Benjamin Mohl. Soziale Räume und das Sicherheitsgefühl von Menschen, die von Wohnungslosigkeit
betroffen sind. soziales_kapital, Bd. 28 (2024). Rubrik: Junge Wissenschaſt. Wien. Printversion: http://
28. Ausgabe 2024
Soziale Arbeit, Staat und Zivilgesellschaft
Soziale Räume und das Sicherheitsgefühl von
Menschen, die von Wohnungslosigkeit betroffen sind
Benjamin Mohl
Zusammenfassung
Der vorliegende Beitrag befasst sich mit sozialen Räumen und dem Sicherheitsgefühl von Menschen,
die von Wohnungslosigkeit betroffen sind. Für die Analyse wurden insgesamt 15 Interviews mit
Betroffenen geführt, die anschließend mittels Themenanalyse verdichtet wurden. Der Zugang zum
Feld wurde über Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe ermöglicht. Es zeigt sich, dass die befragten
Personen durch den Wegfall von Wohnraum unter starkem sozialräumlichen Druck stehen, der sich
auf physischer und sozialräumlicher Ebene auswirkt. Der Alltag von Betroffenen ist durch zahlreiche
Viktimisierungs- und gesellschaftliche Ausgrenzungserfahrungen geprägt und verlangt Betroffenen
von Wohnungslosigkeit enorme Bewältigungskompetenzen ab.
Schlagworte: Sicherheitsgefühl, Sicherheitsdiskurs, Wohnungslosigkeit, sozialer Raum, öffentlicher
Raum
Abstract
This article examines the social spaces and sense of security of individuals experiencing
homelessness. To gain insight, 15 interviews were conducted with those affected, which were
then condensed using thematic analysis. Access to the field was facilitated through homelessness
support facilities. The findings indicate that the interviewees were under significant socio-spatial
pressure due to the loss of housing, which had a tangible impact on their physical and socio-spatial
well-being. The everyday lives of those affected are characterized by numerous experiences of
victimization and social exclusion, which demands considerable coping skills from those affected
by homelessness.
Keywords: sense of security, security discourse, homelessness, social space, public space
1
Einleitung
Öffentlicher Drogenkonsum, Betteln oder Alkoholkonsum in Parks werden mehrheitsgesellschaftlich
alsstörendempfundenundkönnenUnsicherheithervorrufen(vgl.Häfele2024).DasThemaSicherheit
ist dadurch längst Teil von Stadtpolitik (vgl. Häfele 2017: 7). Im Fokus der sicherheitspolitischen
Debatten steht oft menschliches Handeln, das in der kriminologischen Forschung mit dem Begriff
der Incivilities zusammengefasst wird. Diese legen abweichendes Verhalten an den Tag, welches
nicht zu gesellschaftlich konstruierten Normen passt. Begonnen hat diese Debatte in den frühen
1990er Jahren, sie wurde durch den sogenannten Broken-Windows-Ansatz in den USA bekannt.
Im Kern besagt dieser Ansatz, dass sichtbare physische und soziale „Unordnung“ den Eindruck
vermittelt, dass die soziale Kontrolle im jeweiligen Stadtteil niedrig ist. Als Metapher wird häufig die
zerbrochene Fensterscheibe verwendet. Wenn Abweichungen von der Norm dann nicht sanktioniert
werden, kommt es zu einer Abwärtsspirale und weiteres abweichendes Verhalten entsteht (vgl.
Belina 2017: 38). Dieser Ansatz wurde trotz schwacher Studienlage als Legitimation für eine Vielzahl
an Maßnahmen und Sanktionierungen in urbanen Räumen herangezogen, wie z.B. vermehrte
Polizeikontrolle oder erhöhtes Aufkommen von Sicherheitspersonal (vgl. Häfele 2024). Das wirkt
sich besonders auf jene Personen aus, die aufgrund des Wegfalls von Wohnraum auf öffentliche
Räume angewiesen sind. Die Lebenslagen von Menschen, die von Wohnungslosigkeit betroffen
sind, werden im gesellschaftlichen Diskurs oft nicht mehr als strukturelle Probleme identifiziert,
sondern als selbstverschuldete Defizite gedeutet (vgl. Singelstein/Kunz 2021: 458).
Wirft man einen Blick in die kriminologische Forschung, fällt schnell auf, dass Studien zum
Sicherheitsgefühl bis auf wenige Ausnahmen (vgl. Lukas/Hauprich 2022: 459–460) mit Personen
aus mehrheitsgesellschaftlichen Mittelschichtmilieus durchgeführt werden (vgl. Hummelsheim-Droß
2016: 7; BMI 2021; Furian/Gaderer/Manzoni 2012: 48). Im Gegensatz dazu wird im vorliegenden
Beitrag die Perspektive gewechselt und es kommen Menschen zu Wort, die von Wohnungslosigkeit
betroffen sind. Dafür wurden 15 themenzentrierte Interviews mit eben diesen geführt. Die Daten
wurden im Rahmen der Erarbeitung meiner Masterarbeit zu Sicherheitsgefühl von wohnungslosen
Menschen und die Bedeutung von öffentlichen, halböffentlichen und institutionellen Räumen (2022)
erhoben, die ich an der FH-Campus Wien verfasst habe. Für die Aufbereitung der Interviews wurde
die Themenanalyse nach Ulrike Froschauer und Manfred Lueger (2020: 182) herangezogen. Das
Ziel der Untersuchung war, das Sicherheitsgefühl und die damit verbundenen sozialräumlichen
Aspekte von Betroffenen in den Fokus zu stellen.
2
Wohnungslosigkeit und soziale Räume
Wohnungslosigkeit wird in der Fachliteratur als hochkomplexe, prekäre Lebenslage verstanden, die
mit diversen Risiken verbunden ist (vgl. Wolf/Kunz 2017: 114). Durch den Wegfall des Wohnraums
verändert sich der Alltag von Betroffenen enorm. Es gibt keinen eigenen Schlafplatz oder Ort,
an dem die persönlichen Sachen aufbewahrt werden können. Ist man von Wohnungslosigkeit
betroffen, muss man auf andere Räume zurückgreifen (vgl. Diebäcker/Sagmeister/Fischlmayr
2018: 8). Diese alternativen Räume sind häufig öffentliche, halböffentliche und institutionelle
Räume. Öffentliche Räume stehen in Relation zum privaten Raum, es sind z.B. Parks, Freiräume,
Wege und Plätze (vgl. Diebäcker 2022: 171). Halböffentliche Räume zeichnen sich durch ihre
eingeschränkte Nutzbarkeit aus und verfügen über Schwellen, wie beispielsweise zeitlich begrenzte
Zugänge. Darunter fallen Bibliotheken, Verkehrsmittel oder auch Einkaufszentren (vgl. Deinet
2009). Institutionelle Räume können unter anderem Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe, wie
zentrale Anlaufstellen, Chancenhäuser oder Tageszentren, sein (vgl. Diebäcker/Reutlinger 2018:
21). Diese niederschwelligen Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe werden häufig als Basis eines
mehrstufigen Hilfesystems verstanden (vgl. Steckelberg 2016: 450).
Um diese unterschiedlichen Arten von Räumen im Kontext dieser Analyse einordnen zu
können, bedarf es einer Auseinandersetzung mit dem Begriff Raum im sozialräumlichen Sinn. Die
längste Zeit wurden Räume als territoriale Gebilde verstanden, die dem menschlichen Handeln
vorgängig sind. Diese Auffassung ist aus heutiger Sicht unzureichend. Räume werden nicht mehr
nur als territoriale Gebilde angesehen, sondern beinhalten immer auch eine soziale Komponente
(vgl. Kessl/Reutlinger 2022: 10–12). Soziale Räume werden somit als Gewebe verstanden, welches
aus unterschiedlichen menschlichen Handlungen hervorgeht. Durch diverse soziale Praktiken
kommt es zu einer fortlaufenden (Re-)Produktion dieser Räume (vgl. Kessl/Reutlinger 2022: 36).
Um den vorliegenden Beitrag in die Forschungslandschaft einzuordnen, werden an dieser
Stelle ein paar Studien zum Thema genannt. Eine Untersuchung von Martina Alder befasst sich mit
den Perspektiven wohnungsloser Frauen. Hierin beleuchtet Alder das Zusammenspiel zwischen
Positionierungen im sozialen und physischen Raum (vgl. Alder 2012: 1–5). Marc Diebäcker,
Anna Fischlmayr und Aurelia Sagmeister haben sich mit institutionellen Räumen am Beispiel des
Frauenhauses beschäftigt und dabei untersucht, „wie sich soziale Beziehungen und Ordnungen
im institutionellen Kontext Sozialer Arbeit sowie in ihren sozialräumlichen Bezügen konstituieren“
(Diebäcker et al. 2018: 56). Susanne Gerull erforscht in einer systematischen Untersuchung die
Lebenslagen wohnungsloser Menschen und lässt dabei auch Aspekte der Sicherheit mit einfließen.
In Interviews wurden die tatsächliche Wohn-/Übernachtungssituation, die Wohnzufriedenheit, das
Sicherheitsgefühl und der Zugang zu medizinischer Versorgung abgefragt (vgl. Gerull 2018: 3). Eine
aktuelle Studie stellt Wege und Unterkünfte von wohnungslosen Menschen in den USA in den
Fokus. Sie untersucht insgesamt 63 Artikel zum Transit von Menschen, die von Wohnungslosigkeit
betroffen sind (vgl. Ding/Loukaitou-Sideris/Wasserman 2022: 134). Die genannten Beispiele
machen deutlich, dass die räumliche Komponente von Wohnungslosigkeit in der Vergangenheit
immer wieder beforscht wurde. In folgendem Abschnitt soll neben der sozialräumlichen Perspektive
das Thema Sicherheitsgefühl in den Fokus gerückt werden.
3
Eine Einordnung des Sicherheitsbegriffs
Sicherheit ist ein menschliches Grundbedürfnis, welches sowohl auf individueller als auch auf
kollektiver Ebene befriedigt wird. Ganz allgemein kann Sicherheit in zweierlei Hinsicht einen Einfluss
auf uns haben: Zum einen durch eine tatsächliche Gefahr und zum anderen durch die gefühlte
Unsicherheit(vgl. Endreß/Petersen2012). DiesesubjektivenEinstellungenwerdeninderKriminologie
auch als Kriminalitätsfurcht bezeichnet und lassen sich als Unsicherheit beziehungsweise als
Angst vor potenziellen Verbrechen beschreiben. Dieses Gefühl geht oft über die tatsächliche
Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Verbrechens zu werden, hinaus. Es ist stark von unterschiedlichen
Parametern wie persönlichen Erfahrungen, Medienberichten und gesellschaftspolitischen Diskursen
abhängig. Wissenschaftliche Studien können nur Ausschnitte des komplexen Phänomens erfassen
(vgl. Singelstein/Kunz 2021: 429–430).
In der Forschung wird das Sicherheitsgefühl weitgehend über die kognitive, die affektive
und die konative Dimension erfasst. Die kognitive Dimension beinhaltet die Einschätzung des
persönlichen Risikos, Opfer einer Straftat zu werden. Bei der affektiven Dimension wird meistens
gefragt, ob man sich in der Dunkelheit im eigenen Stadtteil sicher fühlt oder wie beunruhigt man
durch bestimmte Straftaten ist. Bei der konativen Dimension geht es um das Vermeidungs- und
Schutzverhalten in Bezug auf bedrohliche Situationen. Tobias Singelstein und Karl-Ludwig Kunz
(2021: 429–430) merken diesbezüglich an, dass Befragungen mittels dieser schematischen Brille
nur ein grobes Bild des Sicherheitsgefühls beschreiben.
In der Literatur finden sich zahlreiche repräsentative Studien, die die Wahrnehmung von
Unsicherheit beleuchten. Dabei werden jedoch fast immer Menschen aus der Mehrheitsgesellschaft
befragtundindenmeistenFällenverfügendiebefragtenPersonenübergesicherteWohnverhältnisse
(vgl.Abus2023;Hummelsheim-Droß2016:7;BMI2021,Furianetal.2012:48).DemSicherheitsgefühl
von Menschen, die von Wohnungslosigkeit betroffen sind, wird jedoch nur wenig Aufmerksamkeit
geschenkt. Eine der wenigen Studien, die sich tatsächlich mit den Themen Raum, Sicherheit und
Wohnungslosigkeit beschäftigen, ist die explorative Studie von Tim Lukas und Kai Hauprich (2022)
zum Thema Angsträume von wohnungslosen Menschen. Hier wird dargelegt, dass wohnungslose
Menschen ähnliche Sicherheitsbedürfnisse haben wie die Mehrheitsgesellschaft, doch müssen
sie Angst-besetzte Räume aufgrund ihrer Lebenslage trotzdem aufsuchen. Angsträume sind
subjektiv und basieren auf individuellen Erfahrungen. Die restriktive und diskriminierende Haltung
der Mehrheitsgesellschaft erzeugt zusätzlichen Druck. Ordnungs- und Sicherheitskräfte werden
oft als Stressoren wahrgenommen. Obdachlose sind durch ihre Ängste stärker eingeschränkt, da
sie ihnen ständig ausgesetzt und grundsätzlich vulnerabler sind, zudem fehlen oft grundlegende
Schutzmechanismen (vgl. Lukas/Hauprich 2022: 459–460).
4
Fragestellung, Forschungsprozess und Methoden
Anhand der Auseinandersetzung mit den sozialräumlichen und sicherheitsspezifischen Aspekten
im Kontext von Wohnungslosigkeit wird deutlich, dass eine gewisse Forschungslücke besteht. Zum
einen stellt sich die Frage, welche Bedeutung soziale Räume abseits des Wohnraums für Betroffene
haben,undzumanderen,welcheAspektezumThemaSicherheitsgefühldurcheinedetaillierteAnalyse
sichtbar gemacht werden können. Diesen Fragen bin ich in meiner Masterarbeit nachgegangen
und habe dafür folgende Forschungsfragen formuliert: 1. Welche Bedeutung haben öffentliche,
halböffentliche und institutionelle Räume für Menschen, die von Wohnungslosigkeit betroffen sind?
2. Wie ist das Sicherheitsgefühl von Menschen charakterisiert, die von Wohnungslosigkeit betroffen
sind?
Als methodisches Instrument wurde das themenzentrierte Interview nach Froschauer und
Lueger gewählt (vgl. Froschauer/Lueger 2020: 55–57). Die empirischen Daten der Analyse setzen
sich aus insgesamt 15 Transkripten zusammen. Die befragten Personen waren zum Zeitpunkt
der Interviews zwischen 30 und 65 Jahre alt. Vier der 15 befragten Personen wurden vom
Interviewer als weiblich* gelesen, der Rest als männlich*. Die Gespräche weisen im Schnitt eine
Länge von ca. 30 Minuten auf. Der Zugang zum Forschungsfeld wurde über Einrichtungen der
Wiener Wohnungslosenhilfe ermöglicht. Die Gespräche wurden teilweise in den Einrichtungen und
teilweise im öffentlichen Raum geführt. Als Analysetool wurde die Themenanalyse herangezogen
(vgl. Froschauer/Lueger 2020: 186).
5
Resultate der qualitativen Themenanalyse
In folgendem Abschnitt werden die Ergebnisse der Themenanalyse anhand von induktiv gebildeten
Kategorien zusammengefasst. Abschnitt 5.1 befasst sich mit den physischen Aspekten von
Räumen, in denen sich Betroffene aufhalten. Im Abschnitt 5.2 werden die sozialen Phänomene der
Räume skizziert. Die Abschnitte 5.3 und 5.4 befassen
5.1 Physische Aspekte von Räumen aus der Sicht von Betroffenen
Die Analyse hat ergeben, dass von Wohnungslosigkeit betroffene Personen häufig im städtischen
Raum unterwegs sind, sich also durch den öffentlichen Raum bewegen. Als Begründung wurden
die Schlafplatzsuche, die Lebensmittelbeschaffung oder das Aufsuchen von Einrichtungen
der Wohnungslosenhilfe angegeben. Öffentliche Gebäude und Plätze werden als regelmäßige
Aufenthaltsorte genannt (vgl. I14: 4, I11: 1, I9: 10, I13: 2, I14: 1, I1: 8–9, I14: 6, I2: 5, I9: 6, I4: 3).
Die interviewten Personen gaben an, dass die Jahreszeiten einen großen Einfluss auf ihren Alltag
haben. „Im Winter ist das wie eine Expedition, da kommen die Risiken einer Erkrankung dazu und
die Kleidung wird einfach nicht trocken.“ (I9: 7) Aus der Analyse geht des Weiteren hervor, dass viele
der befragten Personen während der kalten Jahreszeit Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe oder
halböffentliche Räume wie Bahnhöfe aufsuchen (vgl. I9: 7, I2: 5, I5: 9, I3: 9, I5: 7, I9:2 ).
VoneinigenderbefragtenPersonenwurdedieNachtmiteinemunsicherenGefühlverbunden,
von anderen wurde ihr eine gewisse Schutzfunktion zugeschrieben. Teilweise wurde betont, dass
es tagsüber häufiger zu Gewalterfahrungen kommt. „Die meisten Vorfälle, bei denen ich bestohlen
wurde oder wenn wer aggressiv geworden ist oder auf meine Frau hingeschlagen wurde, waren
tagsüber.“ (I12: 4) (vgl. dazu auch I5: 4, I6: 3, I7: 4, I1: 5, I12: 5, I14: 4)
Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe wurden als Orte beschrieben, die stark frequentiert
sind und an denen sich unterschiedliche Problemlagen manifestieren. Es wurde betont, dass man
auf Einrichtungen angewiesen sei, da ihnen eine wichtige Versorgungsfunktion in diversen Bereichen
des täglichen Lebens zukommt (vgl. I1: 11, I4: 1, I1: 2, I3: 1, I7: 7, I15: 4, I13: 2, I3: 2, I11: 5).
5.2 Soziale Aspekte von Räumen aus der Sicht von Betroffenen
Aus der Analyse geht hervor, dass für die meisten Befragten Wohnungslosigkeit mit einem Verlust
der sozialen Kontakte einhergegangen ist. „Also da ist man ganz schnell in der Schublade drin und
die Leute sind so schnell weg, so schnell kann man gar nicht schauen.“ (I14: 4) Das betrifft sowohl
Beziehungen und Freundschaften als auch familiäre Kontakte (vgl. I14: 8, I1: 4, I9: 9, I8: 5, I10: 1,
I12: 3, I4: 3).
Die befragten Personen gaben an, dass sie während der Wohnungslosigkeit häufig mit
Vorurteilen konfrontiert waren. Diese wurden unter anderem auf äußere Merkmale der eigenen
Person bezogen. „Wenn man im Park rumhängt und ein bisschen verwahrlost ausschaut, ja, dann
bekommt man sofort den Mantel umgehängt, das ist ein Obdachloser.“ (I14: 3) Aus der Analyse
geht hervor, dass Differenzierung auch unter Betroffenen stattfindet. Diese Unterscheidungen und
Abgrenzungen beziehen sich auf verschiedene Aspekte wie Herkunft, Betteln und Alkohol- bzw.
Drogenkonsum (vgl. I5: 7, I1: 5, I2: 6, I3: 2, I12: 3, I4: 2).
Die Analyse zeigt zudem, dass soziale Kontakte während der Zeit der Wohnungslosigkeit
häufig auf andere Betroffene oder Mitarbeiter:innen von Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe
beschränkt sind. Die große Diversität in Einrichtungen, was die Herkunft, das Alter und die
persönliche Historie betrifft, wird als herausfordernd beschrieben. Betroffene sehen sich häufig
in einer machtlosen Position gegenüber dem Personal und nehmen erteilte Sanktionen oft als
willkürlich und nicht stringent wahr (vgl. I5: 4, I7: 5, I5: 13, I7: 7, I9: 2, I15:4, I11: 1).
Ein weiterer Aspekt, der in der Analyse hervortrat, waren die Kontroll- und
Reglementierungserfahrungen der Befragten durch die Polizei und privates Sicherheitspersonal.
Die Kontrollen durch die Polizei wurden mehrheitlich als unangenehme Erfahrungen beschrieben. Es
wurde auch erwähnt, dass Beamte regelmäßig abwertende Bemerkungen über die eigene Person
äußern würden. Auch die Erfahrungen mit privatem Sicherheitspersonal wurden als weitgehend
negativ bezeichnet. Diese Erfahrungen wurden in Verbindung mit dem Aufenthalt in Bahnhöfen und
Shopping-Malls genannt (vgl. I1: 6, I4: 5, I1: 4, I12: 5 I2: 5, I2: 4, I9: 2).
5.3 Viktimisierungserfahrungen und Wohnungslosigkeit
In den Interviews wurde das Sicherheitsgefühl der teilnehmenden Personen explizit abgefragt. Die
Mehrheit gab an, dass das Unsicherheitsgefühl durchwegs grundsätzlich niedrig ist. Von einigen
der befragten Personen wurden einzelne Orte als unsicher beschrieben, beispielsweise öffentliche
Plätze oder Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe (vgl. I1: 5, 2: 6, I12: 5, I15: 7).
Ein weiterer Teil der Analyse beinhaltete die Erfahrungen mit Viktimisierung. In diesem
Zusammenhang gab ein Großteil der befragten Personen an, dass sie schon von Diebstahl betroffen
waren. Dabei ging es häufig um Dokumente oder elektronische Geräte, aber auch Schlafutensilien,
Rucksäcke oder Kleidung. Des Weiteren berichteten die meisten Interview-Teilnehmer:innen von
Gewalterfahrungen. Die Analyse zeigt, dass viele Übergriffe innerhalb des Milieus stattfinden, in
einigen Fällen wurde auch von Gewalt gesprochen, die von Sicherheitspersonal oder der Polizei
ausgeübt wurde. Mehrere der befragten Personen erzählten von Übergriffen durch männliche
Jugendliche im öffentlichen Raum (vgl. I12: 1, I15: 1, I4: 5, I11: 2, I1: 6, I12: 5, I10: 5, I9: 6, I1: 5).
5.4 Bewältigungsstrategien von Betroffenen
Die Analyse befasst sich auch damit, wie Betroffene mit Viktimisierung umgehen. Teilweise
wurde der häufige Ortswechsel angesprochen. Es werden beispielsweise bestimmte Parks und
Einrichtungen bewusst gemieden. Das offene Tragen von Schmuck oder Uhren ist aus der Sicht
der Betroffenen unmöglich. Während der Befragungen wurden häufig das subjektive Auftreten und
das Verhalten als mögliche Abwehr von Übergriffen genannt. „Wenn du so gebückt und unterwürfig
da stehst, es etwas anderes ist, als wenn du normal dastehst.“ (I3: 7) Sichtbare Merkmale wie
etwa Schlafutensilien wurden als Auslöser für Aggressionen seitens anderer Personen beschrieben.
Besonders im Umgang mit der Polizei wurden das Auftreten und das Verhalten als wichtige
Komponenten hervorgehoben. Einige der befragten Personen gaben an, dass sie oft den Eindruck
haben, dass ihnen keiner hilft (vgl. I14: 3, I3: 7, I5: 5, I1: 3).
6
Soziale Räume und Aspekte des Sicherheitsgefühls aus der Perspektive
von Betroffenen
Die vorliegenden Daten veranschaulichen, dass von Wohnungslosigkeit betroffene Menschen aus
sozialräumlicher Perspektive in diversen Alltagssituationen erheblichen Druck erfahren (vgl. I14:
4, I9: 1). Dieser Sachverhalt umfasst sowohl physisch-räumliche als auch soziale Aspekte (vgl.
I14: 4, I9: 9, I8: 5). Die räumliche Positionierung (vgl. Alder 2012: 1–5) wird maßgeblich durch die
Wohnungslosigkeit determiniert und öffentliche, halböffentliche und institutionelle Räume müssen
unterschiedliche Bedarfe des Alltags kompensieren. Dieser Umstand gelingt nur unzureichend.
In Bezug auf das Sicherheitsgefühl wurden die Dimensionen, die die persönliche Ebene von
Sicherheit charakterisieren, aus der kriminologischen Forschung herangezogen und mit den
Ergebnissen der Analyse verknüpft (vgl. Singelstein/Kunz 2021: 429–430). Die affektive Dimension
beschreibt das konkrete Sicherheitsgefühl der befragten Personen. Hierbei wird eruiert, wie sich die
Befragten im Freien bei Dunkelheit fühlen. Die Analyse hat ergeben, dass die Nacht unterschiedlich
wahrgenommen wird. In einigen Fällen wurde ihr eine Schutzfunktion zugeschrieben (vgl. I12: 4). Die
kognitive Dimension betrifft die Einschätzung der Wahrscheinlichkeit, Opfer einer Straftat zu werden.
Der Großteil der Befragten dieser Analyse berichtete von wiederholten Viktimisierungserfahrungen,
einschließlich Gewalterfahrungen und Diebstahl. Dies deutet auf ein signifikant erhöhtes Risiko hin,
Opfer einer Straftat zu werden, wenn man von Wohnungslosigkeit betroffen ist (vgl. Singelstein/
Kunz 2021: 429–430).
Die konative Dimension (vgl. Singelstein/Kunz 2021: 458) umfasst das Vermeidungs- und
Schutzverhalten der befragten Personen. Die Analyse hat ergeben, dass Betroffene ihr eigenes
Auftreten und Verhalten als besonders wichtig erachten. Einige der Befragten fühlen sich auf sich
allein gestellt und nehmen gesellschaftliche Sicherheitsinstitutionen wie die Polizei häufig nicht als
schützend wahr. Betroffene haben kaum die Möglichkeit, Kontrollen und Verweisen zu entgehen.
Dies deckt sich mit den Ergebnissen der explorativen Studie von Lukas und Hauprich (2022: 459–
460). Die Bewältigung von Unsicherheit wird durch die räumliche Verwiesenheit erheblich erschwert
(vgl. I12: 1, I15: 1).
Die Analyse zeigt, dass Menschen, die von Wohnungslosigkeit betroffen sind, in Bezug
auf das Sicherheitsgefühl mit anderen Herausforderungen konfrontiert sind als nicht Betroffene
(vgl. Hummelsheim-Droß 2016: 7; BMI 2021; Furian et al. 2012: 48). Des Weiteren steht das
Sicherheitsbedürfnis von mehrheitsgesellschaftlichen Mittelschichtmilieus der Lebensrealität
der Betroffenen diametral entgegen, was sich beispielsweise in regelmäßigen Sicherheits- und
Kontrollmaßnahmen äußert (vgl. I1: 6, I4: 5).
Um das Sicherheitsgefühl von Menschen, die von Wohnungslosigkeit betroffen sind, in seiner
Vielschichtigkeit und Komplexität zu analysieren, wären weitere Erhebungen notwendig. Dieser
Artikel erhebt nicht den Anspruch auf eine umfassende Darstellung der Lebenswelt der Betroffenen
zum Thema Räume und Sicherheit. Es muss festgehalten werden, dass die Stichprobengröße und
-auswahl keine Generalisierbarkeit der Ergebnisse zulässt. Dennoch wird deutlich, dass die Debatte
um Sicherheit im Kontext der Wohnungslosigkeit zu kurz greift. Die gesellschaftliche Abwehr von
abweichendem Verhalten führt zu einer Verstärkung von Exklusion.
7
Conclusio und Bezüge zum Handlungsfeld Soziale Arbeit
Abschließend stellt sich die Frage, was die vorliegenden Ergebnisse für die niederschwellige Soziale
Arbeit bedeuten. Soziale Arbeit ist in unterschiedlichen Räumen und an Schnittstellen tätig (vgl.
Diebäcker/Reutlinger 2018: 21) und befasst sich mit diversen Aspekten der Wohnungslosigkeit.
Niederschwellige Angebote sind oft die ersten Anlaufstellen für Betroffene und bleiben in manchen
Fällen auch die einzigen. Durch das Eindringen in Lebensräume oder das Arbeiten in Einrichtungen
befindet sich die niederschwellige Soziale Arbeit in einer diffizilen Lage, die einer fortlaufenden
Reflexion unterzogen werden muss.
Die Ergebnisse dieser Arbeit verdeutlichen, dass es besonders für die niederschwellige
Soziale Arbeit wichtig ist, die Interessen und Bedürfnisse von Betroffenen zu schützen und zu
berücksichtigen. Innerhalb der Profession können die gewonnenen Erkenntnisse zum Beispiel bei
der Planung und Weiterentwicklung von zukünftigen Angeboten niederschwelliger Sozialer Arbeit
berücksichtigt werden. Des Weiteren können die Einblicke in die Lebensrealität von Betroffenen dazu
dienen, deren Perspektive in gesellschaftliche Diskurse zum Thema Sicherheit einzubringen. Es wird
auch deutlich, dass partizipative Projekte, bei denen Betroffene selbst mitgestalten können, weiter
ausgebaut und entwickelt werden sollten. Für die Soziale Arbeit als Disziplin kann dieser Beitrag als
Anregung für weitere Adressat:innen-Forschung dienen. Als besonders wichtig erscheint in diesem
Zusammenhang eine professionelle Haltung, die primär auf Stabilisierung und Anerkennung und
nicht auf Disziplinierung und Normierung abzielt (vgl. Steckelberg 2016: 449).
Im gesellschaftlichen Diskurs um Sicherheit werden die spezifischen Problemlagen
wohnungsloser Menschen nicht in ihrer sozialräumlichen Komplexität berücksichtigt. Subjektive
Sicherheit ist aber auch für Menschen, die von Wohnungslosigkeit betroffen sind, essenziell. Der
Diskurs über Sicherheit kann deshalb nicht nur in mehrheitsgesellschaftlichen Mittelschichtmilieus
geführt werden, sondern muss Betroffene von Wohnungslosigkeit mit einbeziehen.
Verweise
i Transkripte 1 bis 15, im Text mit dem Kürzel I1 bis I15 angegeben.
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Über den Autor
Benjamin Mohl, BA MA
Hat Publizistik und Kommunikationswissenschaft und Soziale Arbeit studiert und ist derzeit als
Sozialarbeiter im Bereich der niederschwelligen Sozialen Arbeit tätig.