Inga Plum. Einsamkeit überwinden durch Caring Communities. Eine qualitative Untersuchung zur
Bedeutung reziproker Unterstützungsbeziehungen. soziales_kapital, Bd. 29 (2024). Rubrik: Junge
29. Ausgabe 2024
Klimagerechtigkeit und Soziale Arbeit in Österreich
Einsamkeit überwinden durch Caring Communities
Eine qualitative Untersuchung zur Bedeutung
reziproker Unterstützungsbeziehungen
Inga Plum
Zusammenfassung
Einsamkeit ist ein individuell und gesellschaftlich relevantes Thema. In diesem Artikel wird der Frage
nachgegangen, wie Einsamkeit durch das spezielle Angebot von Caring Communities begegnet
werden kann. In diesem Angebot kann man sich entweder unterstützend in die Gemeinschaft
einbringen oder Unterstützung finden; beides wird über ein Zeitkonto verrechnet. Anhand einer
Untersuchung zweier Caring Communities wird gezeigt, welches Potenzial in dem Angebot steckt
und worauf bei der Ausgestaltung geachtet werden sollte, damit möglichst viele davon profitieren.
Eine intensive Auseinandersetzung mit der Einsamkeitsforschung und zwei Theorien der Reziprozität
bilden dafür die Grundlage.
Schlagworte: Einsamkeit, Reziprozität, gegenseitige Unterstützung, Caring Community
Abstract
The issue of loneliness is one that is of significant importance from both an individual and a social
perspective. This article examines the potential of caring communities to address loneliness. This
offer allows individuals to engage in supportive activities within a community or to seek assistance,
with both options charged via a time account. The potential of this offer is illustrated through a study
of two caring communities. Additionally, the article presents considerations for its organisation to
ensure that as many people as possible can benefit from it. This is based on an in-depth examination
of loneliness research and two theories of reciprocity.
Keywords: loneliness, reciprocity, mutual support, caring community
1
Einleitung
Spätestens mit der Corona-Pandemie rückte das Thema Einsamkeit verstärkt in den öffentlichen
Fokus. Eine Studie des Forschungszentrums der Europäischen Union stellte fest, dass sich das
Einsamkeitsgefühl unter Europäer_innen während der Pandemie verdoppelt hat (vgl. Baarck et
al. 2021: 6). UN-Organisationen wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) betonen dabei, dass
Einsamkeit kein rein individuell lösbares Problem darstellt (vgl. WHO/ITO/UN DESA 2021: 7). So
stellt auch Michael Noack (2022: 26) heraus, dass in der Sozialen Arbeit Forschungsschwerpunkte
auf „freundschaftliche, nachbarschaftliche und institutionelle Einbindung“ und „Teilhabechancen,
die die Zugehörigkeit zu einer größeren Gemeinschaft oder zur Gesellschaft beeinflussen“, gelegt
werden sollten. Aus diesen Ausgangsbeobachtungen resultierte für mich die Frage, inwiefern auf
das Gefühl der Einsamkeit durch Angebote reagiert werden kann, die die gegenseitige Unterstützung
der Gruppenmitglieder im Alltag in den Mittelpunkt stellen. Diese Frage war der Anstoß für ein
Forschungsprojekt, das ich im Rahmen meiner Masterarbeit Einsamkeit im Sozialraum begegnen.
Eine qualitative Untersuchung reziproken Handelns in Caring Communities und ihre Möglichkeiten für
die Gemeinwesenarbeit durchführte. Wie sich herausstellte, ist insbesondere die Ausgestaltung einer
sozialen Beziehung im Zusammenhang mit der Wechselseitigkeit (Reziprozität) der Unterstützung
zentral für die Proband_innen.
Für meine Forschungsarbeit wurden zwei Gruppendiskussionen mit fünf bzw. sechs
Proband_innen aus Caring Communities (CC) geführt. In Caring Communities organisieren
sich Privatpersonen, um sich gegenseitig zu unterstützen. Bei den untersuchten CCs findet die
Unterstützung informell, zum Beispiel in Form von Fahrdiensten, Begleitung bei Freizeitaktivitäten,
Kinderbetreuung oder ähnlichem, statt (vgl. Plum 2024: 62f.). Die Strukturen der beiden interviewten
Gruppen wiesen die Besonderheit auf, dass man sich entweder als „Helfer_in“ oder als „Betreute“
anmelden konnte (vgl. ebd.: 66). Die Mitglieder entschieden sich somit bei der Anmeldung bereits
dafür, ob sie Unterstützung anbieten oder annehmen wollten.
In Anlehnung an meine Masterarbeit werden folgend die zwei theoretischen Ansätze von
Sahlins (2005) und Stegbauer (2011) zum Thema reziproke Unterstützungsformen dargestellt, um
die untersuchten Unterstützungsbeziehungen theoretisch einordnen zu können. Daran anschließend
werden die Konzepte mit dem Thema Einsamkeit verbunden. Um die Relevanz von Maßnahmen
gegen Einsamkeit hervorzuheben, liefert der Beitrag darüber hinaus einen Überblick über die bisher
bekannten individuellen und gesellschaftlichen Folgen von Einsamkeit und den aktuellen Stand
der Maßnahmen zur Prävention. Zum Schluss wird eine kurze Zusammenfassung der wichtigsten
Erkenntnisse der Masterarbeit präsentiert, gefolgt von einem abschließenden Fazit.
2
Einsamkeit
Jeder Mensch hat eine eigene Vorstellung davon, was Einsamkeit bedeutet. Um ein gemeinsames
Verständnis zu schaffen, ist eine verbindliche Definition von Einsamkeit und die Abgrenzung zu
vermeintlichen Synonymen notwendig. Dazu gehört auch eine Auseinandersetzung damit, wer
von Einsamkeit betroffen sein kann. Um gezielte Interventions- und Präventionsmaßnahmen zu
entwickeln, ist ein Verständnis der individuellen und gesellschaftlichen Auswirkungen hilfreich.
2.1 Einsamkeit – ein soziales Stigma
Einem allgemeinen Verständnis nach ist Einsamkeit ein negatives Gefühl. Gesellschaftliche Vorurteile
oder der Glaube, an der Einsamkeit selbst schuld zu sein, verstärken die negative Konnotation und
den Umstand, dass betroffene Personen die Gründe für ihr Einsamkeitsempfinden tatsächlich nur
bei sich selbst sehen (vgl. Ronzheimer 2018). Die Hürde, sich zu öffnen und mit Mitmenschen über
die eigene Einsamkeit zu sprechen, wird immer größer (vgl. Stallberg 2021: 11). In der Wissenschaft
hat man bereits in den 1980er Jahren damit angefangen, mit derlei Vorurteilen aufzuräumen. Die
Einsamkeitsforscher_innen Perlman und Peplau erkannten Einsamkeit als „eine wahrgenommene
Diskrepanz zwischen gewünschte[n] und tatsächliche[n] Beziehungen“ (Peplau und Perlman zit.n.
Luhmann 2021: 4). Dies ergänzten Forscher_innen in den 2000er Jahren um die Einsicht, dass die
Diskrepanz insbesondere auf die Qualität der Beziehungen und nicht auf deren Quantität zu beziehen
ist (vgl. Luhmann 2021: 4). Die „Defizite[] im sozialen Bereich“ (Böger/Huxhold 2014: 10) beruhen
jedoch auf subjektiven Empfindungen. Darin liegt ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal, um
Einsamkeit vom Alleinsein, Alleinleben oder sozialer Isolation abzugrenzen (vgl. Böger/Huxhold
2014: 10; Luhmann 2021: 4). Aus wissenschaftlicher Perspektive ist es entscheidend, dass sich
Menschen, die – gemessen an ihren tatsächlichen sozialen Kontakten – als sozial isoliert gelten, nicht
zwangsläufig einsam fühlen müssen, wenn sie diese Isolation selbst nicht als solche empfinden.
Gleiches gilt für das Alleinleben, das wie das Alleinsein auch positiv wahrgenommen und als ein
bewusst gewählter sozialer Zustand betrachtet werden kann (vgl. Luhmann 2021: 4). Im Gegensatz
dazu ist „Einsamkeit eine Erfahrung des Entzugs“ (Schellhammer 2018: 4), die die betroffene Person
überwinden möchte. Da Einsamkeit sowohl mit Scham behaftet ist als auch subjektiv empfunden
wird, ist die Erfassung dieses Zustands herausfordernd.
2.2 Risikofaktoren und Relevanz
In Befragungen des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP), an denen zwischen 2013 und 2017 rund
30.000 Personen in der Bundesrepublik Deutschland teilnahmen, gaben ungefähr 14 Prozent an,
sich „zumindest manchmal einsam“ zu fühlen (vgl. Entringer 2022: 19). Während der Corona-
Pandemie, im März 2020, stieg der Anteil der Menschen, die sich einsam fühlten, auf 40,1 Prozent
und blieb auch 2021 mit 42,3 Prozent hoch (vgl. ebd.: 20). Laut dem European Quality of Life Survey
sind die Entwicklungen in Bezug auf Einsamkeit in Deutschland auch auf Österreich übertragbar
(vgl. Eurofound 2017). In der Umfrage gaben fünf Prozent der Befragten aus beiden Ländern an, sich
„meistens oder die ganze Zeit“ (ebd.) einsam zu fühlen. Aufgrund der noch jungen Studienlage in
Österreich ist es schwierig, umfassende Aussagen über Einsamkeit in der dortigen Bevölkerung zu
treffen. Hier können Forschungsergebnisse aus Deutschland als wichtige Orientierung dienen, um
die Bedeutung und Auswirkungen von Einsamkeit auch für Österreich zu verstehen (vgl. Surkalim
et al. 2022: 11–13).
Die Einsamkeitsforscherin Maike Luhmann (2021: 19) hat eine Liste von Faktoren erstellt,
die das Risiko für Einsamkeit erhöhen können. Einige dieser Faktoren, wie soziales Umfeld,
Wohnsituation oder Nutzung sozialer Medien, können direkte Auswirkungen auf das Erleben
von Einsamkeit haben und „können somit als unmittelbare Ursachen von Einsamkeit betrachtet
werden“ (ebd.: 8). Anderen Faktoren wie Arbeitslosigkeit, Geschlecht oder Alter schreibt Luhmann
nur indirekte Auswirkungen auf das Einsamkeitserleben zu, sie können ihr zufolge aber das Risiko
des Auftretens direkter Faktoren erhöhen (vgl. ebd.). In jedem Fall sind unerwartete Veränderungen
im Leben einer Person nach Luhmann als Auslöser zu sehen: Sie stellen Risikofaktoren dar, die
Einsamkeitsgefühle hervorrufen können (vgl. ebd.: 9).
Erlebt eine Person ein erschütterndes Ereignis wie Verlust oder Wegzug einer nahestehenden
Person, bestehen bereits andere Risikofaktoren oder fehlen genügend Schutzfaktoren, kann dies zu
einer Abwärtsspirale der Einsamkeit führen (vgl. Jopling 2020). Forschungen zeigen, dass sich diese
Abwärtsspirale im ungünstigsten Fall kontinuierlich verschlimmert, wenn keine Maßnahmen ergriffen
werden (vgl. ebd.). Negative Erlebnisse und persönliche (Lebens-)Einstellungen tragen besonders
zur Verfestigung von Einsamkeit bei (vgl. Böger/Huxhold 2014: 14; Jopling 2020; Stallberg 2021: 11).
Die Auswirkungen haben dabei sowohl individuelle als auch gesellschaftliche Relevanz. Verfestigte
Einsamkeit kann auf der individuellen Ebene zu psychischen und physischen Erkrankungen führen
(vgl. Hawkley/Capitanio 2015: 3; Holt-Lunstad/Smith/Baker/Harris/Stephenson 2015; Luhmann
2021: 9). Ebenso kann eine Verstärkung der Einsamkeit bewirken, dass die Betroffenen „beständig
Bedrohung, Angst und Feindseligkeit erleben“ (Böger/Huxhold 2014: 14). Gleichzeitig können
„überhöhte Erwartungen an zwischenmenschliche Beziehungen“ (Stallberg 2021: 11) den Ausweg
aus der Einsamkeit behindern. So können diese subjektiv geprägten Erfahrungen dazu führen, dass
die Betroffenen ihre Umgebung und möglicherweise die Welt insgesamt als bedrohlich wahrnehmen
(vgl. Luhmann zit.n. Lerch 2018: 44).
Diese Erkenntnisse unterstreichen die Dringlichkeit des Themas sowohl für den Einzelnen als
auch für die Gesellschaft. Dennoch ist weitere Forschung erforderlich. Besonders die Differenzierung
zwischen Ursachen und Folgen ist bislang kaum möglich, aber für gezielte Interventionsmaßnahmen
unerlässlich (vgl. Luhmann/Bücker 2019: 56).
2.3 Ideen für individuelle und strukturelle Lösungsansätze
Auch UN-Organisationen wie die WHO haben sich 2021 mit dem Gefühl der Einsamkeit beschäftigt
und plädieren dafür, Einsamkeit nicht nur auf individueller Ebene zu begegnen (vgl. WHO/ITO/UN
DESA 2021: 7). Bisher gibt es keine wissenschaftlich fundierten Belege dafür, dass die von der
WHO oder anderen Forscher_innen vorgeschlagenen Interventions- und Präventionsmaßnahmen
die beabsichtigte Wirkung erzielen, sodass weitere, spezialisierte Forschung erforderlich ist (vgl.
Bücker/Beckers 2023: 44, 46). Dennoch gibt die Literatur Hinweise, welche Richtung die Forschung
auf Mikro-, Meso- und Makroebene einschlagen könnte.
Auf der individuellen Ebene sollten die Ziele sein, Beziehungen aufzubauen und zu
verbessern, soziale Fähigkeiten zu trainieren, aber auch Menschen zu aktivieren, Möglichkeiten
erkennen und nutzen zu können, um Einsamkeit zu überwinden oder ihr vorzubeugen (vgl.
Lippke 2021: 4; Mann et al. 2017: 634; WHO/ITO/UN DESA 2021: 8). Mann et al. (2017: 633f.)
erwähnen auch indirekte Maßnahmen als wichtige Zugänge, wie die Förderung von Beschäftigung,
Wohnmöglichkeiten, Bildung und Selbstwirksamkeit. Eine Sensibilisierung für das Thema unter
Betroffenen und Angehörigen sowie bei professionellen Unterstützer_innen, wie Pflegekräften,
Ärzt_innen und Sozialarbeiter_innen, zielt wiederum auf die Gemeindeebene ab (vgl. Mann et al.
2017: 634; Jopling 2020: 79; Seewer/Krieger 2023: 230). Auf gesellschaftlicher Ebene ist neben
politischer Aufmerksamkeit für das Thema die Bereitstellung finanzieller Mittel für Forschung,
Vereine und andere engagierte Gruppen wichtig (vgl. Gibson-Kunze/Arriagada 2023: 15; Luhmann
2021: 12; Mann et al. 2017: 634; Seewer/Krieger 2023: 230; WHO/ITO/UN DESA 2021: 7).
In dem Angebot, das ich in meiner Masterarbeit untersuchte, sah ich das Potenzial, alle
drei Ebenen anzusprechen. Dabei interessierte mich besonders die individuelle Ebene und die
Frage, inwiefern in Caring Communities tatsächlich bedeutende Beziehungen aufgebaut und die
Einbindung in eine Gruppe verwirklicht werden konnten. Um diese Fragen wissenschaftlich valide
beantworten zu können, legte ich meiner Forschung die theoretischen Konzepte von Marshall
Sahlins und Christian Stegbauer zugrunde. Ihre Überlegungen zu Reziprozität ermöglichten mir
festzustellen, worauf in Unterstützungsbeziehungen geachtet werden sollte, wenn sie für alle positiv
sein sollen.
3
Reziprozität
Reziprozität bedeutet Gegen- oder Wechselseitigkeit und bezieht sich auf das wechselseitige Geben
und Nehmen von Leistungen, Gütern oder Gefälligkeiten. Die Ausführungen des Anthropologen
Sahlins und des Soziologen Stegbauer, die im Folgenden erläutert werden, ermöglichen, die
Tauschbeziehungen in den untersuchten Caring Communities zu kategorisieren und zu erheben, ob
bzw. inwiefern sie das Potenzial haben, Einsamkeit zu begegnen. Bevor man sich mit verschiedenen
Formen von Reziprozität auseinandersetzt, ist es wichtig zu verstehen, dass es verschiedene
Verteilungs- bzw. Distributionsformen gibt, die Einfluss auf die Beziehung haben.
3.1 Gabe und Tausch
Trenkwalder-Egger beschreibt die Gabe als eine Verteilungsform, bei der eine Person etwas gibt
oder geben möchte und die andere Person „entscheiden (kann), ob eine Gabe angenommen wird,
ob sie erwidert wird, und wenn ja wann und in welcher Art“ (Trenkwalder-Egger 2016: 93). Die
andere Person kann somit selbst entscheiden, ob sie überhaupt am Akt der Verteilung teilnehmen
möchte, und falls ja, ob sie diesen mit einer Gegenleistung erwidert. Nimmt sie teil, kann aus der
Gabe ein Tausch werden, wobei dieser eine direkte Verteilung zwischen zwei gleichberechtigten,
freiwillig tauschenden Personen darstellt (vgl. ebd.: 62). Gabe und Tausch sind somit zwei
Distributionsformen, die sowohl komplett unterschiedlich als auch ineinander übergehend sein
können und im alltäglichen Leben „in Reinform […] kaum zu finden sind“ (ebd.: 93).
3.2 Reziprozität nach Marshall D. Sahlins und C. Stegbauer
Reziprozität als „rein formale Typologie“ (Sahlins 2005: 79) kann vereinfacht als Austausch von
Gütern gleichen Werts zwischen mindestens zwei Personen verstanden werden. In der praktischen
Umsetzung, so stellt Sahlins klar, kann es jedoch keinen reinen Austausch von Gütern geben: „Die
Art, wie die Rückgabe erwartet wird, sagt etwas über den Geist aus, der den Tausch bestimmt,
über Berechnung und Nichtberechnung, die Unpersönlichkeit, das ihn begleitende Mitleid.“ (Sahlins
2005: 80)
Aus diesem Grund unterscheidet er drei Subtypen der Reziprozität, die sich durch
verschiedene Faktoren wie die Ausprägung der sozialen Beziehung beeinflussen lassen (vgl. ebd.).
Stegbauer ergänzt diese drei Subtypen um zwei weitere wichtige Aspekte, die soziale Beziehungen
beeinflussen (vgl. Stegbauer 2011: 29). Auf alle fünf Typen wird im Folgenden kurz eingegangen.
3.2.1 Generalisierte Reziprozität
Bei der generalisierten Reziprozität handelt es sich entweder um einen Gaben- oder um einen
Tauschprozess, wobei der Gabenprozess die Extremform darstellt (vgl. Sahlins 2005: 81f.). Ein
Kennzeichen dieser Reziprozität ist die Möglichkeit, dass die Gabe nicht erwidert wird. Findet eine
Gegengabe statt, ist sie nicht zeitlich oder wertmäßig festgelegt. Sie orientiert sich daran, was
die empfangende Person zurückgeben kann und was die gebende Person benötigt (vgl. ebd.).
Wie Abbildung 1 deutlich macht, ist eine starke Beziehung entscheidend für das Funktionieren
der generalisierten Reziprozität. Diese ermöglicht die Verzögerung der Gegengabe, den Einbezug
weiterer Personen oder auch das Ausbleiben einer Gegengabe. Für diese Art der Reziprozität ist
eine Art Vertrauen zwischen den Personen notwendig, wie sie in familiären oder freundschaftlichen
Beziehungen oft vorliegt oder beispielsweise in Hausgemeinschaften, die sich durch räumliche
Nähe auszeichnen (vgl. ebd.: 81, 85).
3.2.2 Ausgeglichene Reziprozität
Bei Sahlins gibt es einen Übergang von der generalisierten zur ausgeglichenen Reziprozität. Dieser
ist insbesondere durch die abnehmende Bedeutung der sozialen Beziehung festzustellen. Die
ausgeglichene Reziprozität ist durch eine unmittelbare und wertgleiche Gegengabe gekennzeichnet.
Die soziale Beziehung hat nicht mehr den hohen Stellenwert, sodass sich Personen auch fremd sein
können. Stattdessen gleichen sich die materielle und die soziale Komponente an. Ein Beispiel für
ausgeglichene Reziprozität ist der Handel.
Abb. 1: Reziprozität und soziale Beziehungen.
Darstellung orientiert an Sahlins (2005: 86).
3.2.3 Negative Reziprozität
Am anderen Ende des Spektrums und als Gegenteil zur generalisierten findet sich die negative
Reziprozität.BetrachtetmandiedreiFaktorensozialeBeziehung,ZeitpunktundWertderGegengabe,
zeigt sich dieses Extrem in der Kosten-Nutzen-Abwägung. So besteht das Ziel der negativen
Reziprozität darin, „etwas umsonst und ungestraft zu bekommen“ (Sahlins 2005: 83), wobei die
soziale Beziehung irrelevant und dem Ziel der Kosten-Nutzen-Maximierung untergeordnet ist.
3.2.4 Reziprozität von Positionen
Stegbauer nennt zwei Reziprozitäten, die die soziale Beziehung näher unter die Lupe nehmen. Er
legt dar, dass jede Position eine Gegenposition benötigt, um zu existieren, wobei Stegbauer als
Beispiel die Positionen der Lehrer_innen und Schüler_innen nennt (vgl. Stegbauer 2011: 29f.). Bei
der Reziprozität von Positionen geht es entsprechend um Hierarchien zwischen den Tauschenden,
die wiederum „eine wertorientierte Äquivalenz der Tauschgüter oder -leistungen ausschließen“
(ebd.: 30) kann.
3.2.5 Reziprozität der Perspektive
DieReziprozitätderPerspektiveistengverbundenmitderReziprozitätvonPositionen. Siebeschreibt
die Fähigkeit, gedanklich die Position der anderen Person einnehmen zu können (vgl. Stegbauer
2011: 99f.). Dieser Perspektivenwechsel ist Voraussetzung, damit ausgeglichene Reziprozität
entstehen kann, da nur so verstanden werden kann, was die andere Person (wahrscheinlich)
erwartet.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass beim Tausch einerseits der Wert der
Unterstützung und der Zeitpunkt der Gegenseitigkeit von Bedeutung sind und andererseits die
soziale Beziehung im Tausch- oder Handelsakt. Hier geben die Positionen der Personen und
die Relevanz der Perspektiven weiteren Aufschluss über die Beziehungen, die wiederum die Art
des Tauschakts beeinflussen. Die Kategorisierung der Art der Tauschbeziehung hilft dabei, real
praktizierte und gewünschte Tauschbeziehungen voneinander zu unterscheiden und zu verstehen,
wieso Wunsch und Realität nicht für alle am Tauschakt Teilnehmenden kongruent sind. Durch
dieses Raster lässt sich schlussendlich eruieren, welche Bedingungen vorliegen müssen, um gegen
Einsamkeit wirken zu können.
4
Erhebung in zwei Caring Communities
4.1 Methodisches Vorgehen
Für meine Masterarbeit wurden zwei Gruppendiskussionen mit fünf bzw. sechs Proband_innen
geführt. Die Proband_innen gehörten alle einer Caring Community an, die das Ziel hatte, dass man
entweder anderen Mitgliedern Unterstützung anbietet oder von diesen Unterstützung bekommt. Die
Besonderheit der CCs war die Verknüpfung ihres Angebots mit einem Zeitkonto: Wer Unterstützung
bekommen möchte, löst dafür Zeit auf dem eigenen Zeitkonto ein. Wer Unterstützung gibt, bekommt
Zeit gutgeschrieben. Innerhalb der Gruppen wird neben den Organisator_innen zwischen den Rollen
‚Betreute‘ und ‚Helfer_in‘ unterschieden. Ein Wechsel der Rolle ist grundsätzlich nach Absprache
möglich (vgl. Plum 2024: 66). Es konnten zwei Betreute, drei Helfer_innen und fünf Organisator_
innen für die Teilnahme gewonnen werden.
4.2 Ausgewählte Ergebnisse
Die theoretischen Modelle von Sahlins (2005) und Stegbauer (2011) liefern wichtige Hinweise darauf,
was bei der Ausgestaltung der Unterstützungsleistung der Caring Communities entscheidend ist,
damit diese gegen Einsamkeit wirken können. Als zentral stellte sich die von den CCs vorgegebene
Unterscheidung der beiden Rollen ‚Betreute‘ oder ‚Helfende‘ heraus. Aus dieser Konstellation
ergaben sich für die Erhebung drei Untersuchungsaspekte: die Art des Unterstützungsprozesses
(Distributionsform), das Verständnis für die andere Rolle und die Beziehung zueinander. Mit Bezug
zum Thema Einsamkeit wurden zusätzlich die Risikofaktoren und die Bedeutung des Angebots
herausgearbeitet.
4.2.1 Nennung von Risikofaktoren und Austauschbedarf
Die Proband_innen nennen explizit die Lebensereignisse Pensionseintritt, Krankheit, Zuzug,
Betreuung von Angehörigen oder auch den Mangel an sozialen Kontakten als Gründe dafür,
weshalb jemand Unterstützung braucht oder sich ihrer Gruppe anschließt. Diese Ereignisse finden
sich auch unter den Risikofaktoren nach Luhmann (vgl. Luhmann 2021: 8). Einer teilnehmenden
Person fiel auch der erhöhte Gesprächsbedarf bei Betreuten auf. Zusätzlich wurde zur Stärkung der
sozialen Beziehungen der Wunsch nach mehr Gruppentreffen für Helfende geäußert. Die von den
Proband_innen genannten Gründe, weshalb Menschen ihre Gruppe aufsuchen, decken sich auch
mit Auslösern für Einsamkeit.
4.2.2 Wertschätzen der Angebotsgestaltung
Besteht einmal Kontakt zur Gruppe, so wird positiv hervorgehoben, wird man zügig, unkompliziert
und mit geringen Bedarfen unterstützt. Darüber hinaus bedeutet es für die Helfenden, sich einerseits
mit ihren Stärken einbringen zu können, andererseits nur in dem Ausmaß, welches sie sich selbst
aussuchen:
„[I]ch nehme die Dienste in Anspruch und ich genieße das total, dass die [TN_2] mit
mir jetzt baden gehen kann, das ist ganz super. Super, dass sie es macht. Und es
ist einfach schön, dass man das machen kann, weil man nicht mehr so gut beieinander
ist.“ (GD1: TN_3)
Da es insbesondere am Anfang schwerfallen kann, das Angebot zu kontaktieren und anzunehmen,
lohnt es sich, die weiteren Merkmale der Unterstützungsbeziehung näher zu betrachten.
4.2.3 Wahrnehmung eines Gabenprozesses
Die durch die Struktur der CCs vorgegebene Distributionsform, dies zeigt der Abgleich mit der
theoretischen Darstellung, ist durch das Zeitkonto eindeutig ein Tauschprozess: Eine Person leistet
Unterstützung und erhält dafür eine Zeitgutschrift, eine andere erhält Unterstützung und gibt dafür
Zeit vom Konto ab. In der Wahrnehmung der Proband_innen scheint es jedoch so zu sein, dass
sich die Distributionsform in Richtung der Gabe verschiebt bzw. dass sich die Formen Gabe und
Tausch vermischen. Diese Vermischung zeigt sich auch darin, dass Helfende ihre Unterstützung oft
als Geschenk verstehen, das die empfangende Person annehmen kann, wenn sie momentan Hilfe
benötigt (vgl. Plum 2024: 79). So spielt bei den Helfenden für ihre Unterstützung das Zeitkonto nur
eine nebensächliche Rolle, den Empfänger_innen fällt die Annahme der Unterstützung trotz der
Gegenleistung über ihr Zeitkonto schwer (vgl. ebd.: 64). Die vorgegebene Differenzierung der beiden
Rollen in Helfende und Betreute verhindert gleichzeitig, dass ein flexibler Rollenwechsel stattfinden
kann. Die nur monatlich stattfindende Aktualisierung des Zeitkontos verstärkt die Einordnung hin zu
einem Gabenprozess, da eine mögliche Gegengabe zeitlich stark versetzt vonstattengeht, obwohl
durch das Zeitkonto eigentlich ein Tausch stattfindet (vgl. ebd.: 61).
Auch wenn das Zeitkonto bei den Mitgliedern nur eine untergeordnete Bedeutung
einzunehmen scheint, erkennen Außenstehende insbesondere darin die Besonderheit:
„Also habe ich schon gehört oft, das ist schon was Besonderes, weil so dieses
Thema ja doch sehr verbreitet ist, dass es in der Öffentlichkeit ist. Man braucht
immer mehr Hilfe und wir haben zu wenig und es ist ja präsent. […] Somit ja, da kann
ich ja selbst was dafür machen.“ (GD2: TN_6)
Die Bedeutung der Distributionsform wird durch die unterschiedlichen Positionen unterstrichen,
wobei die Reziprozität von Perspektiven durch die Trennung der Rollen ebenso zu beachten ist.
4.2.4 Helfer_in als favorisierte Rolle
Die Reziprozität der Positionen bezieht sich auf die Hierarchie, die zwischen den Beteiligten bestehen
kann. Drei Personen, die selbst bereits Unterstützung erhalten haben, scheinen eine Ungleichheit
zwischen den Rollen wahrzunehmen. Alle drei möchten ebenfalls Unterstützung anbieten und nicht
nur empfangen (vgl. Plum 2024: 67).
„Aber sobald man wieder selber halbwegs fit ist, denke ich, ich will auch anderen
was geben. Wenn ich gut, wenn ich gesund bin, will ich auch anderen etwas geben.“
(GD2: TN_10)
Eine helfende Person erwähnte, die gesparte Zeit erst einlösen zu wollen, wenn wirklich Bedarf
an Unterstützung besteht. Gleichzeitig ist eine wesentliche Motivation der Helfenden, etwas
zurückzugeben. Stegbauer betont, dass eine Rolle nur existieren kann, wenn auch die andere
vorhanden ist (vgl. Stegbauer 2011: 29f.). Das Bewusstsein darüber, dass die Rolle der Helfenden
nur existieren kann, wenn ihre Unterstützung von Betreuten angenommen wird, kann zu einer
Abflachung der Hierarchien führen. Hierbei hilft auch die Reziprozität von Perspektiven, also die
Fähigkeit einer Person, sich in die Lage einer anderen zu versetzen, deren Blickwinkel einzunehmen
und aus deren Sicht zu denken. Diesbezüglich konnte festgestellt werden, dass die Helfenden
durchaus nachvollziehen konnten, dass es schwierig sein kann, Hilfe anzunehmen.
Stegbauerbetont,dassdieReziprozitätderPerspektivenentscheidendist,umausgeglichene
Reziprozität zu ermöglichen (vgl. Stegbauer 2011: 100). Es ist ein wichtiger Schritt, um die Hierarchie
zwischen den beiden Rollen zu erkennen und zu verringern und so die Annahme von Unterstützung
zu erleichtern.
4.2.5 Bedeutung der sozialen Beziehungen
Für alle Proband_innen waren die sozialen Beziehungen und die Gemeinschaft innerhalb ihrer
Gruppe von zentraler Bedeutung. So wurde Sympathie und Vertrauen vorausgesetzt, aber auch
aktives Interesse an der anderen Person gezeigt (vgl. Plum 2024: 72–74). Obwohl nicht alle die
gleiche Intensität von Gemeinschaftlichkeit suchten, waren sich alle einig, dass Vertrauen und
Sympathie für den Austausch von Unterstützungsleistungen wesentlich sind (vgl. ebd.: 64, 72f.,
76f.).
„Und dann auch, dass sie sich kennenlernen. Und das wissen sie auch, wenn es
nicht das Gefühl, es würde nicht passen, dann dürften sie mit gutem Gewissen
sagen: Nein. Das ist für mich ganz, ganz wichtig. Das kriegen sie auch immer als Info
von mir. So verpackt, dass sie nicht das schlechteste Gewissen haben müssten,
wenn sie sagen nein, lieber nicht. Aus irgendeinem Grund.“ (GD2: TN_6)
Der Wunsch nach einem Tauschprozess innerhalb der CCs spricht deutlich für eine Form der
ausgeglichenen Reziprozität nach Sahlins. Gleichzeitig hat die soziale Beziehung eine ähnlich
zentrale Bedeutung, wie sie bei der generalisierten Reziprozität vorausgesetzt wird. Die konkrete
Praxis in den CCs bewegt sich somit zwischen der ausgeglichenen und der generalisierten
Reziprozität, wobei Beziehung und Tauschprozess nicht gegeneinander ausgespielt, sondern die
Bedeutung beider für die Proband_innen anerkannt werden sollten.
5
Fazit
In meiner Masterarbeit habe ich mich damit auseinandergesetzt, wie Einsamkeit begegnet werden
kann. Das Angebot der untersuchten CCs und damit die Möglichkeit, sich in eine Gemeinschaft
einbringen zu können und (gleichzeitig) Unterstützung zu bekommen, stellt eine vielversprechende
Option dar. Die Ergebnisse zeigen, welches Potenzial in dem Angebot steckt. Sie machen aber
auch deutlich, worauf bei der Ausgestaltung noch geachtet werden sollte, damit möglichst viele
profitieren.
Für alle Proband_innen ist die soziale Beziehung von hoher Bedeutung. Dabei sind sowohl
die Beziehungen zwischen Personen mit unterschiedlichen Rollen als auch mit derselben Rolle
genannt worden. In erster Linie geht es den Proband_innen um die Qualität der sozialen Beziehung,
was auch positiv gegen Einsamkeit wirken kann. Um bei der Qualität der Beziehung anzusetzen,
könnten die bereits von den Proband_innen vorgeschlagenen Gruppentreffen ausgeweitet werden.
VonProband_innen,dieselbstbereitsUnterstützungangenommenhaben,wurdebetont,dass
auch sie gerne Unterstützung geben möchten. Dies deutet darauf hin, dass sie die Distributionsform
eines Tauschs bevorzugen, in der Erwartung, dass es das Annehmen von Unterstützung erleichtern
würde. Um gegen ein negatives Gefühl wie Einsamkeit zu wirken, ist die Wertigkeit der eigenen
Rollen, die auch die Qualität der sozialen Beziehung beeinflusst, bedeutsam. Hier hat das Angebot
bereits viel Potenzial, tatsächlich gegen Einsamkeit zu wirken.
Aus den Theorien von Sahlins und Stegbauer, durch die Strukturen der CCs und die
Äußerungen der Proband_innen ergaben sich vielversprechende Ideen, um auf den Wunsch
nach einem Tauschakt einzugehen. So steckt im Zeitkonto enormes Potenzial, um beide Rollen
in ihrer Wertigkeit und Position mehr anzugleichen. Eine unmittelbare Tauschaktion könnte das
Zeitkonto in den Vordergrund rücken, ebenso könnte ein flexibler Rollenwechsel ermöglichen, dass
immer wieder die Perspektive der anderen Rolle eingenommen wird. Eine dritte Möglichkeit ist die
Förderung des Bewusstseins, dass jede Unterstützung, die jemand leisten will, auch jemanden
braucht, der diese Unterstützung annimmt – wodurch nicht nur der betreuten Person, sondern
auch der helfenden etwas Gutes getan wird. Inwiefern die drei Ideen auch die Prävention oder
Verringerung von Einsamkeit ermöglichen, müsste natürlich erneut untersucht werden. Ohne die
Erweiterung und Bewusstseinsförderung zum Thema Einsamkeit wird es allerdings nicht gehen.
Zu guter Letzt sei hervorgehoben, dass sich auch Angebote der Gemeinwesenarbeit, die
Einsamkeit adressieren sollen, mit den Risikofaktoren auseinandersetzen müssen, um ausgehend
von der nötigen Sensibilisierung mögliche Betroffene unterstützen zu können. Geht es um Peer-
Group-Unterstützungen, helfen die Überlegungen von Sahlins und Stegbauer, das eigene Angebot
kritisch zu reflektieren, um die Reziprozitätsform zu untersuchen, mögliche Hierarchieunterschiede
zu erkennen und die sozialen Beziehungen zu betrachten.
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Über die Autorin
Inga Plum, BA MA
Inga Plum hat an der Ostfalia HaW Wolfenbüttel Soziale Arbeit im Bachelor studiert und u.a. im
ambulant betreuten Einzelwohnen gearbeitet, wo ihr das Thema Einsamkeit vielfach begegnete.
2024 absolvierte sie das Masterstudium „Soziale Arbeit, Sozialpolitik und -management“ am MCI
in Innsbruck.