
Auch die Covid-19-Pandemie brachte Veränderungen mit sich und Innovationen hervor.
Es waren und sind insbesondere Soziale Organisationen, die trotz finanzieller und personeller
Herausforderungen unmittelbar mit einer Ausweitung und Spezifizierung ihrer Angebote auf
verstärkte Betroffenheiten ihrer Zielgruppen reagierten (vgl. BMSGPK 2021: 92). In einer Studie zu
den Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf die soziale Infrastruktur Österreichs wurden von
Organisationsvertreter:inneni Innovationspotenziale identifiziert. Positive Entwicklungen wurden u.a.
in der Digitalisierung ausgemacht, in einer kritischen Reflexion der Dienstleistungserbringung und
Verwaltungsabläufe, in der Stärkung des Teamzusammenhalts, in einer gestiegenen Wertschätzung
durch das Umfeld sowie in der Umsetzung neuer Initiativen und Krisenkoordinierungen (vgl. ebd.:
117). Als innovationshemmend wurden z.B. starre Förder- und Finanzierungsrichtlinien öffentlicher
Auftraggeber:innen benannt, die zu erhöhten Planungsunsicherheiten führten (vgl. ebd.: 94).
Anhand dieser Befunde wird deutlich, dass gerade in Krisenzeiten etablierte Routinen, Denk-
und Verhaltensweisen reflektiert und modifiziert werden, dass diese aber auch – v.a. in zentral
steuernden Institutionen – ein hohes Beharrungsvermögen besitzen. Diese Entwicklungen werden
im Folgenden mit Blick auf Soziale Unternehmen, die im arbeitsmarktpolitischen Kontext agieren,
genauer beleuchtet.
3
Forschungsfeld: Arbeitsmarktintegrative Unternehmen
Arbeitsmarktintegrative Unternehmen sind in Österreich ähnlich wie in anderen Ländern Europas in
den1980erJahrenentstanden. SieentwickeltensichinengerKooperationmitderArbeitsmarktpolitik
und hatten zum Ziel, auf neue arbeitsmarktspezifische Problemlagen zu reagieren. Seither
bilden sie neben der Beratung und Qualifizierung eine zentrale Säule arbeitsmarktpolitischer
Unterstützungsinstrumente (vgl. Anastasiadis 2019: 286). International werden diese Unternehmen
als „work integration social enterprises“ (WISEs) bezeichnet und wie folgt definiert: „Precisely, the
main objective of WISEs is to help low-qualified unemployed people, who are at risk of permanent
exclusion from labour market. WISEs integrate these people into work and society through a
productive activity“ (Defourny/Nyssens 2008: 207–208).
Als Social Enterprises zählen WISEs zur Social Economy – ein Organisationsfeld, das sich
durch spezifische soziale, ökonomische und partizipative Handlungsweisen auszeichnet, wodurch
es sich vom marktwirtschaftlichen Sektor unterscheidet (vgl. Europäische Kommission 2021: 5).
Gemäß des Social Economy Action Plan der EU (2021) verfolgen diese Unternehmen primär soziale
ZieleundweiseneineexpliziteGemeinwohlorientierungauf.ImFallevonWISEsistdiesdieIntegration
in den Arbeitsmarkt. Das kombinieren sie mit ökonomischen Strategien, indem sie kontinuierlich
wirtschaftliche Tätigkeiten ausüben (z.B. Verkauf von Produkten und Dienstleistungen). Zusätzlich
finanzieren sie sich über Aufträge aus dem öffentlichen und privaten Sektor, Mitgliedsbeiträge,
Spenden sowie Sponsoring, womit sie einen für die Social Economy typischen Finanzierungsmix
aufweisen. Zentral dabei ist, dass die erzielten Gewinne in das Unternehmen und das soziale
Ziel zurückfließen. Ein weiteres Kennzeichen ist ihre demokratische Unternehmenskultur, die ein
bedarfsorientiertes Agieren gewährleistet, indem Arbeitnehmer:innen, Kund:innen, Mitglieder
etc. eingebunden werden. Dafür können diverse Rechtsformen gewählt werden, die eine solche
Unternehmenskultur begünstigen (z.B. Vereine, Genossenschaften).
Studien zufolge zeichnen sich arbeitsmarktintegrative Unternehmen in Österreich ebenso
durch diese drei Spezifika aus (vgl. z.B. Anastasiadis 2019). Sie bieten zum Teil aus öffentlichen
Mitteln geförderte befristete Beschäftigungsverhältnisse am sogenannten zweiten Arbeitsmarkt an
und unterstützen durch soziale Begleitung sowie fachliche Anleitung arbeitsmarktferne Personen
bei der Integration in den Arbeitsmarkt (vgl. ebd.: 288). Mit der öffentlichen Finanzierung, die zum
Großteil über das Arbeitsmarktservice (AMS) erfolgt, sind spezifische Auflagen verbunden. Daraus
resultiert die dem Handlungsfeld inhärente Spannung zwischen a) individueller bedarfsorientierter
Betreuung der Adressat:innen und b) arbeitsmarktpolitischen Vorgaben, welche die Vermittlung
sowie die kontinuierliche Erhöhung der Eigenerwirtschaftung betreffen (vgl. ebd.: 609). Diese
Spannung hat sich durch die Covid-19-Pandemie neu aufgeladen. Gemäß der Mitgliederbefragung
des österreichischen Netzwerks arbeit plus (2022: 22–23) blieben die Förderverträge mit dem AMS
weitgehend aufrecht – dies jedoch bei gleichzeitigem Anstieg des Betreuungsbedarfs. Zudem
stagnierten aufgrund einiger Betriebsschließungen Erlöse aus der wirtschaftlichen Tätigkeit.
Diese Ergebnisse signalisieren, dass Zeiten mit erhöhten gesellschaftlichen Bedürfnissen für
diese Organisationen besonders anspruchsvoll sind. Welche krisenbedingten Herausforderungen
sich konkret stellen und welche Möglichkeiten zur Innovation daraus resultieren, war Gegenstand
einer mehrstufigen Studie, in die nun Einblick gegeben wird.
4
Forschungsdesign
Für die Forschung wurde ein qualitatives und multiperspektivisches Design entwickelt, für das
die Delphi-Technik adaptiert wurde. Dieser Forschungszugang setzt sachverhaltspezifisches
Expert:innenwissen ins Zentrum, um einerseits den Status quo zu eruieren, andererseits Ideen für
zukünftige Entwicklungen zu generieren und hinsichtlich ihrer Relevanz zu bewerten (vgl. Häder
2014: 21). Ziel der Forschung war es, gemeinsam mit Expert:innen aus dem Forschungsfeld
Veränderungen, die im Kontext der Covid-19-Pandemie wahrgenommen wurden, zu ermitteln und
damit verbundene Innovationsmöglichkeiten zu bestimmen. Diese galt es anschließend vor dem
Hintergrund einer sich stabilisierenden Arbeitsmarktsituation in der Post-Krisen-Zeit hinsichtlich
ihrer Zukunftspotenziale zu reflektieren. Konkret gliederte sich der Forschungsprozess in drei
Phasen (siehe Tabelle 1).
In der ersten explorativen Phase erging ein Fragebogen mit offenen Fragen an die 40
Mitgliedsbetriebe des Netzwerkes arbeit plus Steiermark, mit dem Daten zu folgenden Kategorien
erhoben wurden: a) wahrgenommene krisenbedingte gesellschaftliche Wandlungsprozesse, b)
Herausforderungen, die sich für die Betriebe, für die Adressat:innen und für die Arbeitsmarktpolitik
stellen sowie c) damit verbundene Chancen bzw. Innovationsmöglichkeiten. Der Fragebogen wurde
im Zeitraum April 2021 bis Mai 2021 von 36 Personen beantwortet, die als Arbeitsanleiter:innen,
Sozialpädagog:innen und in der Geschäftsführung tätig waren.
In der zweiten Vertiefungsphase wurden die so gewonnenen Ergebnisse mit sechs
Expert:innen diskutiert und erweitert. Konkret wurden im Zeitraum November 2021 bis Jänner 2022
leitfadengestützteInterviewsmitVertreter:innenderUnternehmen,derregionalenArbeitsmarktpolitik,
des Netzwerkes arbeit plus Steiermark sowie mit arbeitssuchenden Personen geführt. Der Leitfaden
orientierte sich an denselben Kategorien wie der Fragebogen. Als Diskussionsimpuls fungierte eine
Kurzpräsentation der Ergebnisse aus der ersten Phase.
In der dritten Phase wurden die Erkenntnisse in einer Follow-up-Befragung in der Post-
Covid-Zeit aktualisiert und reflektiert. Dazu wurden im Zeitraum November 2023 bis Februar 2024
die 40 Mitgliedsbetriebe des Netzwerkes arbeit plus Steiermark erneut mit einem erweiterten
Fragebogen kontaktiert. Dieser fokussierte zusätzlich zu den wahrgenommenen Veränderungen
im Zuge der Krisenphase auf Herausforderungen und Chancen, die sich für die Adressat:innen,
die Unternehmen und die Arbeitsmarktpolitik in der Post-Covid-Zeit stellen. Ergänzend wurde
um Einschätzungen zu den Institutionalisierungs-Potenzialen der in den beiden ersten Phasen
generierten Innovationsmöglichkeiten gebeten und Raum für die Artikulation von notwendigen
bzw. wünschenswerten zukünftigen Entwicklungen gegeben. Der Fragebogen wurde von 35
Mitarbeiter:innen beantwortet, wobei sich 18 als vollständig ausgefüllt erwiesen und für die
Auswertung herangezogen wurden.
Tabelle 1: Forschungsdesign
Die Daten der beiden ersten Phasen wurden im Zuge eines Masterarbeitsprojektes generiert (vgl.
Lembacher 2022). Sie wurden inhaltsanalytisch ausgewertet und für diesen Beitrag komparativ
re-interpretiert, indem die unterschiedlichen Perspektiven der Befragten verschränkt diskutiert
werden. Die Daten der dritten Phase wurden ebenso inhaltsanalytisch ausgewertet und entlang des
erweiterten Kategorienschemas interpretiert.
Insgesamt zeigte sich in der Analyse, dass durch die Multiperspektivität der Forschung
unterschiedliche Sichtweisen eingeholt werden konnten, wobei die Vertreter:innen der Unternehmen
ihre Standpunkte und zugleich, im Sinne der Parteilichkeit, die Interessen von Adressat:innen
vertreten. Diese doppelte Perspektive wurde insbesondere in Zusammenhang mit den
krisenbedingten Herausforderungen und mit der Notwendigkeit einer erweiterten Angebotsstruktur
evident.
5
Forschungsergebnisse
Im Folgenden werden ausgewählte Ergebnisse zu den krisenbedingten Herausforderungen sowie
zu Chancen bzw. Innovationspotenzialen vor der Matrix der unterschiedlichen Perspektivierung der
Befragten aus den drei Forschungsphasen präsentiert.ii
5.1 Krisenbedingte Herausforderungen…
Die in der Forschung identifizierten Herausforderungen betreffen einerseits die Adressat:innen,
andererseits die Unternehmen sowie deren Zusammenarbeit mit der Arbeitsmarktpolitik.
…für Adressat:innen
Aus Sicht der Unternehmensvertreter:innen, die in Phase 1 befragt wurden, war in der akuten
Krisenphase 2020/2021 die Perspektivenlosigkeit am Arbeitsmarkt besonders herausfordernd für
ihreAdressat:innen,wiefolgendeAussageverdeutlicht:„EinerdererstenSätzederArbeitssuchenden
ist oft: ‚Es besteht kaum eine Chance, Arbeit zu finden, wegen Corona...‘“ (P30: 3). Alle Befragten
der 2. Phase bestätigten diese Wahrnehmung und betonten, dass diese Unsicherheiten mit
gestiegenen Ängsten und zunehmenden psychischen Problemen einhergingen, was wiederum
eine Intensivierung der Betreuung nach sich zog (vgl. I2: 38; I4: 32; I6: 46). Zudem stellten die
Expert:innen der ersten beiden Phasen eine verstärkte Benachteiligung vulnerabler Gruppen, wie
Alleinerziehende oder Langzeitarbeitssuchende (vgl. I1: 14), fest: „Die Krise wirkt wie ein Brennglas,
latent vorhandene Themen werden verstärkt.“ (P4: 17)
Auch wenn sich laut Aussagen der Expert:innen der 3. Phase die Lage am Arbeitsmarkt ab
Mitte 2021 zu entspannen begann, hat sich die Situation für bestimmte Personengruppen nicht
entschärft (vgl. A40: 7). In der Post-Krisen-Zeit sind nachhaltige Veränderungen für die Klientel
beobachtbar (vgl. A53: 6). Zusätzlich zu bereits bestehenden Benachteiligungen erweisen sich
folgende zwei Personengruppen als besonders vulnerabel: a) Ältere, die krisenbedingt ihren Job
verloren und aufgrund des Alters als schwer vermittelbar gelten, und b) Personen mit Covid-19-
bedingten anhaltenden gesundheitlichen Einschränkungen (vgl. A44: 7; A40: 4; A50: 8; A39: 11).
Zudem verschärfen sich die psychischen Problematiken. Sie äußern sich in vermehrter sozialer
Isolation und einem Anstieg an Suchterkrankungen (vgl. A27: 20; A44: 12; A40: 7; A50: 8). Durch
diese multiplen Problemlagen setzt sich der in der Krisenzeit gestiegene Betreuungsbedarf in der
Post-Krisenphase fort (vgl. A44: 3; A47: 3; A53: 3).
…für Unternehmen
Die Herausforderungen, die sich für arbeitsmarktintegrative Unternehmen im Kontext der akuten
Krisenphase stellten, konzentrierten sich nicht nur auf die Intensivierung der Betreuung, sondern
auch auf deren Digitalisierung. Hinzu kamen organisatorische und geschäftsfeldbezogene
Transformationen. Hinsichtlich ersterer wurde in den vertiefenden Interviews der Phase 2 die
digitale Zusammenarbeit im Rahmen das Case Management als besonders schwierig eingestuft
(vgl. I2: 90). Das lag auch daran, dass Adressat:innen zum Teil nicht erreichbar waren oder nicht
auf digitale Ressourcen zugreifen konnten. Auch andere Unternehmensvertreter:innen standen der
Digitalisierung skeptisch gegenüber. Es war von einem „Gesprächsverlust“ die Rede, da für den
sozialen Austausch kein adäquater, zielgruppenspezifischer Raum zur Verfügung stand (vgl. I1:
21). Rückblickend auf die akute Krisenphase bestätigen die Expert:innen der Phase 3 den mit der
Digitalisierung einhergehenden Qualitätsverlust in der Betreuung (vgl. A34: 3; A50: 3; A53: 3).
Mit Blick auf die organisatorischen und betrieblichen Herausforderungen erweist sich
die Balance zwischen Stabilität und Innovation als zentral (vgl. Schröer 2021: 10). So stand laut
Aussagen der Befragten aus Phase 1 zunächst die Bewältigung der neuen Situation im Fokus:
„Eine Herausforderung ist es, sich so schnell wie möglich auf die neue Situation einzustellen
und unter den gegebenen Umständen trotzdem das Bestmögliche für alle Beteiligten (inkl. sich
selbst) zu tun!“ (P34: 5) Das unterstrichen die Expert:innen der Phase 2. Es geht um Fragen „Wie
überleben wir diese Woche? Wie überstehen wir diesen Tag?“ (I5: 18) Die in Phase 3 befragten
Expert:innen stellen retrospektiv fest, dass die Unternehmen gut durch die Krise gekommen sind
und ihr Dienstleistungsangebot großteils aufrechterhalten konnten.
Trotz des erhöhten administrativen Aufwandes, der aus dem Umstieg auf digitale
Kommunikations- und Arbeitsorganisationsformen resultierte, und trotz des wirtschaftlich
bedingten Rückgangs von Aufträgen konnten die Unternehmen durch die unmittelbare Adaption
von Geschäftsfeldstrategien, wie z.B. Maskenproduktion, Essenszustellung, Hygienereinigung,
Upcycling und Onlineverkauf, innovative Akzente setzen (vgl. A41: 5; A27: 5; A47: 5; A53: 6;
A53: 5; A50: 5). Dennoch ist „noch einiges nicht verdaut“ (A50: 7), wie eine Expert:in der Phase
3 pointiert festhält. Neue Herausforderungen zeigen sich zum einen hinsichtlich der anhaltenden
nachhaltigen Belastungen des Stammpersonals, die sich in einer Rückzugskultur und vermehrten
Krankenständen sowie dem Wunsch nach Teilzeit äußern (vgl. A55: 6; A40: 10; A40: 6). Zum
anderen ist die Implementierung von neu entwickelten arbeitsorganisatorischen Möglichkeiten
weitestgehend ausständig, wobei sich das Home-Office im Anlassfall institutionalisierte (vgl. A59:
6).
…in der Zusammenarbeit mit der Arbeitsmarktpolitik
Die Arbeitsmarktpolitik Österreichs reagierte zu Beginn der Pandemie mit einer Ausweitung
passiver Angebote, wie der Kurzarbeit, auf die plötzlich auftretenden gravierenden Veränderungen
am Arbeitsmarkt. Diese Initiative bewährte sich bereits in der Wirtschaftskrise 2009 und sollte im
Falle einer Entspannung ein rasches Hochfahren der Wirtschaft gewährleisten (vgl. Hofer/Titelbach/
Fink 2020: 14). Diese Maßnahmen tangierten arbeitsmarktintegrative Unternehmen ebenso. Laut
Aussagen der Mitarbeiter:innen der in Phase 1 befragten Unternehmen führten sie zunächst zu
einem Rückgang der vom AMS zugewiesenen geförderten Beschäftigten, wodurch sich das
Kerngeschäft der Unternehmen minimierte: „Sommer 2020: viele Arbeitslose in Kurzarbeit bzw. mit
Wiedereinstellungszusage, daher wenige Transitmitarbeiter:innen für unseren Betrieb.“ (P2: 2)
Dieser anfängliche Rückgang wurde von den Befragten in der Phase 3 erneut bestätigt (vgl.
A53:5),wobeiinmanchenBetriebeninweitererFolgeeinplötzlicherAnstiegderTeilnehmer:innenzahl
in Form von Sonderkontingenten zu verzeichnen war (vgl. A40: 5). Dieser kann mit der „Aktion
Sprungbrett“ in Zusammenhang gebracht werden, eine Personalkostenförderung des AMS, mit der
seit 2021 auf die Folgen der Covid-19-Krise reagiert wurde. Des Weiteren wurden laut Aussagen
der Unternehmen in der Phase 1 Förderverträge zwischen Unternehmen und dem AMS kurzfristig
geändert, was insbesondere die Vermittlungsaktivitäten in den ersten Arbeitsmarkt betraf. Die
damit verbundene Planungsunsicherheit für die Unternehmen wurde in den Interviews der Phase
2 als „Jonglier-Spiel“ (I5: 62) zwischen AMS und den Betrieben bezeichnet. Außerdem seien die
förderspezifischen Auflagen bezüglich der Vermittlung und Eigenerwirtschaftung zuweilen zu hoch
und nicht auf die Problemlagen und die Bedürfnisse der zugewiesenen Adressat:innen abgestimmt
(vgl. I4: 138). Hier zeigt sich der in Kapitel 3 benannte Konflikt zwischen bedarfsgerechter Betreuung
der Adressat:innen und den arbeitsmarktpolitischen Anforderungen, der sich in Krisenzeiten
zuspitzte.
Dass sich diese Problematik nicht auf die akute Krisenphase beschränkte, sondern weiter
fortsetzt, geht aus den Aussagen der in Phase 3 befragten Unternehmen deutlich hervor. Aus ihrer
Sicht werden von der Arbeitsmarktpolitik die zielgruppenspezifischen Veränderungen ebenso wie
die diskriminierenden Arbeitsmarktbedingungen nach wie vor zu wenig adressiert. Zum einen weisen
die Adressat:innen vermehrt multidimensionale Problemlagen auf, wodurch sich die Vermittlung
erschwert und die Quoten nicht erfüllt werden können (vgl. A50: 6). Eine Vermittlung in den ersten
Arbeitsmarkt scheint für einen zunehmenden Teil der Klientel deshalb nicht realistisch (vgl. A40: 11).
Zum anderen sind laut Aussagen der Expert:innen die Anforderungsprofile der Unternehmen am
ersten Arbeitsmarkt sehr hoch. Überdies sind Unternehmen oft nicht bereit, geringfügige Defizite
bei den Arbeitnehmer:innen zu akzeptieren und Personalmanagementmaßnahmen wie z.B. Diversity
Management zu implementieren (vgl. A53: 10; A50: 9; A59: 8; A40: 15).
5.2 Innovationspotenziale…
Krisen bringen nicht nur Herausforderungen mit sich, sondern regen Innovationen an.
Die im Forschungsprozess kenntlich gewordenen Potenziale beziehen sich einerseits auf
unternehmensinterne Ansätze, andererseits auf Anregungen für zukünftige Entwicklungen,
wobei hier auf jene in der Zusammenarbeit mit der Arbeitsmarktpolitik fokussiert wird. Insgesamt
implizieren die Potenziale in beiden Sphären eine tendenzielle Erweiterung der Inklusionschancen
der Adressat:innen.
…innerhalb der Unternehmen
Die krisenbedingten Erfahrungen führten gemäß der Aussagen der in den ersten beiden
Phasen befragten Expert:innen zu einer kritischen Reflexion der Dienstleistungserbringung und
Angebotsentwicklung: „Und da denk ich mir, kann man sich durchaus jetzt wieder neue Wege
zurechtlegen, an die man vorher nicht gedacht hat, weil man schon so festgefahren war.“ (I3: 90)
In der aktualisierten Befragung der Phase 3 konstatierten die Expert:innen, dass die Covid-19-
bedingten Änderungen vorrangig in den Bereichen Geschäftsfeldentwicklung sowie Digitalisierung
vonstattengingen und sich institutionalisierten (vgl. A53: 10; A47: 10; A27: 17; A40: 16); besonders
die Digitalisierung bewährte sich in der Arbeitsorganisation und -kommunikation (vgl. A44: 17; A59:
11; A39: 14). Bei der Betreuungstätigkeit wurde die Relevanz der Face-to-Face-Kommunikation
mit den Teilnehmer:innen bewusst, die zu weiten Teilen so bzw. hybrid weitergeführt wird (vgl.
A44: 16; A34: 14; A50: 11; A40: 12; A59: 10; 53: 10; A40: 14). Parallel wurde die Förderung des
digitalen Know-hows bei den Teilnehmer:innen intensiviert, um der exkludierenden Wirkung der
Digitalisierung gegenzusteuern. Hierfür wurden speziell geförderte Projekte und Schulungen, z.B.
digifair und digifit, initiiert (vgl. A41: 10; A39: 13; A34: 16; A 53: 12), die es laut den Expert:innen
fortzuführen gilt (vgl. A34: 17; A53: 13; A40: 15; A39: 16).
In Phase 3 wurde, ergänzend zu diesen Entwicklungspotenzialen, die konkrete Arbeit mit den
Adressat:innen angesprochen. So werden nach Einschätzung der Expert:innen die durch die Krise
verschärften Vermittlungshemmnisse, wie Alter und psychische sowie physische Erkrankungen,
weiterhin zentral sein (vgl. A27: 20; A40: 15; A59: 13; A53: 13). Vor diesem Hintergrund erscheint
neben dem offenen Umgang mit psychischen Erkrankungen ein niederschwelligerer Zugang zu
psychosozialen Beratungsstellen notwendig (vgl. A44: 20; A27: 13; A50: 14; A59: 13).
Insgesamt gilt es, vermehrt Parteilichkeit für die Adressat:innen zu übernehmen und
ihre individuellen Bedürfnisse und Lebenslagen ins Zentrum zu stellen (vgl. A59: 21). Im Sinne
einer kritischen Sozialen Arbeit (vgl. Seithe 2012) wird es wichtig sein, proaktiv gegen restriktive
arbeitsmarktpolitische Vorgaben zu agieren.
…in der Zusammenarbeit mit der Arbeitsmarktpolitik
Hinsichtlich der Zusammenarbeit mit der Arbeitsmarktpolitik wurden von den Befragten in allen drei
Forschungsphasen Lösungswege benannt, um die Inklusionschancen für die Adressat:innen zu
erhöhen und die Finanzierung der Unternehmen zu optimieren. Diese betreffen die Verweildauer, die
Zuweisungspraxis, die Finanzierung und die Förderung eines diversen Arbeitsmarktes. So wurde
von den Befragten der ersten beiden Forschungsphasen betont, dass die Verweildauer der Klientel
an die jeweiligen Problemlagen angepasst werden muss, um ihnen eine ganzheitliche Stabilisierung
bzw. Qualifizierung zu ermöglichen (vgl. P24: 10). Dies betrifft vor allem jene, die kurz vor der
Pension stehen. Beispielhaft werden in diesem Kontext Pension-Transit-Arbeitsstellen genannt.
Laut den in Phase 3 befragten Expert:innen gilt es, Wiedereingliederung langfristig und nachhaltig
zu denken, um auch Personen, die am ersten Arbeitsmarkt nicht vermittelbar sind, eine Perspektive
zu bieten (vgl. A50: 14; A40: 20; A59: 16; A40: 32). Beispielhaft dafür sind Modellprojekte wie
„Magma Arbeitsplatzgarantie“ (vgl. Kasy/Lehner 2023) und das schon vor der Covid-19-Pandemie
initiierte Projekt „Sinnvoll Tätig Sein“ (vgl. Dimmel/Immervoll/Schandl 2019). In diesen werden
individuell angepasste Unterstützungs- und Entwicklungsmöglichkeiten weitestgehend ohne
Vermittlungsdruck in den ersten Arbeitsmarkt geboten.
Mit Blick auf die Zuweisungspraxis stellen die in der Post-Krisenzeit befragten Expert:innen
einen Anstieg an Personen mit multiplen Problemlagen fest. In der Betreuung liegt der Fokus daher
auf Basisstabilisierung und Motivationsarbeit und seltener auf der Vermittlungstätigkeit (vgl. A50: 6).
Laut den Expert:innen könnten durch eine durchmischtere Zuweisungspraxis die Teilnehmer:innen
mehr profitieren und auch die wirtschaftliche Stabilität des Unternehmens könnte gestärkt werden
(vgl. A40: 32).
Des Weiteren konstatierten die Expert:innen aus Phase 1 und 2, dass finanzielle Kürzungen
seitens der Fördergeber:innen Sozialen Innovationen entgegenstehen. Zudem erwarten sie
sich längere Förderperioden, um die Planbarkeit zu erhöhen (vgl. P11: 6–8; I2: 90). In Phase 3
wurde dahingehend der Bedarf an einer angemessenen Erhöhung der Förderungen signalisiert,
um trotz steigender Kosten die Dienstleistungen aufrechterhalten zu können (vgl. A27: 6). Um
die Finanzierung der Unternehmen zu stärken, wird auf die Möglichkeit der sozialen Vergabe
verwiesen. Eine Unternehmensvertreterin plädiert in Phase 2 für deren rechtliche Verankerung
(vgl. I3: 22). Damit könne sich die Auftragslage der Sozialwirtschaft in Österreich insgesamt und
arbeitsmarktintegrativer Unternehmen im Speziellen entscheidend verbessern. Hintergrund ist eine
VorgabederEuropäischenUnion, derzufolgebeiöffentlichenAusschreibungenvonDienstleistungen
Unternehmen bevorzugt werden sollen, die primär ein soziales Ziel verfolgen (vgl. EU 2014). Dieser
Zugang wurde in Phase 3 von den Expert:innen als zukunftsweisend eingestuft.
In dieser Forschungsphase wurde von den Befragten auch die Relevanz eines diversen
Arbeitsmarktes betont. Aus Sicht Einiger sollten Unternehmen am ersten Arbeitsmarkt stärker in
die gesellschaftliche Verantwortung gezogen werden, auch benachteiligten Personengruppen eine
Chance zu bieten (z.B. Ältere, Menschen mit Beeinträchtigungen, Jugendliche). Durch erweiterte
Förderungen könnte diese Entwicklung aus ihrer Sicht forciert werden (vgl. A53: 15; A40: 15; A59:
13; A59: 16).
6
Ergebnisdiskussion
Die hier vorgestellte Studie wurde während der Akutphase der Covid-19-Krise und in der Post-
Krisenzeit durchgeführt. Diese Zeitpunkte ermöglichten es den Befragten, Wandlungsprozesse
zu beobachten und Entwicklungen zu reflektieren. Anzumerken ist, dass die Ergebnisse regional
begrenzt und somit nicht auf das gesamte Handlungsfeld umlegbar sind. Zudem ist die empirische
Basis für eine Verallgemeinerung zu gering. Aus den Befunden lassen sich dennoch zentrale
Herausforderungen und Innovationspotenziale sowie Anregungen für die Zukunft ableiten.
Mit Blick auf die Herausforderungen zeigte sich, dass sich die Problemlagen bei den
Adressat:innen über die Zeit verhärteten und verschärften, wodurch arbeitsmarktspezifische
Exklusionsmechanismen noch gravierender geworden sind. Diese Erkenntnisse werden von anderen
Studien bestätigt (vgl. dazu z.B. BMSGPK 2021; arbeit plus 2022). Die Ergebnisse signalisieren, dass
die durch die Pandemie hervorgerufene Perspektivenlosigkeit am Arbeitsmarkt zu einem Anstieg
an psychischen Belastungen und nachhaltigen zielgruppenspezifischen Veränderungen führte,
die umfassenderer Beratungs- und Betreuungsangebote bzw. zeitlicher Ressourcen bedürfen.
Unternehmensintern waren es vorwiegend organisatorische Herausforderungen, die während der
akuten Krisenphase bewältigt werden mussten (z.B. Digitalisierung, Geschäftsfeldadaptionen). Aber
auch die Zusammenarbeit mit der Arbeitsmarktpolitik wurde kritisch reflektiert. Neue Auflagen und
Vertragsänderungen stellen die Unternehmen vor Fragen bezüglich der Zuweisung, Vermittlung und
der Planbarkeit insgesamt. Die Untersuchung bestätigt damit die Ergebnisse der Studie des BMSGK
(2021), dass nämlich problematische Förder- und Finanzierungsrichtlinien innovationshindernd
wirken. Sie zeigen das Beharrungsvermögen auf institutioneller Seite, auf der es nach kurzfristigen
Richtlinienadaptionen den Normalzustand wiederherzustellen gilt (vgl. Bösch et al. 2020: 12). Der
im Handlungsfeld eingelagerte Konflikt zwischen öffentlichen Vorgaben und bedürftnisadäquater
Unterstützung der Adressat:innen (vgl. Anastasiadis 2019: 288), hat sich den Expert:innen zufolge
krisenbedingt neu aufgeladen und in der Post-Krisenzeit intensiviert fortgesetzt.
Doch Krisen schaffen auch Gelegenheitsfenster. Eine Innovation war für die Unternehmen
zum einen die Digitalisierung. Diese hat sich in der internen Kommunikation und Vermarktung
der Produkte institutionalisiert. Bei der Arbeit mit den Adressat:innen erhöhen neu entwickelte
Schulungen zur digitalen Kompetenz deren Inklusionschancen. Bei der direkten Betreuungsarbeit
wirdhingegendieRelevanzdesdirektensozialenAustauschsbetont. ZumanderensindInnovationen
in der Angebots- und Geschäftsfeldentwicklung geschehen. Die Transformation zu ökologischen
Geschäftsfeldern ist dahingehend hervorzuheben.
Mit Blick in die Zukunft wurden u.a. Entwicklungsmöglichkeiten der Arbeitsmarktpolitik
angeregt.Diesbezüglichwirdeszukünftigwichtigsein,andreiStellschraubenzudrehen:Erstenswurde
dieNotwendigkeiteinerzukünftigbesserkoordiniertenZusammenarbeitzwischendenUnternehmen
und den arbeitsmarktpolitischen Stellen deutlich, um gut abgestimmte, gemeinsame Lösungen zu
finden, die die Bedürfnisse der Adressat:innen zentrieren. Zweitens sind arbeitsmarktpolitische
Reformen notwendig, die eine diverse Unternehmenskultur am ersten Arbeitsmarkt fördern.
Drittens gilt es, langfristig nicht vermittelbaren Personen Beschäftigungsmöglichkeiten im Sinne
eines erweiterten Arbeitsmarktes zu eröffnen. Diese von den Expert:innen artikulierten Forderungen
sind nicht neu. Sie wurden schon vor der Covid-Krise thematisiert (vgl. Anastasiadis 2019: 288),
erweisen sich durch die Entwicklungen in der Post-Krisenzeit jedoch als noch dringlicher.
Verweise
i
In dieser Studie wurden Vertreter:innen aus den Bereichen Pflege, Wohnen und Obdachlosigkeit, Kinder und Jugendliche, Menschen
mit Behinderungen und Gewaltbetroffenheit befragt.
ii In den Quellenangaben gekennzeichnet mit (P)=Phase 1; (I)=Phase 2; (A)=Phase 3.
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Über die Autorinnen
Assoz. Prof. Mag. Dr. Maria Anastasiadis
Maria Anastasiadis ist assoziierte Professorin im Arbeitsbereich Sozialpädagogik am Institut für
Erziehungs- und Bildungswissenschaft der Karl-Franzens-Universität Graz. Ihre Arbeits- und
Forschungsschwerpunkte sind: Soziale Organisationen und deren Beiträge zur Partizipation und
Sozialen Innovation, sozialpolitische Wandlungsprozesse und deren Konsequenzen für die Soziale
Arbeit, Soziale Arbeit und nachhaltige Entwicklung, partizipative Forschung.
Lisa-Maria Lembacher, BA MA
Lisa-Maria Lembacher hat die Masterstudien Sozialpädagogik und Erwachsenen- und Weiterbildung
am Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaften an der Karl-Franzens-Universität Graz
absolviert, sammelte Erfahrungen als studentische Mitarbeiterin am Institut für Bildungsforschung
und PädagogInnenbildung und arbeitete in verschiedenen Forschungsprojekten mit. Sie ist selbst
als Sozial- und Berufspädagogin in einem arbeitsmarktintegrativen Betrieb sowie in der Content-
und Eventplanung für Jugendliche und junge Erwachsene tätig.