Marc Diebäcker. Editorial Online-Journal soziales_kapital. soziales_kapital, Bd. 28 (2024). Rubrik:
28. Ausgabe 2024
Soziale Arbeit, Staat und Zivilgesellschaft
Editorial Online-Journal soziales_kapital
Marc Diebäcker (Standort: Wien) für die Redaktion
Das Verhältnis von Sozialer Arbeit, Staat und Zivilgesellschaft beschäftigt Theorie und Praxis Sozialer
Arbeit seit Jahrzehnten. In diesem Spannungsfeld werden häufig soziale Fragen, Einsatzfelder und
Aufgaben Sozialer Arbeit im Sozialstaat diskutiert oder auch innovative Konzepte und Angebote
erörtert, um wichtige Unterstützung für Adressat*innen bereitstellen zu können. Dabei werden
oft gesellschaftliche Rollen und Funktionen Sozialer Arbeit thematisiert, die zwar aus fachlicher
Perspektive Sinn machen, aber auch deren Leistungserbringung aufgrund legislativer, finanzieller
oder organisatorischer Rahmenbedingungen erschweren.
Soziale Arbeit selbst wandelt sich mit den gesellschaftlichen Verhältnissen und ist als
personenbezogene, oft staatlich strukturierte Leistung immer im Spannungsfeld zwischen Staat
und Zivilgesellschaft positioniert (vgl. Diebäcker 2014: 22). In einer kapitalistisch und patriarchal
geprägten Gesellschaft wie der österreichischen, die zugleich von einem grundlegenden Wandel
des konservativen Sozialstaatsmodells gekennzeichnet ist (vgl. Griesser 2023: 7), ändern sich die
Intersektionen von ökonomischer und sozialer Ungleichheit stetig. Bedarfe nach Unterstützung, die
Nachfrage nach passenden Angeboten oder die Art und Weise des Zugangs zur Sozialen Arbeit
modifizieren sich. Zugleich transformieren sich öffentliche Diskurse, hegemoniale Ordnungen und
Regierungsweisen in demokratischen Systemen. Mit politisch-administrativen Entscheidungen
manifestieren sich oft staatliche Funktionen und Aufträge Sozialer Arbeit und es zeigt sich,
welche Programme und Formen Sozialer Arbeit gesetzlich legitimiert und finanziert und damit als
gesellschaftlich relevant anerkannt werden – und welche eben nicht.
Angesichts des gesellschaftlichen und politischen Wandels stellt sich für die professionelle
Soziale Arbeit also stets die Herausforderung, eigenständig ihr fachliches Mandat zu bestimmen.
Dass dieses dritte Mandat aufgrund der gesellschaftlichen Einbettung Sozialer Arbeit immer auch
ein politisches und oft auch widersprüchliches ist, gilt im gesellschaftspolitischen Fachdiskurs
inzwischen als weitgehend unbestritten (vgl. z.B. Leiber/Leitner/Schäfer 2023; Reutlinger/
Spiroudis 2023; Dischler/Kulke 2021). Entsprechende Positionierungen, die auf einem kritisch-
reflexiven Selbstverständnis basieren, können nicht einfach vorausgesetzt werden, sondern sie
müssen innerhalb von Profession und Disziplin immer wieder geprüft und weiterentwickelt werden.
Da die Fachdiskurse Sozialer Arbeit selbst in hohem Maße von gesellschaftlich dominanten
Wissensbeständen und etablierten Logiken durchdrungen sind, kann dies vielleicht als ein reflexives
Arbeiten im Paradoxen verstanden werden. Denn es gibt kein gesellschaftliches Außen oder eine
neutrale und unabhängige Position, von der aus die Profession und Disziplin Soziale Arbeit das
‚Richtige‘ einfach festlegen könnte (vgl. Diebäcker/Hammer/Bakic 2009: 6). Vielmehr ist sie stetig
gefordert – ausgehend vom Eingeständnis der eigenen Verstrickung in hegemoniale Strukturen –,
den Blick auf die Lebensverhältnisse und -situationen sowie auf die subjektiven Wirklichkeiten zu
richten, die nicht zum etablierten Kanon Sozialer Arbeit gehören. Gegenwärtig sind beispielsweise
Aktivist*innen und Initiativen aus Social Justice Bewegungen, die u.a. mit ihrer Kritik auf normative
Leerstellen und diskriminierende Praxen Sozialer Arbeit hinweisen, bedeutend, um dringend
notwendige fachliche Weiterentwicklungen zu thematisieren.
Der rege Austausch mit zivilgesellschaftlichen Initiativen, Sozialen Bewegungen und dem
politischen Aktivismus war und ist für Soziale Arbeit von zentraler Bedeutung, was nicht nur
unterschiedliche Fachpublikationen (z.B. Werner 2023; Hofer/Diebäcker 2021; Franke-Meyer/
Kuhlmann 2018; Wagner 2009) hervorheben, sondern auch die entsprechenden Schwerpunkthefte
der Zeitschrift Widersprüche 2021 und 2022. Auf dieser Grundlage kann sich die Soziale
Arbeit mit anderen, marginalisierten Wissensbeständen und Sichtweisen konfrontieren und
auseinandersetzen, um sowohl das fachliche Mandat zu reaktualisieren als auch eine bessere
und diskriminierungssensiblere Praxis verwirklichen zu können. Gerade weil Soziale Arbeit als
professionalisierte Praxis in hohem Maße staatlich finanziert und beauftragt wird, ist sie mit ihrer
personenbezogenen Interventionsweise, ihrer lebensweltnahen Positionierung und ihrer Einbindung
in hegemoniale Strukturen mit Dissonanzen des Alltags und begrenztem Handlungsspielraum
konfrontiert. Diese sind für die Fachkräfte oftmals schwer auszuhalten und zu bewältigen, dürfen
aber auf keinen Fall abgespalten werden, weil eine fachlich-kritische Praxis andernfalls leicht in rein
staatliche Aufgabenerfüllung überführt würde. Stattdessen ist es für Sozialarbeitende bedeutsam,
sich aktiv in die gesellschaftlichen Widersprüche hinein zu bewegen und sich permanent
mit den kritischen Anforderungen ‚der Anderen‘ auseinanderzusetzen. Dies hilft einerseits,
Kolonisierungstendenzen von Lebenswelten durch Soziale Arbeit zu begrenzen, und andererseits,
möglichst adäquate Angebote für Betroffene und Nutzer*innen zu entwickeln.
Die im Schwerpunkt versammelten Beiträge dieser Ausgabe thematisieren
Entwicklungspotentiale und Wirkweisen von Sozialer Arbeit an den Übergängen zwischen Staat und
Zivilgesellschaft. ClaraBauerbefasstsichanhanddesgemeinwesenorientiertenPräventionsprojekts
StoP – Stadtteile ohne Partnergewalt mit der Kooperation zwischen Sozialer Arbeit und Polizei.
Vor dem Hintergrund niederschwelliger Polizeiansätze des Community Policings und einem
gesellschaftlichen Präventionstrend betont die Autorin die Bedeutung einer machtkritisch-reflexiven
Sozialen Arbeit und plädiert mit Blick auf das Konzept der Transformative Justice und das fachliche
Mandat Sozialer Arbeit für die Beachtung einer abolitionistischen Perspektive. Peter Peinhaupts
Beitrag nimmt eben jene Ansätze von Transformative Justice und Community Accountability auf
und untersucht, inwiefern diese im Feld des Gewaltschutzes eine Alternative zu Strafjustiz-Logiken
sein können. Bezugnehmend auf aktuelle feministische Debatten erörtert er die Grenzen und
Widersprüche dieser Konzepte und diskutiert das spannungsvolle Verhältnis zwischen „strafendem
Staat“ und „sorgenden Gemeinschaften“.
Christina Engel-Unterberger fokussiert in ihren Ausführungen auf die politische Dimension
Sozialer Arbeit und legt dar, wie diese im Studium gestärkt werden kann. Sie stellt das Konzept der
Lehrveranstaltung„Politikwerkstatt“vor,dieanderFHSt.Pöltengeplantistundinderdietheoretisch-
reflexive Auseinandersetzung von Studierenden mit ihrem politischen Selbstverständnis und einer
politischen Praxis Sozialer Arbeit gefördert werden soll. Das politische Mandat Sozialer Arbeit steht
auch im Zentrum des Beitrags von Aurelia Sagmeister, die das berufliche Selbstverständnis von
Sozialarbeitenden unterschiedlicher Generationen in Österreich untersucht. Dabei wird Fragen
danach nachgegangen, inwieweit sich das politische Selbstverständnis über die letzten Jahrzehnte
veränderte und welche Rollen in Politik und Gesellschaft von Sozialarbeitenden nicht/gewünscht
werden. Andreas Bengesser, Andrea Fritsche, Hemma Mayrhofer und Christoph Stoik beleuchten in
ihrem Beitrag die Wirkungen von Gemeinwesenarbeit bei der Sicherheitsproduktion im öffentlichen
Raum. Ausgehend von ihren Forschungsergebnissen diskutieren die Autor*innen die Möglichkeiten
und Grenzen, soziale Räume zu gestalten, und stellen aus disziplinärer Perspektive ihre Reflexionen
zur Wirkungs- und Selbstevaluation von Gemeinwesenarbeit zur Verfügung.
Die Beiträge, die in den anderen Rubriken dieser Ausgabe versammelt sind, bieten ebenfalls
weiterführende Impulse zur fachlichen Auseinandersetzung mit dem Schwerpunktthema, indem
sie sich mit sozialer Ungleichheit, Partizipation und Nutzer*innenorientierung oder sozialstaatlichen
Funktionen Sozialer Arbeit beschäftigen. In der Rubrik „Sozialarbeitswissenschaft“ stellen
Patricia Renner und Barbara Stefan Ergebnisse des Forschungsprojekts „Digital Spaces“ vor
und widmen sich dem aktuellen Thema sozio-digitale Ungleichheiten. Maria Anastasiadis und
Lisa-Maria Lembacher geben Einblicke in Resultate einer explorativen Studie zu steirischen
arbeitsmarktintegrativen Unternehmen und diskutieren Krisen-bedingte Herausforderungen,
aber auch deren Innovationspotenzial für die österreichische Arbeitsmarktpolitik. Das politisch-
partizipativeTheaterprojektWohnenfürALLEstehtimZentrumdesBeitragsvonMichaelWrentschur,
bei dem die Beteiligung von Menschen mit Erfahrungen in prekären Wohn- und Lebensverhältnissen,
die Vernetzung mit fachlichen und zivilgesellschaftlichen Akteur*innen sowie ein partizipativer
Forschungsansatz wesentlich dazu beigetragen haben, politische Lösungsvorschläge für
Wohnprobleme in Steiermark zu entwickeln.
In der Rubrik „Junge Wissenschaft“ widmet sich Michael Stromenger der Frage, wie die
Therapieadhärenz von HIV-positiven Klient*innen im Kontext der Klinischen Sozialen Arbeit gefördert
werden kann. Benjamin Mohl beschäftigt sich mit der hohen Bedeutung des öffentlichen Raums
für das Sicherheitsgefühl von Menschen in Situationen der Wohnungslosigkeit. Er weist darauf hin,
dass der Alltag der Betroffenen durch zahlreiche Viktimisierungserfahrungen geprägt ist und enorme
Bewältigungskompetenzen von ihnen erfordert. Elisabeth Lehmer unterstreicht auf der Grundlage
ihrer Forschung die enorme Bedeutung von Zugehörigkeitsansätzen für die sozialarbeiterische
Beratung von jungen Frauen und Mädchen, die von Zwangsheirat bedroht und/oder betroffen sind.
In der Rubrik „Werkstatt“ argumentiert Thomas Dierker anhand des Projekts „Digitaler Routenplan“
für die Potenziale von Service Design für die Nutzer*innenbeteiligung, um über die Ermittlung der
Bedürfnisse von Nutzer*innen Dienstleistungen und Angebote Sozialer Arbeit weiterzuentwickeln.
Christian Reutlinger und Katharina Röggla schließen mit ihrem Beitrag zur Entwicklung der Wiener
Parkbetreuung Band 28 von soziales_kapital ab und betonen die Wichtigkeit des Spiels bei der
Arbeit mit Kindern und Jugendlichen sowie einer lebensweltorientierten Perspektive, die sich eben
nicht an deren Problemen und Defiziten orientiert.
Literaturverzeichnis
Diebäcker, Marc (2014): Soziale Arbeit als staatliche Praxis im städtischen Raum. Wiesbaden:
Springer VS.
Diebäcker, Marc/Hammer Elisabeth/Bakic, Josef (2009): Kritische Soziale Arbeit. Editorial. In:
Kurswechsel, 3/2009, S. 3–10.
Dischler, Andrea/Kulke, Dieter (Hg.) (2021): Politische Praxis und Soziale Arbeit. Leverkusen/
Opladen: Verlag Barbara Budrich.
Franke-Meyer, Diana/Kuhlmann, Carola (Hg.) (2018): Soziale Bewegungen und Soziale Arbeit. Von
der Kindergartenbewegung zur Homosexuellenbewegung. Wiesbaden: Springer VS.
Griesser, Markus (2023): Sozialstaat Österreich: Kontinuität und Wandel in Zeiten von Krisen.
Editorial. In: Kurswechsel, 2/2023, S. 3–10.
Hofer, Manuela/Diebäcker, Marc (2021): Social Justice Bewegungen und Soziale Arbeit – eine
schwierige Beziehung. In: Widersprüche, 161, S. 26–38.
Leiber, Simone/Leitner Sigrid/Schäfer, Stefan (Hg.) (2023): Politische Einmischung in der Sozialen
Arbeit. Analyse und Handlungsansätze. Stuttgart: Kohlhammer.
Reutlinger, Christian/Spiroudis, Eleni (Hg.) (2023): Soziale Arbeit ist politisch. Biographische,
empirische und theoretische Reflexionen mit und über Annegret Wigger. Berlin: Frank & Timme.
Wagner, Leonie (Hg.) (2009): Soziale Arbeit und Soziale Bewegungen. Wiesbaden: VS.
Werner, Melanie (2023): Klassische Theorien Sozialer Arbeit und soziale Bewegungen. Eine
wissenssoziologische Verhältnisbestimmung anhand der Begriffsverwendung von „Volk“ und
„Nation“. Opladen/Berlin/Toronto: Budrich Academic Press.