Anna Fischlmayr. Soziale Arbeit und Konflikte im Wohnumfeld. Konfliktdimensionen mit dem
KonDiWo-Modell erfassen, verknüpfen und bearbeiten. soziales_kapital, Bd. 29 (2024). Rubrik:
29. Ausgabe 2024
Klimagerechtigkeit und Soziale Arbeit in Österreich
Soziale Arbeit und Konflikte im Wohnumfeld
Konfliktdimensionen mit dem KonDiWo-Modell erfassen,
verknüpfen und bearbeiten
Anna Fischlmayr
Zusammenfassung
DieserArtikelstelltdasKonDiWo-Modell(KonfliktdimensionenimWohnumfeld)vor,mitdemKonflikte
im Wohnumfeld in ihrer situativen, individuell/biographischen sowie sozialräumlichen Dimension
erfasst werden können, aus denen sich wiederum konkrete Reflexions- und Handlungsebenen
ableiten lassen. Im Sinne einer konfliktorientierten Sozialen Arbeit werden Nachbarschaftskonflikte
nicht nur als Zeichen divergierender Interessen, sondern auch als Ausdruck verschiedener sozialer
Lagen, gesellschaftlicher (Ungleichheits-)Verhältnisse und struktureller Bedingungen verstanden.
Das Erkennen gemeinsamer Betroffenheiten birgt für die beteiligten Parteien das emanzipatorische
Potential, solidarisch zu handeln. Soziale Arbeit ist gefordert, den eigenen professionellen Zugang
als im Konfliktgeschehen wirksam zu reflektieren und Spannungsfelder zu beachten, die sich
aus organisationellen Aufträgen, fachlich-ethischen Zielsetzungen und vielfältigen Interessen im
Gemeinwesen ergeben.
Schlagworte: konfliktorientierte Soziale Arbeit, Gemeinwesenarbeit, sozialraumorientierte Soziale
Arbeit, Wohnen, Nachbarschaft
Abstract
This article introduces the model “KonDiWo” (Konfliktdimensionen im Wohnumfeld, translated into
English: aspects of conflict in the sphere of housing) which provides a framework for the analysis
and description of conflicts within the context of housing. The model identifies three distinct
dimensions: situative, individual/biographical and social spatial. Furthermore, it establishes a
correlation between these dimensions and the various levels of reflection and intervention that are
relevant to social work. A conflict-oriented profession of social work understands conflicts not only
as indications of divergent interests between neighbours, but also as manifestations of personal
social and economic circumstances, structural (housing) conditions and societal inequalities. The
identification of shared impact has the potential to facilitate solidarity among the parties involved
in the conflict. Social work must be mindful of its own involvement in societal conflicts and must
navigate the ambivalences that arise from its professional-ethical approach in conjunction with
organisational directives and the diverse interests present within communities.
Keywords: conflict-oriented social work, community organizing, social-spatial social work, housing,
neighborhood conflicts
1
Einleitung
Die Wohnung ist wie die zweite Haut. Sie dient dem Rückzug, der Regeneration, der Pflege sozialer
Beziehungen, dem Schutz. Sie ist Ort von Reproduktions- und auch Erwerbsarbeit sowie Ort des
persönlichen Ausdrucks, der eigenen Sinn-Konstruktion und Identifikation. Sie grenzt aber auch an
Nachbarwohnungen und somit deren persönlichen Ausdruck von Individualität und Alltag an. Andere
Wohnweisen können wir als vertraut oder als irritierend, gar störend wahrnehmen. Das Einordnen
und der Umgang mit ‚Störungen‘ hängt dabei nicht nur von persönlichen Konflikterfahrungen,
der aktuellen (z.B. gesundheitlichen) Verfasstheit und damit dem Grad des Leidensdrucks ab,
sondern auch von hegemonialen Diskursen, die auf die eigenen Deutungsprozesse wirken und
diese reproduzieren (vgl. Labek 2024). Nicht zuletzt beeinflussen strukturelle Bedingungen (z.B.
Größe und Nutzungsdichte von Wohnung und Wohnhausanlage), ob und wie stark Wohnende
nachbarschaftlichen Einflüssen ausgesetzt sind bzw. sich diesen entziehen können.
Das Zusammenspiel der hier bereits umrissenen Konfliktdimensionen soll im vorliegenden
Artikel unter Einbeziehung ausgewählter Literatur beleuchtet und Interventionsformen für
eine sozialraumorientierte Soziale Arbeit sollen abgeleitet werden. Kernstück dieses Artikels
ist das KonDiWo-Modell zur Analyse und Bearbeitung unterschiedlicher Konfliktdimensionen
im Wohnumfeld, das ich auf Basis meiner langjährigen Erfahrung in der Gemeinwesen- und
Konfliktarbeit im kommunalen Wohnbau in Wien entwickelt habe. Im Folgenden werde ich zunächst
eine konfliktorientierte Perspektive auf und von Sozialer Arbeit vorstellen, diese in wohnpolitische
(Zugangs-)Logiken des kommunalen Wohnbaus in Wien einbetten und unterschiedliche
sozialarbeiterische Aufträge in diesem Kontext umreißen, bevor ich das KonDiWo-Modell genauer
beschreibe und abschließend reflektiere.
2
Soziale Arbeit und Konflikte
Soziale Arbeit hat grundsätzlich mit Konflikten zu tun: Sie sind in ihrem Auftrag (Hilfe und Kontrolle,
auch im Tripelmandat) begründet und setzen sich im Umgang mit knappen Ressourcen und
ungleich-machenden Verhältnissen sowie deren Individualisierung fort. Konflikte sind in Form
von Ambivalenzen, Widersprüchen und biographischen Brüchen auch in den Lebenswelten
der Adressat*innen angelegt. Diese haben das Potential, zu realen Konflikten, z.B. in der Form
(vermeintlich) widerstreitender Interessen im Wohnumfeld, zu werden (vgl. Bitzan/Herrmann 2018:
43ff.).
Eine konfliktorientierte Soziale Arbeit (vgl. Bitzan/Klöck 1993) betrachtet Konflikte, die sich
beispielsweise im Gemeinwesen in Form von nachbarschaftlichen Konflikten manifestieren, als
Ausdruck von aus- bzw. begrenzenden, diskriminierenden oder belastenden Verhältnissen, „seien
es interpersonale Strukturen oder gesellschaftliche Bedingungen“ (Bitzan/Herrmann 2018: 46).
Diese Perspektive ist anschlussfähig an eine Idee des Sozialen Raums als ein Zusammenwirken von
gesellschaftlichen, sozialen und physisch-materiellen Wechselbeziehungen. Das Gegenständliche
von Raum wird also sozial produziert und wirkt auf das Handeln im und das Denken über Raum
zurück. In der Produktion von Raum bilden sich gesellschaftliche und damit auch Macht- und
Herrschaftsverhältnisse ab (vgl. Kessl/Reutlinger 2022).
Eine konfliktorientierte Soziale Arbeit sieht das Suchen und Benennen von Konfliktursachen
mit Adressat*innen als Chance, bestehende Machtverhältnisse zu verändern. Werden strukturelle
KontexteaußerAchtgelassen,läuftdieSozialeArbeitGefahr,zuverkürztenInterpretationenzugelangen
und oberflächliche Lösungen anzubieten (vgl. Bitzan/Herrmann 2018: 44). Diese Zugänge finden sich
auch in einer emanzipativen Ausrichtung von Gemeinwesenarbeit wieder, deren Ausgangspunkt
ebenfalls häufig soziale Konflikte darstellen. Die „Gemeinwesenarbeit als Arbeitsprinzip“ (Boulet/
Krauss/Oelschlägel 1980) soll Probleme im Stadtteil in ihren sozialökologischen Kontexten und
mit Hilfe einer Kollektivierung von Interessen und der Ermächtigung von Bewohner*innen eines
Stadtteils bearbeiten.
3
ZugängeundwohnpolitischeZusammenhängeimkommunalenWohnbau
in Wien
Konflikte zeigen sich in spezifischen Kontexten und Situationen. Soziale Arbeit ist immer Teil davon,
wie sie auch Teil von Macht- und Herrschaftsverhältnissen ist, die sich sozialräumlich manifestieren.
Obwohl sich das Modell zu Konfliktdimensionen im Wohnumfeld in andere Kontexte übertragen
lässt, soll hier beispielhaft ihr Entstehungskontext im kommunalen Wohnbau in Wien reflektiert
werden.
Wohnen im Allgemeinen und der kommunale Wohnbau im Speziellen sind
gesellschaftspolitisch umkämpft. Da Konflikte im Wohnumfeld auch Ausdruck gesellschaftlicher
Auseinandersetzung sind, müssen Rahmenbedingungen wie Zugang und Ausschluss, Leistbarkeit
sowie gesellschaftspolitische Diskurse bei deren Einordnung und Bearbeitung Beachtung finden.
Die Stadt Wien hat weltweit aufgrund des Ausmaßes und der Qualität von über 2.000 stadteigenen
Wohnhausanlagen, sogenannten Gemeindebauten, ein Alleinstellungsmerkmal. Städtische
Wohnhausanlagen stellen gemeinsam mit dem geförderten Wohnbau ein wohn- und daher
sozialpolitisches Steuerungsinstrument dar, um leistbaren Wohnraum herzustellen und so Mieten
am privaten Wohnungsmarkt zu drücken. In den letzten zehn Jahren kam es jedoch zu erheblichen
Teuerungen beim Wohnen in allen Segmenten, u.a. als Folge von Inflation, gestiegenen Baukosten,
knapper werdendem Baugrund in einer wachsenden Stadt und der zunehmenden Spekulation mit
Wohnungen als Wertanlagen auf einem globalen Wohnungsmarkt (vgl. Reinprecht 2019: 25ff.).
Die Frage der Verfügbarkeit von und Zugänglichkeit zu (leistbarem) Wohnraum ist eine
politische. Erst seit 2006 gewährt die Stadt Wien Personen ohne österreichischem Pass Zugang
zum kommunalen Wohnbau. Neben dem Aufenthaltstitel ist eine zweijährige Hauptsitzmeldung in
Wien eine Zugangsvoraussetzung. Ein Bonussystem („Wien-Bonus“) sorgt für eine Vorreihung von
Personen, die bereits länger in Wien leben. Bevorzugt werden zudem Personen unter 30 Jahren, die
ihren ersten Haushalt gründen, sowie Personen, die krankheits- oder altersbedingt, aufgrund eines
Überbelags oder als Alleinerzieher*in mit Kind(ern) in den kommunalen Wohnbau ziehen (vgl. ebd.:
30).
ÜberdasAngebotder„SozialenSchiene“könnenPersoneninNotsituationenüberzuweisende
soziale Einrichtungen zu einer Notfallwohnung gelangen, die teilweise unsaniert und daher günstiger
mietbar ist. Da am privaten Wohnungsmarkt drei von vier Wohnungen befristet vermietet werden
und rassistische Praktiken bei der Wohnungsvergabe bestehen, findet eine Verschiebung von
Personen mit geringem Einkommen und aus dem migrantischen Arbeiter*innenmilieu vom privaten
hin zum kommunalen Sektor statt. Der Anteil von armutsgefährdeten Haushalten im kommunalen
Sektor ist laut EU-SILC mit 34% beinahe doppelt so hoch wie im Wiener Durchschnitt von 19%
(vgl. Reinprecht 2019: 30). Gegenwärtige Entwicklungen zeigen eine Ethnisierung der sozialen
Frage, die von „soziale[n] und symbolische[n] Grenzen“ (ebd.) wie Meldezeiten und dem Wien-
Bonus abgeleitet werden könnten: Besonders für Personengruppen, die von einer gewählten oder
erzwungenen Mobilität und dadurch einem häufigen Wohnortwechsel betroffen sind, stellen die
Wiener Zugangskriterien eine Barriere dar.
Darüber hinaus wirken normativ besetzte Konzepte wie jenes der „sozialen Durchmischung“
(siehe dazu kritisch: Diebäcker 2021: 233ff.) auf Konflikte und deren Deutungen im Wohnumfeld.
Während diffus bleibt, welche Ungleichheitsfaktoren „durchmischt“ werden (sollen), vermittelt das
Konzept,dasseinhoherAnteilanBewohner*innenmitgewissenMerkmalennichtwünschenswertsei.
Bewohner*innenwieProfessionist*innensindmitdemantheoretischerFundierungentbehrendenZiel
zurückgelassen, sich um ein „gutes Zusammenleben“ zu bemühen und „Nachbarschaftsempathie,
Ambiguitätstoleranz und Diversitätskompetenz“ (Reinprecht 2019: 32) zu zeigen bzw. zu fördern.
Insgesamt sind nachbarschaftliche Konflikte wie auch Interventionen Sozialer Arbeit im Wohnkontext
vor dem Hintergrund von Ungleichheitsentwicklungen am Wohnungsmarkt, der politischen
Entscheidung hinsichtlich der Zugänge zum und Ausschlüssen vom kommunalen Wohnbau und
der „Moralisierung der Wohnungsfrage“ (ebd.) zu reflektieren.
4
Soziale Arbeit im kommunalen Wohnbau
Im Falle des kommunalen Wohnbaus in Wien richtet sich wohnpartner als Teilorganisation der
Wohnservice Wien mit kostenlosen Angeboten der Gemeinwesenarbeit, Konfliktarbeit und
Vernetzung an Bewohner*innen. Neben wohnpartner, welche als städtisch beauftragte und
finanzierte Organisation allparteilich und zielgruppenübergreifend handelt, sind zahlreiche weitere
Einrichtungen Sozialer Arbeit mit unterschiedlichen, i.d.R. parteilichen, Aufträgen für bestimmte
Adressat*innengruppen in deren Wohnumfeld tätig. Diese umfassen u.a. sozialpädagogische
Hilfen für Familien im Rahmen der behördlichen Kinder- und Jugendhilfe, sozialpsychiatrische,
nachgehende Versorgung von Patient*innen, mobile Unterstützung ehemals stationär betreuter,
wohnungsloser oder von häuslicher Gewalt betroffener Personen und Familien. Abseits dieser
Interventionen, die oft über Hausbesuche direkt in der Privatheit der Wohnung von Adressat*innen
vollzogen werden, finden auch niederschwellige Angebote der offenen Kinder- und Jugendarbeit und
der gemeinwesenorientierten Sozialen Arbeit im Wohnumfeld der Adressat*innen in teilöffentlichen
Innenhöfen oder auch im öffentlichen, wohnortnahen Raum statt.
Welche Rolle, Position und Form der Parteilichkeit Soziale Arbeit bei Konflikten einnimmt,
hängt u.a. von deren Aufträgen und dem (freiwilligen bzw. verbindlichen) Angebot ab. Daneben ist
die wohnrechtliche Absicherung der Adressat*innen und die damit einhergehende Verteilung von
Macht bzw. Abhängigkeiten zwischen Sozialer Arbeit, Adressat*innen und anderen Konfliktparteien
bedeutsam für die Positionierungs- und Handlungsoptionen der Beteiligten. Selbstkritisch ist für
die Soziale Arbeit mitzubedenken, dass das Arbeiten im Wohnumfeld immer einen „Grenzgang
im Spannungsfeld öffentlich-wohlfahrtsstaatlicher Tätigkeiten innerhalb des als privat markierten
Wohnkontextes“ (Meuth 2017: 5) darstellt und dass neben unterschiedlichen Vorstellungen von der
richtigen Lebensführung auch verschiedene Konfliktwahrnehmungen und -bearbeitungsstrategien
aufeinandertreffen.
5
Das KonDiWo-Modell: Konfliktdimensionen im Wohnumfeld
Das vorliegende Modell umfasst drei übergeordnete Dimensionen (situativ, individuell/biographisch
undsozialräumlich),dieallewirksamsindundsichwechselseitigbeeinflussen,wennBewohner*innen
miteinander in Konflikt stehen. Die Ebenen, in die die Dimensionen unterteilt sind – im Modell als
Blasen abgebildet – eröffnen zugleich Reflexions- und auch Handlungspotentiale für Konfliktparteien
wie auch Professionist*innen.
Individuelle, biographische
Dimension
Situative Dimension
Psychosoziale, gesundheitliche Ebene
psychische und physische Gesundheit,
emotionale Bezüge, häusliche Gewalt
Beziehungsebene
zwischenmenschliche Bezüge, Ereignisse u.
Emotionen (z.B. Kränkungen)
Lebenslage
ökonomische Absicherung, soziale Lage,
Betreuungspflichten, Überbelag…
Sachebene
Ereignisse und Rahmen des Konflikts
Konfliktdimensionen
im Wohnumfeld
Deutungsebene
unbewusste Zuschreibungen
Professioneller Zugang
Auftrag, fachl. Ausrichtung,
eigene Konfliktmuster
Strukturelle Ebene
Größe der Wohnung(en), Dichte der
Wohnhausanlage, Freiflächen, Umfeld der
Wohnhausanlage und Angebote
(Ressourcen und Zugang)
Gesellschaftliche Ebene
soziale Spannungsfelder,
öffentlichkeitswirksame Diskurse
(Medien, Politik), Rassismen,
Sexismen, Generationenkonflikte,
globale Krisen
Sozialräumliche Dimension
Normative Ebene
Nachbarschaftliche Ebene
gesetzliche Regelungen (Mietvertrag,
Kündigungsgründe), formelle
(z.B. Hausordnung), informelle Regeln d.
Zusammenlebens
nachbarschaftliche Geschichte,
divergierende sozialräuml. Interessen,
Machtasymmetrien, Multiplikator*innen
Abb. 1: KonDiWo-Modell der Konfliktdimensionen im Wohnumfeld
(eigene Darstellung).
Die Motivation für die Entwicklung und Veröffentlichung des Modells ist die in der Praxis der Sozialen
Arbeit häufig beobachtete Beschränkung der Konfliktanalyse und -bearbeitung auf die situative
Dimension. Bei lebensweltlich ausgerichteten Zugängen finden zusätzlich auch individuelle bzw.
biographische Aspekte Beachtung. Oft unbeachtet bleibt indes die sozialräumliche Dimension,
die hier im weitesten Sinne verstanden wird als in Nachbarschaften, Wohnstrukturen und -normen
sich verräumlichende gesellschaftliche (Ungleichheits-)Verhältnisse. Eine konfliktorientierte Soziale
Arbeit fordert uns auf, neben der Würdigung des individuellen Erlebens und zwischenmenschlicher
Bezüge sowie biographischer Einflussgrößen auch deren strukturelle und gesellschaftlich-diskursive
Ursachen zu ergründen und Veränderungspotentiale wahrzunehmen.
Unter Zuhilfenahme des Modells können in einer systematischen Konfliktanalyse alle
Dimensionen mit beteiligten Akteur*innen reflektiert und auf wirkmächtige Einflussgrößen und
Änderungspotentiale hin untersucht werden. Soziale Arbeit ist dabei nie unbeteiligt, sondern
unterliegt professionsethischen wie auch organisationellen Aufträgen und ist gefordert, sich situativ
in Konflikten zu verhalten. Im Sinne der Einflussdimension „Professioneller Zugang“ (siehe Abb. 1) gilt
es daher, neben eigenen biographisch geprägten Handlungsmustern auch organisationsimmanente
KonfliktzugängesowieBilderüberSpannungsfeldergegenüberihrenAdressat*innenzudechiffrieren,
um ihnen nicht aufzusitzen.
Die folgenden Unterkapitel beschreiben je eine Dimension mit ihren dazugehörigen
Ebenen und möglichen methodischen Zugängen, auf die kursiv verwiesen wird. Für kritische
Betrachtungsweisen und theoretische Fundierungen stütze ich mich auf Literatur.
5.1 Konflikte in ihrer situativen Dimension
Ausgangspunkt von (nachbarschaftlichen) Konflikten ist zunächst eine Situation oder ein Ereignis,
das die beteiligten Personen emotional erfasst, z.B. kränkt, irritiert, wütend macht. Mitgrund
für die emotionalen Reaktionen auf ein als störend wahrgenommenes Ereignis ist die räumliche
Nähe zur eigenen Wohnung, die als familiärer Ort der Intimität, des Rückzugs und der Privatheit
gilt. Der Wohnkontext befindet sich hier im Spannungsfeld zwischen öffentlich und privat, intim
und vertraglich geregelt. Nachbarschaftskonflikte können daher familiale Konfliktmuster mit
hoher Emotionalität aufweisen (vgl. Böhnisch 2015: 157). Während die gerichtliche Bearbeitung
eines Konfliktfalles auf vertraglich und gesetzlich geregelte Aspekte eines nachbarschaftlichen
Wohnverhältnisses fokussiert, kann eine außergerichtliche Konfliktregelung neben der Sachebene
auch auf die von Deutungsprozessen und Emotionen geprägte Beziehungsebene eingehen. Sie alle
zusammen beschreiben die situative Dimension.
5.1.1 Sachebene
Auf Sachebene kann ein Ereignis methodisch mit W-Fragen (Was, Wann, Wer, Wann, Wo, Wie?) im
Dialog zwischen Professionist*in und den Konfliktbeteiligten erfasst werden. Oft stellt sich dabei
heraus, dass das situativ Gesagte bzw. durch Gesten und Handlungen Vermittelte zwischen den
Beteiligten unterschiedlich wahrgenommen wird. Die Wahrnehmungen des Geschehenen stehen
mit unbewussten Deutungsprozessen in Verbindung, die von biographischen Erfahrungen und
aktuellen Lebensumständen (siehe individuelle Dimension), dem eigenen Weltbild, aber auch von
vorherrschenden, gesellschaftlichen Diskursen geprägt sind (siehe sozialräumliche Dimension).
5.1.2 Deutungsebene
Auf Deutungsebene werden Verhaltensweisen entlang der Kategorien Norm und Abweichung
eingeordnet, die hegemonial umkämpften Deutungshoheiten unterliegen (vgl. Labek 2024:
16). Zudem werden nachbarschaftliche Ereignisse und Handlungen – und damit handelnde
Personen(gruppen) – einer subjektiven Zuordnung von vertraut und fremd unterzogen, die von
bestehenden Beziehungen zwischen Konfliktparteien ausgehen bzw. diese beeinflussen.
Räumliche Nähe bedeutet trotz idealisierter Bilder und Vergleichen von Nachbarschaften mit
Dorfgemeinschaften noch keine spezifische soziale Nähe (vgl. Böhnisch 2015: 156), besonders
wenn die physische Nähe eine erzwungene ist. Während Angehörige der Mittel- oder Oberschicht
ihren Wohnort auch unter dem Gesichtspunkt „habitueller Milieuzugehörigkeiten“ (ebd.: 160) in der
Regel selbst auswählen (können), ist eine konkrete Bestimmung von Wohnung, Wohnhausanlage
oder teils auch Wohnbezirk im kommunalen Wohnbau nur begrenzt möglich, abhängig von der
Verfügbarkeit von Wohnungen und dem zeitlichen Druck, unter dem Antragsteller*innen stehen.
Für die Bearbeitung einer konflikthaften Situation ist es nun nicht nur notwendig, auf die Sachebene,
die jeweiligen Deutungsprozesse und die von diskursiven Zuschreibungen geprägten Beziehungen,
sondern auch auf möglicherweise hinter den Konflikten stehende Anliegen zu achten. Bedürfnisse
hinter einem Lärmkonflikt könnten beispielsweise Einsamkeit, eine psychosoziale Belastung
oder ein Generationenkonflikt sein. Diese sind jedoch im Sinne eines hegemonialen Diskurses
im nachbarschaftlichen Kontext schwerer bemerk- bzw. artikulierbar als zum Beispiel störender
Lärm (vgl. Labek 2024: 69). Methodisch gilt es entsprechend, emotionalen Reaktionen sowie
Deutungsprozessen Raum zu geben. Gelingt ein Beziehungsaufbau zu den beteiligten Parteien,
ist eine wichtige Voraussetzung geschaffen, um mit diesen die je vorgebrachten Beschwerden zu
entschlüsseln und verdeckte Themen und Bedürfnisse freizulegen.
5.1.3 Beziehungsebene
Um die Reflexion und Artikulation eigener Bedürfnisse zu unterstützen, bedienen sich u.a. mediative
Verfahren dem Handlungskonzept der Gewaltfreien Kommunikation nach Marshall B. Rosenberg
(2016). Die Konfliktparteien werden hier allparteilich dabei begleitet, ihr situativ Beobachtetes
bzw. Erlebtes, ihre Bedürfnisse und Wünsche zu formulieren. Das Konzept zielt auf die Klärung
von jeweiligen Erwartungen und Wünschen auf Beziehungsebene ab. Bei der bedürfnisbasierten
Konfliktaushandlung besteht m.E. jedoch die Gefahr, unhinterfragt dem Diktat der vordergründigen
Bedürfnisse(z.B.nachRuhe)unddamiteinemindividuellen„ManagementderBedürfnisbefriedigung“
(Fraser 1994: 240) zu folgen. Demgegenüber steht ein ermächtigender, herrschaftskritischer
Zugang einer „Politik der Bedürfnisinterpretation“ (ebd.), bei dem die tatsächlich erfahrenen
Mängel als Folge sozialer Ungleichheiten Ausdruck finden. Dies spricht für eine verschränkte
Betrachtung von individuellen Konfliktdimensionen und sozialräumlichen Kontexten. Denn würde
ein Klärungsversuch eines Lärmkonflikts auf die Herstellung der gewünschten Ruhe reduziert
bleiben und würden sich „Lösungen“ ausschließlich auf Lärmvermeidung fokussieren, könnten
dahinterliegende Konfliktursachen missachtet und sogar disziplinierende Maßnahmen gegenüber
(vermeintlich) störendem Verhalten angestoßen werden (vgl. Fischlmayr 2020: 152).
5.2 Die sozialräumliche Dimension von Konflikten
Die sozialräumliche Dimension von Konflikten umfasst eine gesellschaftliche Ebene, deren Diskurse
und (Ungleichheits-)Verhältnisse sich in nachbarschaftlichen Kontexten, in formell-wohnrechtlichen
und informell-tradierten Normen sowie in strukturellen Bedingungen des Wohnens verräumlichen.
5.2.1 Gesellschaftliche Ebene
Gesellschaftliche Diskurse prägen unsere Wahrnehmung von Konflikten und deren Einordnung.
Dazu gehören Rassismen, Sexismen, Agism und Generationenkonflikte sowie (populistische)
Reaktionen auf aktuelle Krisen (Klimakrise, Wirtschaftskrise, „Flüchtlingskrise“). So hat mich eine
Bewohnerin, um ihren Zuschreibungen gegenüber Nachbar*innen Nachdruck zu verleihen, gefragt:
„Lesen Sie denn nicht die Zeitung?“ Die Rede über eine Bewohner*innenstruktur, die hinsichtlich
ihrer Differenzmerkmale divers ist, ist geprägt von widersprüchlichen gesellschaftlichen wie auch
städtischenDiskursen:UrbaneTransformationen,MigrationsbewegungenundeinewachsendeStadt
Wien treffen diskursiv auf knapper und teurer werdenden Wohnraum und eine rechtspopulistische,
rassistischeöffentlicheAuseinandersetzungüberFluchtundMigrationinÖsterreich. Auchdiebereits
erwähnte wohnpolitische Idee einer „sozialen Durchmischung“ in städtischen Wohnhausanlagen
wie auch der Wien-Bonus könnte eine rassistisch gefärbte „Wir zuerst“-Denkweise im Wohnkontext
befördern. So findet eine (Re-)Produktion gesellschaftlicher Über- und Unterordnungsverhältnisse
statt, die „im alltäglichen Tun der Beteiligten“ (Kessl/Reutlinger 2022: 42) fortgeschrieben wird.
Es bedarf also einer Reflexion eigener Zuschreibungen und Normbilder, um Abwertungen des*/
der* Anderen (Othering) zu erkennen und deren Wirkung auf eigene Interessen in Konflikten zu
entschlüsseln.
DiegesellschaftlicheEbenemussdemnachinderKonfliktanalyseund-bearbeitungBeachtung
finden. Voraussetzung für Professionist*innen ist die innerorganisationelle sowie eigene Fortbildung
und Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Spannungsfeldern, die sich im Wohnumfeld
manifestieren, und die Entwicklung einer Haltung gegenüber diskriminierenden Rhetoriken und
Praktiken. Im Sinne politischer Bildungsarbeit gilt es, im Gemeinwesen durch Vorträge Fakten und
Wissen zu transportieren und zu Diskussionen anzuregen. Kunst- und Kulturprojekte könnten auf
kreativ-humoristische Weise zur kritischen Auseinandersetzung mit tabuisierten Themen beitragen.
Dabeiistzureflektieren,dassBilderüberdenkommunalenWohnbauodergewisseWohnhausanlagen
selbst hegemonialen Diskursen unterliegen, stigmatisierend wirken und sich in sozialräumlichen
Konflikten fortschreiben können. Dem Verständnis einer emanzipatorischen Gemeinwesenarbeit
folgend sind Gruppen darin zu bestärken, ihre Perspektiven öffentlich zu machen und Korrektive zu
medial reproduzierten Bildern über „das Leben im Gemeindebau“ herzustellen.
Die Arbeit in und mit der Öffentlichkeit ist Anspruch der Gemeinwesenarbeit, um
unterschiedliche Interessen sichtbar zu machen und ihre Durchsetzung zu unterstützen. Es kann
zwischen Methoden der Interessenserkundung und -klärung (siehe nachbarschaftliche Ebene),
Methoden der Veröffentlichung von Interessen (z.B. Stadtteilmedien, Flugblätter etc.) sowie deren
Organisation und Durchsetzung (z.B. Unterschriftenlisten, Demonstrationen) unterschieden werden.
Letztere Herangehensweisen finden sich in der Tradition des Community Organizing wieder, das
in den USA von Saul Alinsky entwickelt und etabliert wurde. Hinsichtlich der Veröffentlichung von
Interessen differenziert Stoik (2013), ob sich diese an Stadtteile (z.B. Aushänge, Stadtteilzeitung) oder
an eine breitere Öffentlichkeit richtet (z.B. via Social Media, in Leser*innenbriefen in Massenmedien
etc.) (vgl. ebd.: 441f.).
5.2.2 Normative Ebene
Informelle und formelle Regeln organisieren unser Zusammenleben. Auf formeller Ebene legt der
Mietvertrag die Bestimmungen des Wohnverhältnisses fest. Gesetzliche Grundlage ist hier das
Mietrechtsgesetz (MRG), das für städtische Wohnhausanlagen zur Vollanwendung kommt und
auch die Beendigung eines Mietverhältnisses regelt. Nachbarschaftskonflikte spielen dann eine
Rolle, wenn gerichtlich nachgewiesen wird, dass Mieter*innen eine strafbare Handlung gegenüber
einer anderen Mietpartei verübt oder das Zusammenleben, z.B. durch Beschimpfungen, erschwert
haben (vgl. AK 2023: 196f.).
Wie eingangs erwähnt, kann ein Gericht die Sachebene klären und darüber befinden,
ob ein gesetzlicher Kündigungsgrund vorliegt. Dahinterliegende Konfliktdimensionen werden
hierbei i.d.R. nicht erfasst oder bearbeitet. Seitens der Sozialen Arbeit können Vernetzungen mit
(kostenlosen) Rechtsberatungs- bzw. Wohnungssicherungsstellen hergestellt werden, um einen
Wohnungsverlust zu verhindern bzw. abzufedern. Im Vorfeld kann mit Hilfe einer Mediation als
freiwilligem „Versuch, mit einem fachlich ausgebildeten neutralen Vermittler [sic*] die Kommunikation
zwischen Streitparteien zu fördern und eine selbst verantwortete Lösung zu finden“ (BMJ 2024), ein
mögliches Gerichtsverfahren abgewendet werden. Das Angebot einer Mediation stellt wohnpartner
Bewohner*innen städtischer Wohnhausanlagen in Wien kostenlos zur Verfügung.
Neben dem Mietrechtsgesetz ist die Hausordnung ein „formelles“ Regelwerk, mit dem die
Hausverwaltung Normen des Zusammenlebens vorgibt. Auch diese unterliegen gesellschaftlichen
Entwicklungen und wurden im Laufe der Jahre immer wieder aktualisiert. So wurde im kommunalen
Wohnbau „Kinderlärm“ in den letzten Jahren nicht als unnötiger Lärm definiert, während dieser in
der aktuellen Version örtlich auf „Geräusche von Spielplätzen und anderen Freiflächen“ (Wiener
Wohnen 2022) beschränkt wird. Meiner Erfahrung nach ist es auf normativer Ebene wichtig, über
Informationen zu rechtlichen Rahmenbedingungen sowie Handlungsspielräumen zu verfügen
und diese an Konfliktparteien weiterzugeben. Die Verhandlung von Konflikten im Wohnumfeld auf
Basis von Regeldurchsetzung ist nur wenig zielführend, da sie wesentliche Konfliktdimensionen
missachtet und Soziale Arbeit Gefahr läuft, als exekutive Macht für die Durchsetzung von Regeln
herangezogen zu werden. Es lohnt stattdessen, auch einen Blick auf informelle Normen und Regeln
zu werfen und mit Konfliktparteien zu reflektieren, von wem diese definiert oder auch verändert
werden. Dies könnte vermeintliche Verbote, den Rasen zu betreten, genauso betreffen wie die
„Nutzungsrechte“ von Gemeinschaftsräumen oder Aneignungsformen von Bänken im Hof. Konflikte
rund um sozialräumlich tradierte Normen und Regeln können sowohl einzelne Konfliktparteien wie
auch Gruppen betreffen, deren Interessen zur Nutzung gemeinschaftlicher Flächen divergieren.
5.2.3 Nachbarschaftliche Ebene
Eine inspirierende theoretische Figuration für die Einordnung von Konfliktlinien und Machtgefällen
in nachbarschaftlichen Kontexten ist jene von „Etablierten“ und „Außenseitern“. Elias und Scotson
(1993) beforschten Machtdynamiken von Bewohner*innen zweier Dorfteile im Vororte-England der
späten 1950er, die zu unterschiedlichen Zeiten besiedelt wurden. Obwohl sich die Bewohner*innen
hinsichtlich ihrer Differenzmerkmale wenig unterschieden, definierten sich die alteingesessenen,
„etablierten“ Bewohner*innen als statushöher und hielten an der Ausübung einflussreicher Ämter
fest. Sie werteten zugezogene Bewohner*innen kollektiv als „Außenseiter“ ab (vgl. ebd.: 16–23).
Mit diesem Modell lassen sich Generationenkonflikte analysieren, in denen Interessen und
Normen des Zusammenlebens von etablierten Bewohner*innengruppen, die schon lange in einer
Wohnhausanlage leben, auf Aneignungsformen junger Bewohner*innen treffen, die allein aufgrund
ihres Lebensalters eine kürzere Wohndauer aufweisen. Ein anderes, rassistisch aufgeladenes
Thema betrifft den Einzug von Personen, die als People of Color sichtbar sind und als solche
gesellschaftlich und auch in ihrem Wohnumfeld häufig Diskriminierungen erfahren. Zudem sind
etablierte Bewohner*innen u.a. mit anderen geltenden Normen und Ideen von Nachbarschaft
eingezogen, die sich in den damals geltenden und seither überarbeiteten Hausordnungen
ausdrückten. Schließlich genießen etablierte Bewohner*innengruppen mit lange bestehenden
Mietverträgen einen ökonomischen Vorteil, da der Mietzins bei Neuabschlüssen oft wesentlich
höher liegt.
Methodisch ist für die Sichtbarmachung und Aushandlung unterschiedlicher Interessen –
abhängig von Zielsetzungen und bestehenden Ressourcen sowie den beteiligten Parteien – vieles
möglich: Mit einer Aktivierenden Befragung werden Adressat*innen zu ihrer Sichtweise zu gewissen,
auch konflikthaften Themen befragt und ihre Ideen und Möglichkeiten erhoben, an Verbesserungen
mitzuwirken. Die Ergebnisse der Befragung werden im Rahmen einer Bewohner*innenversammlung
präsentiert und daraus entstehende Arbeitsgruppen angeregt und begleitet (vgl. Lüttringhaus/
Richers 2013: 384). Ein Vorteil besteht in der systematischen Erhebung einer Tür-zu-Tür-Befragung,
die auch Personen einbindet, deren Interessen aufgrund ungleich verteilter Artikulationschancen
sonst nicht öffentlich würden.
Bei Methoden, die die Geschichte einer Wohnhausanlage bzw. ihre Bewohner*innen
würdigen, wie beispielsweise im Rahmen von Biographie- oder Zeitzeug*innenarbeit, ist darauf zu
achten, dass neben ohnehin etablierten Personengruppen und Interessen auch andere Perspektiven
ausreichend Platz gewinnen und dadurch Würdigung erfahren.
Multiplikator*innen vertreten die Sichtweise vieler bzw. gewisser Bewohner*innengruppen.
Sie können, z.B. als Haussprecher*innen, mit (in)formeller Macht ausgestattet sein und eine
einflussreiche Rolle in Aushandlungsprozessen und nachbarschaftlichen Konflikten spielen.
Seitens der Gemeinwesenarbeit ist es wichtig, partizipative Strukturen zu stärken und gezielt jene
Bewohner*inneneinzubinden,derenPerspektiveingesamtgesellschaftlichenEntscheidungsgremien
und daher auch in Wohnhausanlagen unterrepräsentiert sind. In städtischen Wohnhausanlagen
können Mietervertreter*innen auf Basis eines Mitbestimmungsstatuts gewählt werden, die von
der Hausverwaltung beispielsweise über Sanierungsarbeiten informiert, aber auch z.B. bei der
Gestaltung von Freiflächen eingebunden werden müssen.
5.2.4 Strukturelle Ebene
Nachbarschaftliche Konflikte weisen immer auch strukturelle Komponenten auf, die es zu erkennen
und dann auch zu benennen gilt. Es kann also sein, dass die starke, vielleicht auch konflikthafte
Nutzung von Infrastruktur (z.B. Kinderspielplätze in Höfen) am Fehlen geeigneter Freiflächen im
umliegenden Stadtteil liegt. Lärm aus der Nachbarwohnung ist auch deutlicher in Wohnungen mit
dünnen Wänden oder fehlender Trittschalldämmung vernehmbar und weist auf bauliche Aspekte
hin. Aushandlungsprozesse und Interessenskonflikte finden also nicht nur auf horizontaler Ebene
– zwischen Bewohner*innen – statt, sondern auch auf vertikaler Ebene mit Repräsentant*innen
der Hausverwaltung, dem Stadtteil, von Infrastrukturvorhaben etc. Professionist*innen kommen
hier unterschiedliche Aufgaben zu, die abhängig vom organisationalen Auftrag und dem fachlichen
Verständnis von Gemeinwesenarbeit stärker harmonisierend oder emanzipatorisch angelegt sind.
Für das Erkennen von Zusammenhängen zwischen Nachbarschaftskonflikten und der
bestehenden Infrastruktur können methodisch Sozialraumanalysen oder Stadtteilbegehungen mit
Konfliktparteien erhellend sein. Das Erkennen struktureller Ursachen von Konflikten kann für Parteien
entlastend wirken und den Fokus weg von persönlichem (Fehl-)Verhalten hin zu einer Kollektivierung
gemeinsamer Interessen lenken. Professionist*innen als intermediär Handelnden kommt die
Aufgabe zu, die Organisation und Veröffentlichung lebensweltlicher Interessen gegenüber einem
staatlich-administrativen System zu unterstützen. Besonders bei der Begleitung benachteiligter
Personengruppen erfordert dies eine parteiliche Positionierung der Gemeinwesenarbeit bzw. die
Einbindung sozialer Einrichtungen mit parteilichem Auftrag für spezifische Adressat*innengruppen
(vgl. Fischlmayr 2020: 160). Das Organisieren bzw. Moderieren eines Runden Tisches ist ein
weiterer methodischer Zugang für die Aushandlung von Interessen auf Stadtteilebene. Schophaus
und Wallentin (2013) beschreiben die Teilnahme an Runden Tischen aus Perspektive von
Bürger*inneninitiativen und das Abwägen von Wirkungsabsichten, Zielen und Gestaltungsmacht. Sie
unterscheiden zwischen einer konsensorientierten Beteiligung, die darauf abzielt, Lösungsideen zu
entwickeln und eine Perspektivenvielfalt herbeizuführen, und einer dissensorientierten Beteiligung,
die Gegenpositionen einbringen möchte, deren Durchsetzungskraft von der Mobilisierbarkeit vieler
Bürger*innen abhängt (vgl. ebd.: 392).
5.3 Individuelle/biographische Dimension
NebensozialräumlichenDimensionenvonKonflikten, dieaufgesellschaftlich-diskursiver, normativer,
strukturell-manifestersowiemachtdynamisch-interessensgeleiteterEbenewirksamwerden, istauch
die individuelle Lebenslage und die eigene psychosoziale Gesundheit als individuelle/biographische
Dimension für die Erfassung und Umgangsweise mit Konflikten im Wohnkontext bedeutsam.
Konflikte im Wohnumfeld berühren persönlich, da sie den eigenen Rückzugsraum
betreffen und an der Schwelle zwischen privatem und öffentlichem Raum stattfinden. Inwiefern
sich Wohnende überhaupt mit diesen auseinandersetzen müssen, hängt unter anderem von
strukturellen Bedingungen ab wie Möglichkeiten, diesen räumlich auszuweichen, Lärmschutzwände
aufzuziehen oder den Wohnort zu wechseln. Die strukturellen Bedingungen, in denen gewohnt wird,
sind u.a. verknüpft mit der ökonomischen Lebenslage der Betroffenen. Menschen mit geringen
ökonomischen Mitteln verfügen über weniger Wohnraum, sind häufiger von Überbelag betroffen
und können bei Konflikten aufgrund hoher Transaktionskosten oder langer Wartezeiten nur schwer
den eigenen Wohnort wechseln.
Entzündet sich nun ein nachbarschaftlicher Konflikt, hängt es u.a. vom eigenen Weltbild,
den eingeübten Konfliktmustern und der bereits bestehenden Beziehung bzw. den Zuschreibungen
zwischen den Beteiligten ab, wie dieser Konflikt eingeordnet wird (siehe Deutungsebene). Für
die Bewältigung eines Konflikts ist zudem die soziale Lage und die aktuelle physische und
psychische Verfasstheit bedeutsam. Menschen, die ohnehin aufgrund von Armutsbetroffenheit, zu
pflegenden Angehörigen oder Betreuungspflichten oder wegen gesundheitlicher oder psychischer
Beeinträchtigungen belastet sind, haben häufig weniger verfügbare Kapazitäten, um sich zusätzlich
um nachbarschaftliche Agenden zu kümmern. Manchmal sind nachbarschaftliche Konflikte
aber auch selbst Ausdruck von belasteten Lebenssituationen: So können Bewohner*innen, die
sozial abgesichert, gesund und mit stabilen Netzwerken ausgestattet sind, ein als störend oder
‚abweichend‘ eingeordnetes Verhalten wohl besser tolerieren als Personen, die selbst belastet
sind. Zudem können Bewohner*innen auch die ersten sein, die Problemlagen und Notsituationen
ihrer Nachbar*innen bemerken, sei es bei psychischen oder physischen Erkrankungen oder bei
häuslicher Gewalt.
Für Professionist*innen gilt es also, die Lebenslage und die psychosoziale bzw.
gesundheitliche Ebene als konfliktbeeinflussend zu beachten. Neben einer Unterstützung von
Nachbarschaftshilfe (siehe dazu kritisch Reutlinger/Stiehler/Lingg 2015: 17ff.) gilt es, Ressourcen
von außen in Konflikte und den Stadtteil zu holen. Bewohner*innen sollten für ihre (finanzielle,
psychosoziale, gesundheitliche) Entlastung mit Beratungs- bzw. Betreuungseinrichtungen vernetzt
werden. Im Umgang mit psychisch erkrankten Nachbar*innen können Bewohner*innen im Sinne
einer Psychoedukation sensibilisiert werden. Bei häuslicher Gewalt kommt der Nachbarschaft eine
wichtige, zivilgesellschaftliche Schutzfunktion zu, über die sie informiert und in der sie bestärkt
werden muss.
Zudem sind Professionist*innen gefordert, sich abhängig von der Verteilung der
Artikulationsmacht und der Betroffenheit von Diskriminierung in Konflikten, (parteilich) zu
positionieren.DieEinschätzungderKräfteverhältnissezwischendenKonfliktparteienistkomplexund
von verschiedenen situativen und verschränkten Ungleichheitsfaktoren abhängig (vgl. Fischlmayr
2020: 160). Der Blick auf benachteiligende gesellschaftliche Verhältnisse soll jedoch keinesfalls
deterministisch verstanden werden und Bewohner*innen Gestaltungschancen absprechen. Im
Gegenteil: Er eröffnet Möglichkeiten der Solidarisierung und Kollektivierung. So kann es sein, dass
Bewohner*innen im Zuge eines Streits um die Freiraumnutzung auf die strukturelle Ebene ihres
Konfliktes und Mängel in der Aufenthaltsqualität aufmerksam werden. Oder dass Nachbar*innen
aus verschiedenen Gründen aus dem Arbeitsmarkt gedrängt wurden und nun die störende Präsenz
des anderen wahrnehmen. Neben der Entwicklung von Lösungen für die Betroffenen, die ihren Alltag
selbstbestimmter und besser lebbar sein lassen, gilt es, beeinflussende Dimensionen zu erkunden,
um einer „Individualisierung von Lebenserfahrungen entgegenzuwirken“ (Bitzan/Herrmann 2018:
52).
6
Fazit
Das KonDiWo-Modell soll dazu anregen, Konflikte im Wohnumfeld systematisch in ihrer situativen,
sozialräumlichen und individuellen Dimension zu erfassen und diese als sich gegenseitig
beeinflussend zu verstehen. Methodisch kann Soziale Arbeit unterstützend auf unterschiedlichen
Ebenen ansetzen und Handlungsspielräume der Verständigung und Emanzipation eröffnen.
Hierbei liegen Spannungen vor zwischen fachlich-ethischen Zielen einer konfliktorientierten
Sozialen Arbeit und den politisch-programmatischen bzw. organisationellen Aufträgen an ein
konfliktschlichtendes bzw. -kalmierendes Vorgehen. Der Anspruch, die sozialräumliche Dimension
von Nachbarschaftskonflikten mit beteiligten Akteur*innen zu ergründen, erfordert nicht nur
organisationelle Rückendeckung, sondern auch ausreichend personelle, zeitliche und finanzielle
Ressourcen, um kollektive Betroffenheiten in längeren Gemeinwesen-Prozessen zu bearbeiten und
partizipativ Veränderungen anzustoßen. Aktuelle Anforderungen an die Soziale Arbeit sind jedoch
gegenläufig und folgen häufig einer Logik der Individualisierung von Problemlagen und dem raschen
Herbeiführen von „Lösungen“.
In diesem Sinne gilt mein Plädoyer vor allen methodischen Herangehensweisen, die
auch im Artikel vorgestellt werden, dem Innehalten und dem Aushalten von Widersprüchen und
Ambivalenzen, die in konflikthaften Situationen liegen. Der Deutungsebene kommt hierbei ein
besonderes, auch emanzipatorisches Potential für eine reflexive Zugänglichkeit der sozialräumlichen
und individuellen Dimension zu. Ihre Berücksichtigung lädt nicht nur Konfliktparteien, sondern auch
Professionist*innen ein, konflikthafte Ereignisse einzuordnen, eigene Gefühle wahrzunehmen und
dahinterliegende Deutungen, hegemoniale Bewertungen, strukturelle Komponenten und persönliche
Anteile zu hinterfragen.
Kollegiale Beratung und eine supervisorische sowie intervisorische Begleitung können
Professionist*innen qualitätssichernd dabei unterstützen, ein komplexes Feld an Interessen
und Bedürfnissen sowie einander beeinflussende Konfliktdimensionen im Kontext Wohnen zu
überblicken, eigene Verwobenheiten zu erkennen und sich bedacht einzubringen. Schließlich ließe
sich das vorliegende Modell zu Konfliktdimensionen auch in andere, z.B. institutionelle, Kontexte
übertragen und dafür weiterentwickeln.
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Über die Autorin
Anna Fischlmayr, BA MA
Sozialarbeiterin, Studium der Sozialen Arbeit in Graz und Wien. Supervisorin und nebenberuflich
Lehrende am Bachelor- und Masterstudiengang Soziale Arbeit bzw. Sozialraumorientierte
Soziale Arbeit an der FH Campus Wien. Langjährige Berufstätigkeit sowie Publikationen im Feld
GemeinwesenarbeitundKonfliktarbeit.WeitereSchwerpunkte:(institutionelle)Sozialraumforschung,
Wohnen, Gender, Praxisreflexion.