David
Neusteurer
&
Elisabeth
Hammer.
sozialer
Zugänge
schaffen!
Durch
Niederschwelligkeit
die
Funktionalität
Sicherungssysteme
weiterentwickeln.
30. Ausgabe 2025
Hard-To-Reach or No Access?
Zugänge schaffen!
Durch Niederschwelligkeit die Funktionalität
sozialer Sicherungssysteme weiterentwickeln
David Neusteurer & Elisabeth Hammer
Zusammenfassung
Aktuell kommt es zu einer Vielzahl gesellschaftlicher Krisen, welche die Widerstandsfähigkeit
individueller und institutioneller Netze der sozialen Sicherung herausfordern. Dadurch entsteht
ein hoher Druck, persönliche und strukturelle Anpassungen vorzunehmen, um den Folgen dieser
Krisenerscheinungen zu begegnen. Davon besonders betroffene Personengruppen sind in hohem
Maße von den Wirkmechanismen sozialer Sicherungssysteme abhängig. Die Aufrechterhaltung
und stetige Weiterentwicklung von deren Funktionsweise entlang der Bedarfe unterschiedlicher
Nutzer*innengruppen ist deshalb von zentraler Bedeutung.
Soziale Arbeit agiert in, mit und durch soziale Sicherungssysteme und spielt bei der
Abwendung sozialer Risiken insbesondere auf der individuellen Ebene eine wichtige Rolle. Sie hat
besondere Expertise in Bezug auf eine niederschwellige Angebotsausgestaltung und Arbeitsweise,
die für die Weiterentwicklung sozialer Sicherungssysteme essentiell sind. Im Folgenden werden
am Beispiel der Wiener Sozialorganisation neunerhaus fachliche Grundlagen für niederschwellige
Arbeit beschrieben und für deren Integration in die Angebote sozialer Sicherungssysteme plädiert.
Schlagworte: Niederschwelligkeit, Soziale Arbeit, soziale Sicherung, Sozialpolitik, multiple Krise,
Policy-Arbeit
Abstract
A number of social crises are currently challenging the resilience of individual and institutional social
security networks. These crises are creating excessive pressure to make personal and structural
adjustments in order to counter their consequences. Groups of people who are particularly affected
by these crises are highly dependent on social security systems. Therefore, it is of central importance
to maintain and continuously develop these systems in line with the needs of different user groups.
Social work operates within social security systems and plays a crucial role in mitigating
social risks, particularly at the individual level. Social work has special expertise in terms of low-
threshold service design and working methods, which are essential for the further development of
social security systems. The following article describes the professional basis for low-threshold work
and argues for its integration into social security systems using the Viennese social organization
neunerhaus as an example.
Keywords: low-threshold, social work, social security, social policy, multiple crisis, policy
1
Einleitung
Die Welt scheint im Großen wie im Kleinen komplexer zu werden. Das Auftreten einer „Multiplen
Krise“ (vgl. Bader/Becker/ Demirović/Dück 2011: 11–14) sowie spezifische Krisen unterschiedlicher
Dimensionen, wie die Covid-19-Pandemie oder die Energie- und Inflationskrise, fordern die
Widerstandsfähigkeit individueller und institutioneller Netze der sozialen Sicherheit heraus. Um
den Konsequenzen dieser Krisenerscheinungen zu begegnen, müssen zunehmend persönliche
und strukturelle Anpassungen vorgenommen werden. Die Ausgangssituationen dafür variieren
jedoch bei verschiedenen Personengruppen, ebenso wie der Grad der Betroffenheit oder die
Möglichkeiten, Leistungen sozialer Sicherungssysteme (z.B. Arbeitslosengeld, Pensionen,
Sozialhilfe, Gesundheitsversorgung) zu nutzen. Diejenigen, die von den Konsequenzen der
Krisen betroffen sind, sind zumeist besonders stark von der Absicherung durch soziale Systeme
abhängig. Die Aufrechterhaltung und stetige Weiterentwicklung der Funktionsweise von sozialen
Sicherungssystemen entlang der Bedarfe unterschiedlicher Personengruppen ist deshalb von
zentraler Bedeutung.
Soziale Arbeit agiert in, mit und durch soziale Sicherungssysteme und spielt bei der
Abwendung sozialer Risiken insbesondere auf der individuellen Ebene eine wichtige Rolle
(vgl. Fehmel 2019: 209–211). Dabei hält sie ein umfassendes Repertoire an Methoden und
fachlichen Herangehensweisen sowie analytische Expertise bereit, die für die Weiterentwicklung
sozialer Sicherungssysteme sehr wertvoll sind. Das betrifft insbesondere die niederschwellige
Angebotsausgestaltung und Arbeitsweise. Dieser Beitrag untersucht die Funktionsweise sozialer
SicherungssystemeangesichtsgesellschaftlicherKrisendynamikenundbeschreibtdieRolleSozialer
Arbeit darin. Darauf aufbauend werden Formen und Wirkungsziele niederschwelliger Sozialer Arbeit
beschrieben und für deren Integration in die Leistungen breiter sozialer Sicherungssysteme plädiert.
2
Krise, Armut und soziale Sicherung
2.1 Einordnung aktueller Krisendynamiken
Krisen können als sich konjunkturell wiederholende Erscheinungen in unterschiedlichen
ZeitabständenundvonunterschiedlicherZeitdauerbeschriebenwerden. SiesindAusdruckgestörter
sozialer Verhältnisse und Praktiken und spiegeln deren inhärente Spannungen und Widersprüche
wider (vgl. Bader et al. 2011: 11). In kapitalistischen Gesellschaften stehen die Kreisläufe des
Kapitals (Wirtschaft) und die gesellschaftlichen Bereiche (Politik, Recht, Familie, Wissenschaft
u.a.m.) in einem Abhängigkeitsverhältnis zueinander, da sich keiner der beiden Bereiche selbständig
reproduzierenkann. DementsprechenderfassenKrisenimmerbeideSphärenundderenTeilbereiche,
wenn auch auf unterschiedliche Weise. Aufgabe von Regierungssystemen ist es, das Übergreifen
von Krisen einzelner (Teil-)Bereiche auf andere zu verhindern. Unter dem Begriff der ‚Multiplen
Krise‘ oder Vielfachkrise werden aktuelle Dynamiken als eine historisch spezifische Konstellation
unterschiedlicher Krisenprozesse verstanden, deren Auswirkungen bereichsübergreifend sind.
Dazu zählen vier große, miteinander verbundene Krisendynamiken: Die Krise der finanzdominierten
Akkumulation, die sozial-ökologische Krise, die Dauerkrisen der Reproduktion und die Krise der
parlamentarischen Demokratie, welche aus den Widersprüchen des global agierenden neoliberalen
Kapitalismus resultiert (vgl. Bader et al. 2011: 11–14).
Österreich ist ebenso von dieser Konstellation erfasst und von deren Auswirkungen
betroffen. Zusätzlich zur multiplen Krise treten außerordentliche Krisen auf, wie die COVID-19-
Pandemie 2020–2023, der Ukraine Krieg seit 2022 oder die Energie- und Inflationskrise 2022/2023.
Sie durchdringen gesellschaftliche Strukturen und ihre Konsequenzen reichen auf unterschiedliche
Weise bis zu einzelnen Haushalten und Individuen. Nicht erst seit diesen letzten Krisen wird in diesem
Zusammenhang von einer „Krise der Mitte“ oder einer Entgrenzung sozialer Risiken gesprochen, die
nicht länger ausschließlich vulnerable Personengruppen, sondern auch jene betrifft, die lange Zeit
als sozioökonomisch gut abgesichert galten. Wenngleich diese Analyse nur eingeschränkt empirisch
erfassbar ist, so spiegelt sie sich in „Statusängsten“ und in um sich greifender Verunsicherung
wider (Groh-Samberg/Hertel 2010: 137–138, 154–155).
2.2 Armutsentwicklung und Konsequenzen für die soziale Sicherung
Aus Sicht der Sozialen Arbeit ist es von besonderer Bedeutung, darauf zu achten, welche
Auswirkungen aktuelle Krisenformationen auf ihre potentiellen Adressat*innen haben und wie
sich deren Zusammensetzung womöglich verändert. Ein wichtiger Gradmesser dafür sind die
Armutsstatistiken. Ein Blick auf die Entwicklung der zentralen EU-Indikatoren für soziale Ein-
gliederungi zeigt ein ambivalentes Bild (siehe Abbildung 1): Die Armuts- und Ausgrenzungs-
gefährdung als übergeordnetes Armutsmaß stieg zwischen 2019 und 2023 kontinuierlich von
16,5% auf 17,7% und sank im Jahr 2024 auf 16,9%. Stärker war der Anstieg der Armutsgefährdung
zwischen 2019 und 2023, und zwar von 13,3% auf 14,9%. Im Jahr 2024 sank sie wiederum auf
14,3% und betrifft insgesamt 1.288.000 Personen. Anders ist der Verlauf bei den Haushalten mit
keiner oder sehr niedriger Erwerbstätigkeit, deren Anzahl seit 2021 deutlich zurückging und zuletzt
nur leicht gestiegen ist. Die Anzahl an Haushalten mit erheblicher materieller Deprivation wiederum
verzeichnete einen sprunghaften Rückgang im Jahr 2021 und verdoppelte sich innerhalb von zwei
Jahren auf 3,7% bzw. auf insgesamt 336.000 Menschen, wo sie nun das zweite Jahr hintereinander
konstant bleibt. Somit standen im Jahr 2024 einer Personengruppe im Umfang der Einwohner*innen
von Graz wesentliche Mindestlebensstandards nicht zur Verfügung.
Abbildung 1: Entwicklung der EU Indikatoren für soziale Eingliederung 2019–2024 in Österreich
(vgl. Statistik Austria 2024a/2024b/2025a); eigene Darstellung
Armutsgefährdung betrifft Personengruppen in Österreich unterschiedlich. Es gibt bestimmte
Gruppen, die ein besonders hohes Armutsrisiko haben, etwa ausländische Staatsbürger*innen,
alleinlebende pensionierte Frauen, Einelternhaushalte, Mehrpersonenhaushalte mit mindestens
drei Kindern, arbeitslose Menschen und jene mit keiner oder sehr niedriger Erwerbstätigkeit sowie
Menschen, die Sozialleistungen beziehen.
Abbildung 2 zeigt die Armutsgefährdungsquote der jeweiligen Risikogruppen und wie sich
diese in den Jahren 2020 bis 2024 entwickelt hat. Auffallend ist der zum Teil deutliche Anstieg von
2022 auf 2023, nachdem es im Jahr zuvor noch einen tendenziellen Rückgang gab. Entgegen dem
Rückgang in der Gesamtbevölkerung im Jahr 2024 blieb die Armutsgefährdung für Risikogruppen
weitgehend auf gleich hohem Niveau. Diese Entwicklung zeigt sich auch bei der durchschnittlichen
Armutsgefährdung dieser Gruppen, welche im Jahr 2023 mit 43% deutlich anstieg und beinahe
dreimal so hoch ist wie in der Gesamtbevölkerung (15%).
Abbildung 2: Entwicklung der Armutsgefährdungsquote von Risikohaushalten
in den Jahren 2020-2024 (vgl. Statistik Austria 2021/2022/2023/2024b/2025); eigene Darstellung
Die Analyse der Armutsstatistik ergibt kein eindeutiges Bild hinsichtlich der Armutsverschärfung
in Österreich. So ist anzunehmen, dass die diversen und zum Teil umfassenden Unterstützungs-
maßnahmen während der Covid-19-Pandemie und der Inflationskrise einen Effekt auf die
Verhinderung von Armut hatten. Gleichzeitig zeigen die Entwicklungen bei Risikohaushalten, dass
sich die soziale und finanzielle Absicherung von bereits benachteiligten Haushalten insbesondere
im Jahr 2023 merklich verschlechterte. In diesem Zusammenhang bezweifeln Dimmel, Heitzmann,
Schenk und Stelzer-Orthofer (2024: 128) die Gewährleistung eines Mindestlebensstandard für alle
durch den österreichischen Sozialstaat. Diese Befunde würden auch jene soziologischen Analysen
ergänzen, die die Funktionalität des Sozialstaats für spezifische Personengruppen in Frage stellen:
Nach Leiber & Leitner (2017: 108) bestehen „Desintegrationsprobleme“, die eine plurale Gesellschaft
mit ihrer „Differenzierungs- und Individualisierungstendenz“ mit sich bringt, wobei die Problemlagen
Einzelner komplexer werden und sich schwerer durch generalisierte sozialstaatliche Leistungen
lösen lassen.
Grundsätzlich ist die tendenziell steigende Quote der Armuts- und Ausgrenzungsgefährdung
als besorgniserregend einzustufen und es bleibt die Frage offen, inwiefern es zukünftig zur
Zunahme existenzieller Gefährdungslagen für bisher ausreichend abgesicherte Personengruppen
kommen wird. Ohne Zweifel standen und stehen die sozialen Sicherungssysteme und, damit
zusammenhängend, die sozialpolitischen Maßnahmen angesichts der aktuellen nationalen und
internationalen Krisendynamiken vor großen Herausforderungen (vgl. Soukup/Heitzmann 2023:
14). Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass die Bedeutung Sozialer Arbeit sowie
niederschwelliger Angebote steigen wird.
2.3 Soziale Arbeit und soziale Sicherungssysteme
Während sozialpolitische Maßnahmen meist als generalisierte Leistungen zur Bekämpfung
typischer und weit verbreiteter sozialer Risiken gesehen werden, reagiert die Soziale Arbeit auf
komplexe Problemlagen und bearbeitet Einzelfälle unter Berücksichtigung der Lebensumstände.
Das Verhältnis zwischen beiden Komponenten kann entweder komplementär sein – beispielsweise
wenn Soziale Arbeit die Möglichkeiten von Sozialpolitik erweitert – oder wechselwirkend, wenn
das Handeln Sozialer Arbeit durch die Rahmenbedingungen der Sozialpolitik determiniert wird,
jedoch die Erkenntnisse der Sozialen Arbeit Veränderungen und Innovationen in der Sozialpolitik
vorantreiben (vgl. Leiber/Leitner 2017: 107–108).
Gegenwärtig hat das Leitbild vom aktivierenden Sozialstaat einen starken Einfluss auf die
operativeAusformungdiesesVerhältnisses,wobeivoneiner„IndienstnahmederSozialenArbeitfürdie
neuen aktivierungspolitischen Ziele und [eine] Einschränkung professioneller Handlungsspielräume“
(Leiber/Leitner 2017: 110) auszugehen ist. Die Konsequenz davon ist eine stärkere Verzahnung
der Methoden, Angebote und Erfahrungen Sozialer Arbeit sowie ihrer personenbezogenen
Dienstleistungen mit der Durchsetzung sozialpolitischer Reglementierungen und Aktivierungen
(vgl. Fehmel 2019: 213–214). Derzeit steigt der Druck auf soziale Sicherungssysteme durch die
zunehmende Komplexität individueller Problemlagen, was sich auch auf die Ausgestaltung des
Verhältnisses von Sozialpolitik und Sozialer Arbeit auswirkt (vgl. Leiber/Leitner 2017: 108).
Von besonderer Bedeutung für ein kritisch-reflexives Verständnis von Sozialer Arbeit ist das
WissenüberunterschiedlicheAktivierungspolitiken,sozialpolitischeStrukturenundAkteur*innenund
die administrativen Prozesse, die dahinter stehen. Davon ausgehend kann eine Auseinandersetzung
mit den diversen Zwängen sozialstaatlicher Leistungen stattfinden und ein politisches Mandat
der Sozialen Arbeit entwickelt werden. Die Ambivalenz, die sich durch die Verortung der Sozialen
Arbeit innerhalb sozialer Sicherungssysteme bei gleichzeitiger kritisch-reflexiver Haltung ergibt,
ist Teil ihres doppelten Mandats. Eine Erleichterung dieser Ambivalenz kann ausgehend von einer
Weiterentwicklung dieser Systeme gelingen: Rufe nach deren Einschränkung können Forderungen
nach einem Umbau und der progressiven Weiterentwicklung entgegengestellt werden. Denn damit
sozialstaatliche Leistungen den Anforderungen einer pluralen Gesellschaft und deren hohem
Differenzierungsgrad gerecht werden, benötigen sie mehr Flexibilität bei der Inanspruchnahme. Wir
argumentieren, dass Soziale Arbeit durch ihre fachliche Expertise im Bereich der Niederschwelligkeit
einen wesentlichen Beitrag zu einer progressiven Entwicklung leisten kann und dass Elemente
daraus in soziale Sicherungssysteme integriert werden müssen, um den aktuellen und zukünftigen
sozialpolitischen Herausforderungen angemessen begegnen zu können.
3
Niederschwelligkeit in der Sozialen Arbeit
3.1 Theoretischer Bezugsrahmen
In mehreren Fachbeiträgen wird darauf hingewiesen, dass der Begriff Niederschwelligkeit und
die damit einhergehenden Arbeits- und Herangehensweisen in der Sozialen Arbeit bisher wenig
wissenschaftlich bearbeitet wurden (vgl. dazu Redemeyer/Block 2011; Mayrhofer 2012; Stark 2012;
Reichenbach 2015; Arnold/Höllmüller 2017). Gleichzeitig werden laufend mit Hilfe unterschiedlicher
Bezugsdisziplinen (vgl. Mayerhofer 2012), in bestimmten Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit
(vgl. Hofer 2020) oder auf professionstheoretischer Basis (vgl. Arnold/Höllmüller 2017) die
fachlichen Grundlagen weiterentwickelt. Dabei gilt Niederschwelligkeit als eine praxisbezogene
Konzeptualisierung in unterschiedlichen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit. Mit dem Begriff wird
eine bestimmte Form der Angebotsausgestaltung und Arbeitsweise beschrieben, welche von
der Lebenswelt bestimmter Personengruppen ausgeht und dadurch mögliche Hürden für die
Inanspruchnahme sozialer Dienstleistungen abbaut. Dadurch soll der Kontakt mit und die Beziehung
zu ihnen erleichtert und verbessert werden. In der Praxis gehen damit häufig Unverbindlichkeit
und eine hohe Flexibilität, ein unbürokratischer und offener Zugang, wenige Ausschlusskriterien,
geringe Kontrolle und eine freiwillige Inanspruchnahme der Angebote einher (vgl. Steckelberg 2016:
450–452; Mayrhofer 2012: 147; Stark 2012: 2–3).
Diese praxisbezogenen Reflexionen und Festlegungen haben bisher noch zu keiner
allgemeingültigen Definition fachlicher oder konzeptioneller Standards geführt, weshalb das
Verständnis von Niederschwelligkeit nach wie vor diffus ist. Das hat zur Folge, dass sich Angebote
dann als niederschwellig bezeichnen, wenn sie sich als solches verstehen bzw. sofern sie diese
Zuschreibung für sinnvoll erachten. Das führt dazu, dass eine bunte Mischung an Angeboten
für sich Niederschwelligkeit beansprucht, deren Ausgestaltung jedoch markante Unterschiede
aufweist. Als Gemeinsamkeit für den inhaltlichen Bezug von Niederschwelligkeit hält Mayrhofer
(2012: 147) die „Bedingungen des Zugangs zu und der Inanspruchnahme von Hilfsangeboten bzw.
-maßnahmen“ fest. Die Schaffung eines möglichst einfachen Zugangs ist der kleinste gemeinsame
Nenner niederschwelliger Angebote; davon ausgehend lassen sich weitere Ausdifferenzierungen
beobachten und theoretisch begründen.
Bei neunerhaus,ii einer Wiener Sozialorganisation mit Unterstützungsangeboten in den
Bereichen Wohnen, Gesundheit und soziale Teilhabe, verfolgen wir das Ziel, eine niederschwellige
Arbeitsweise umzusetzen und die strukturellen Bedingungen für benachteiligte Personengruppen
zu verbessern. Um dem Begriff der Niederschwelligkeit mehr Klarheit zu geben und unsere
Angebote gezielt sowie fachlich fundiert weiterentwickeln zu können, haben wir im Jahr 2024
ein internes Fachkonzept „Niederschwelligkeit und niederschwelliges Arbeiten bei neunerhaus“
erarbeitet. Darin werden theoretische Bezüge, praktische Erfahrungen und Erkenntnisse von
Mitarbeiter*innen mit Expertise im Bereich niederschwelligen Arbeitens miteinander verwoben. Die
unterschiedlichen inhaltlichen Stränge des Fachkonzepts wurden basierend auf folgender Definition
von Niederschwelligkeit gebündelt:
„Niederschwelligkeit bezeichnet eine professionelle Herangehensweise, die die
Bedarfe und Bedürfnisse von Nutzer*innen in den Mittelpunkt des Handelns
stellt. Niederschwellige Unterstützungsangebote verfügen über flexible
Nutzungsstrukturen,unbürokratischeZugängeundrascheInterventionsmöglichkeiten,
ohne Druck auf eine individuelle Verhaltensänderung aufzubauen. Mit Hilfe von
Policy-Arbeit werden die Erkenntnisse aus der Praxis für gezielte Verbesserungen im
Hilfssystem und auf gesellschaftspolitischer Ebene eingesetzt.“ (Neusteurer 2024: 5)
Im Folgenden greifen wir zwei zentrale inhaltliche Überlegungen heraus, und zwar erstens das
differenzierte und reflexive Verständnis von Niederschwelligkeit innerhalb eines Kontinuums
von Hoch- und Niederschwelligkeit und zweitens eine Beschreibung der Wirkungsziele
niederschwelliger Arbeitsweisen. Dadurch soll zur kritisch-reflexiven Auseinandersetzung in
sozialen Unterstützungsangeboten in Bezug auf die Niederschwelligkeit der Leistungen und die
damit zusammenhängende Funktionalität angeregt werden. Auf fachlicher Ebene sollen unsere
Erfahrungen in die Entwicklung von Qualitätsindikatoren einfließen, um Verbesserungen in diesem
Bereich zu fördern.
3.2 Niederschwelligkeit in einem Kontinuum verorten
Soziale Unterstützungsangebote weisen in der Regel sowohl nieder- als auch hochschwellige
Elemente auf und können demnach in einem Kontinuum verortet werden (vgl. Mayrhofer 2012: 197).
Das Verhältnis von Nieder- und Hochschwelligkeit ist dabei nicht gegensätzlich oder hierarchisch zu
verstehen. Wir plädieren stattdessen für eine Reflexion darüber, wo sich unterschiedliche Aspekte
ergänzen oder widersprechen, um Angebote entlang deren Zielsetzung sowie der Bedarfe der
Nutzer*innen weiterentwickeln zu können.
Bei der Diskussion über Niederschwelligkeit geht es im Kern um Möglichkeiten und
Bedingungen dafür, soziale Unterstützungsangebote in Anspruch nehmen zu können, sei es
für einen Erstkontakt oder für eine fortlaufende Nutzung. Zwei Komponenten sind hierfür von
zentraler Bedeutung und eng verknüpft: Die Organisation des Zuganges und das Beratungs- und
Betreuungssetting. Abbildung 8 illustriert das Kontinuum von Nieder- und Hochschwelligkeit anhand
dieser beiden Komponenten. Zur Veranschaulichung haben wir anhand praktischer Beobachtungen
und theoretischer Bezüge einige Indikatoren zur Qualifizierung der jeweiligen Bereiche benannt.
Abbildung 3: Kontinuum von Nieder- und Hochschwelligkeit in Bezug auf Zugang,
Beratungs- und Betreuungssetting; eigene Darstellung
Mit der Organisation des Zuganges meinen wir insbesondere formale Zugangswege bzw.
-voraussetzungen zu einer Leistung. Ein niederschwelliger Zugang zeichnet sich durch möglichst
wenige Voraussetzungen aus, beispielsweise indem der Kontakt für viele unkompliziert ermöglicht
und Ausschließungsprozesse weitgehend vermieden werden. Dazu zählt das Wegfallen von
Anmeldungen oder Anträgen vor einer Nutzung oder die Pflicht, vorab Termine zu vereinbaren.
Das Angebot kann jederzeit während der Öffnungszeiten aufgesucht und die jeweilige Leistung
unmittelbar und ohne weitere Wartezeiten genutzt werden. Hochschwelligkeit hingegen erfordert
einen höheren Aufwand durch Nutzer*innen. Dies erschwert den Zugang für einige Personengruppen
oder schließt diese dezidiert aus, was im Gegenzug bedeuten kann, dass umso stärker auf
bestimmte andere Gruppen fokussiert wird. Eines der Kennzeichen ist denn auch die Notwendigkeit
einer Anmeldung, eines Antrages oder einer Terminvereinbarung zur Nutzung des Angebotes.
Zudem ist der Zugang durch spezifische Voraussetzungen wie Mindesteinkommen oder einen
bestimmten Aufenthaltsstatus geregelt. Etwaige Wartezeiten stellen die Ausdauer von Nutzer*innen
auf die Probe; je nach Lebensumständen verhindern sie auch den Zugang, da sie womöglich nicht
überbrückt werden können.
Die zweite Komponente ist das Beratungs- und Betreuungssetting, worunter wir einerseits
die räumliche und soziale Umgebung verstehen und andererseits die Art und Weise, wie Beratung
oder Betreuung in direkten Interaktionen durchgeführt werden. Niederschwelligkeit bedeutet in
diesem Zusammenhang die Festlegung eines breiten Handlungsrahmens mit einheitlich definierten
Abläufen, in dem sehr flexibel agiert werden kann. Dies ermöglicht eine Balance zwischen Offenheit
und Flexibilität auf der einen Seite und Klarheit und Sicherheit auf der anderen Seite, um die Situation
je nach Bedarf der Nutzer*innen gestalten zu können. Ein weiteres Kriterium für Niederschwelligkeit
ist die Wahrung der Privatsphäre, was zum einen den Schutz persönlicher Daten und die Möglichkeit
einer anonymen Nutzung meint, zum anderen die räumlichen Gegebenheiten, die ausreichend
Rückzug und Ruhe gewährleisten müssen. Im Vergleich dazu weisen hochschwellige Beratungs-
und Betreuungssettings einen eng gefassten Handlungsrahmen auf, der wenig Spielraum für
individuelle und situationsbedingte Anpassungen zulässt. Die klaren Richtlinien ermöglichen hohe
Handlungssicherheit für alle Beteiligten, sie straffen aber auch die Abläufe und damit insgesamt die
notwendige Zeit für die Unterstützungsleistung. Geringe Möglichkeiten, die Privatsphäre zu wahren,
wenige Rückzugsmöglichkeiten und Räumlichkeiten mit kühler Atmosphäre tragen ebenfalls zu
einer Hochschwelligkeit bei.
Illustrieren lässt sich das Kontinuum der beiden Komponenten anhand des neunerhaus Cafés
in Wien Margareten,iii
welches auf Alltagsstrukturierung, soziale Teilhabe, Gesundheitsförderung
und Unterstützung bei sozialen Problemlagen abzielt. Dies verfolgt das Café durch vielfältige
Angebote, die sich alle an Indikatoren der Niederschwelligkeit orientieren und sich gegenseitig
aufeinander beziehen. Das beinhaltet eine ansprechende Raumgestaltung mit gemütlicher
Kaffeehausatmosphäre, einen frisch zubereiteten Mittagstisch und Kaffee auf freier Spendenbasis
sowie sozialarbeiterische und Peer-Beratung direkt im Café. Diese Angebote sind für alle Menschen
offen und richten sich im Besonderen an obdach- und wohnungslose sowie armutsbetroffene
Menschen. Der Zugang ist ohne Anmeldung zu den Öffnungszeiten möglich und es bestehen
keine formalen Ausschließungsgründe. Mögliche Wartezeiten auf Beratung können durch sozialen
Austausch, Essen, Kaffee oder Zeitunglesen leicht überbrückt werden.
LimitiertwerdendieAngebotedesneunerhausCafésundderenniederschwelligeAusrichtung
vor allem durch die Öffnungszeiten und durch fehlende Beratungsräume in unmittelbarer Nähe zum
Café. Dies führt dazu, dass die Kontaktaufnahme oder die Beratungen nicht immer in der nötigen
Ruhe und privaten Atmosphäre durchgeführt werden können und dass Personen mit Verpflichtungen
untertags das Angebot nur sehr eingeschränkt nutzen können. Für eine niederschwellige
Arbeitsweise exemplarisch ist indes die hohe Flexibilität der Beratung innerhalb eines breiten und
klaren Handlungsrahmens, welche durch die Räumlichkeiten und das Essensangebot ermöglicht
wird. Das zeigt, dass für die Etablierung eines niederschwelligen Beratungs- und Betreuungssettings
deren räumliche und soziale Einbettung von besonderer Bedeutung ist.
Niederschwelligkeit ist von Zielkonflikten innerhalb des Kontinuums zwischen Nieder- und
Hochschwelligkeit geprägt. Oftmals sind die terminunabhängige Nutzung und die Vermeidung von
Wartezeiten für eine Leistung nur schwer vereinbar. Ebenfalls herausfordernd ist die Verknüpfung
eines offenen und zwanglosen Settings mit der Verfügbarmachung von Rückzugsräumen und
ruhigen Räumen für die Wahrung der Privatsphäre in den Gesprächen. Zudem kann ein Fokus auf
bestimmte Nutzer*innengruppen den Zugang für genau diese erleichtern, während andere dadurch
möglicherweiseausgeschlossenwerden. ZentralfürprofessionelleUnterstützungistdieEntwicklung
einer reflexiven Haltung zu diesen Spannungsfeldern. Eine stetige Analyse und Diskussion über
exkludierende und inkludierende Effekte der Angebotsausgestaltung und darüber, wie sich diese
mit den Zielen des Angebotes und den Bedarfen und Bedürfnissen der Nutzer*innengruppen
verbinden, ist dafür essentiell.
3.3 Wirkungsziele von Niederschwelligkeit
ZentraleParameterfürdieAusgestaltungvonNiederschwelligkeitinsozialenUnterstützungsangeboten
sind ihre Zielsetzungen und gewünschten Wirkungen. Um mehr Klarheit über die Frage zu erlangen,
was mit einer niederschwelligen Angebotsausgestaltung im Zugang und im Beratungs- und
Betreuungssetting überhaupt erreicht werden soll, definieren wir im Folgenden sechs Wirkungsziele
niederschwelliger Unterstützungsangebote. Theoretischer Ausgangspunkt dieser Wirkungsziele
sind die fünf Funktionen niederschwelliger Sozialarbeit nach Mayrhofer (2012: 151–159). Diese
erweitern wir um eine zusätzliche Komponente und beschreiben deren Wirkung auf individueller
und systemischer Ebene und an deren Schnittstelle. Die Unterscheidung dieser beiden Ebenen
erscheint uns wichtig, um die Tragweite und Stoßrichtung der Wirkungsziele besser begreifbar zu
machen.
Auf der individuellen Ebene stehen die Wirkungen auf Einzelpersonen im Zentrum sowie die
direkt daran anknüpfenden sozialen Einheiten, z.B. Familie oder Freunde. Die Unterstützungsleistung
kommt sehr unmittelbar bei einzelnen Personen oder einem eingegrenzten Personengeflecht an
und wirkt im Besonderen für diese Personen(gruppe). Die systemische Ebene hingegen umfasst
Einheiten größerer Ordnung, wie andere Angebote im Hilfssystem oder entscheidungstragende
Institutionen sowie strukturelle gesellschaftspolitische Bedingungen. Die Wirkung zielt dabei
stärker auf eine Verbesserung von Teilbereichen des Hilfssystems ab. Die größtmögliche Wirkung
niederschwelliger Angebote entfaltet sich durch ein funktionierendes Zusammenwirken beider
Ebenen. Abbildung 4 skizziert die Verortung der sechs Wirkungsziele innerhalb der individuellen
und systemischen Ebene.
Abbildung 4: Wirkungsziele einer niederschwelligen Arbeitsweise; eigene Darstellung
Die sechs Wirkungsziele sind:
1. Erschließung, Herstellung und Aufrechterhaltung von Zugängen
Durch die Schaffung eines möglichst leichten Zugangs zu bedürfnisorientierten Beratungs- und
Betreuungssettings werden Menschen erreicht, die bisherige Angebote aus unterschiedlichen
Gründen nicht annehmen konnten oder grundsätzlich von ihnen ausgeschlossen waren. Dies
schafft die Voraussetzung für weitere Interventionen auf individueller und potentiell auch auf
systemischer Ebene.
2. Physische und psychische Stabilisierung
Menschen in prekären Lebenslagen leiden oftmals unter multiplen gesundheitlichen Problemen.
Niederschwellige Angebote können durch die Versorgung elementarer gesundheitlicher
Bedürfnisse (z.B. Hygiene, Nahrung, Kleidung) wichtige diesbezügliche Verbesserungen erzielen.
Gemeinsam mit einem leichten Zugang zu psychosozialer, sozialarbeiterischer und Peer-
Beratung entfalten sie vor allem auf der individuellen Ebene eine gesundheitsfördernde Wirkung.
3. Aktive Bearbeitung spezifischer Problemlagen
Niederschwellige Angebote haben aufgrund ihrer Ausrichtung die Möglichkeit, sehr
unterschiedliche Menschen zu erreichen. Dadurch können Problem- und Bedarfslagen adressiert
werden, die durch andere Angebote nicht bearbeitet werden könnten (z.B. finanzielle Notlagen,
psychosoziale Krisen, drohende Delogierung), und es kann auf die individuellen Bedürfnisse
derMenscheneingegangenwerden. IhreWirkungentfaltetsichinsbesondereaufderindividuellen
Ebene.
4. Vertrauensbildung ins Hilfssystem
Negative Einstellungen zum und/oder mangelndes Vertrauen in das Hilfssystem werden
durch unverbindliche und bedarfsorientierte Beratungs- und Beziehungsangebote schrittweise
neu ausgerichtet bzw. wiederhergestellt. Möglichen Stigmatisierungsprozessen, die durch die
Angebotsnutzung entstehen, wird aktiv entgegengewirkt, um die Vertrauensbildung zu
begünstigen (z.B. ansprechende Innenraumgestaltung, unauffällige Einbettung in die
sozialräumliche Umgebung). Dadurch werden Menschen auf individueller Ebene ermutigt,
UnterstützungsleistungendesHilfssystemsinAnspruchzunehmen, undeswirdaufsystemischer
Ebene das Vertrauen in das Hilfssystem gestärkt.
5. Weitervermittlung und Orientierung im Hilfssystem
Menschen nutzen aus unterschiedlichen Gründen nicht alle ihnen zustehenden Leistungen
(z.B. zu wenig Informationen, komplexe Zugangswege, Sprachbarrieren). Niederschwellige
Angebote geben bedarfsorientiert Informationen über weiterführende Angebote und notwendige
Zugangsvoraussetzungen, prüfen, ob diese Angebote passend sind (z.B. Setting, Zielgruppe),
und unterstützen bei der Inanspruchnahme (z.B. durch Begleitungen oder eine Beschreibung,
was Personen dort erwartet). Dadurch werden auf systemischer Ebene die Funktionalität und
Effektivität des Hilfesystems erhöht.
6. Wahrnehmung und Aufzeigen von Exklusionsprozessen
Die Mitarbeiter*innen von niederschwelligen Angeboten verfügen aufgrund von deren
Ausrichtung über viel Wissen über gesellschaftliche Exklusionsprozesse und deren Auswirkungen
auf individueller Ebene sowie auf Ebene des Gemeinwesens. Diese Wahrnehmungen
und fachlichen Einschätzungen werden als wertvolle Informationen internen und externen
verantwortlichen Akteur*innen als Grundlage der Policy-Arbeit weitergegeben, um strukturelle
Veränderungen auf systemischer Ebene voranzutreiben.
Die Ausrichtung auf diese Wirkungsziele wollen wir erneut anhand der Angebote im neunerhaus
Café und im Besonderen mit Blick auf ein spezielles Beratungsangebot zur Arbeitsmarktintegration
für Personen ohne sozialrechtliche Ansprüche aufzeigen. Dieses Beratungsangebot entstand, da
fehlende sozialrechtliche Ansprüche große Hindernisse für die Wohn- und Gesundheitsversorgung
sowie die materielle Grundsicherung darstellen. Zentrale Voraussetzung für die Ausweitung der
Handlungsmöglichkeiten dieser Personen ist die Aufnahme einer Erwerbsarbeit, wodurch deutlich
mehr Leistungen der sozialen und gesundheitlichen Absicherung zugänglich werden. Den diversen
Herausforderungen bei der Arbeitssuche wird durch ein Peer-Beratungsangebot begegnet, welches
durch den Einsatz von Erfahrungswissen gezielt unterstützt.
Ausgangspunkt für alle weiteren Schritte ist die Herstellung des Zugangs zu den Angeboten
im neunerhaus Café durch einladende Räumlichkeiten und selbstbestimmte Nutzungsmöglichkeiten
(Wirkungsziel 1). Die Stabilisierung der physischen und psychischen Gesundheit (Wirkungsziel 2)
wird durch den frisch zubereiteten Mittagstisch, einen wohltuenden Aufenthaltsort und die frei
zugängliche Beratung gefördert. Die Bearbeitung spezifischer Problemlagen (Wirkungsziel 3) ist
ein Kernelement des Beratungsangebots zur Arbeitsmarktintegration, wobei für die inhaltliche
Beratung und die Stärkung auf persönlicher Ebene insbesondere das Erfahrungswissen von
Peer-Mitarbeiter*innen genutzt wird. Dadurch wird das Vertrauen ins Hilfssystem (Wirkungsziel 4)
nachhaltig gestärkt. Durch gezielte Informationen, den Ausbau von Ressourcen und gut vorbereitete
Weitervermittlungen (Wirkungsziel 5) werden schließlich weitere Handlungsschritte aufgezeigt
und möglich gemacht. Die wahrgenommenen Exklusionsprozesse werden innerhalb des Teams
reflektiert, organisationsintern festgehalten und für Entscheidungsträger*innen zugänglich gemacht
(Wirkungsziel 6).
Die Verortung von Wirkungszielen auf individueller und systemischer Ebene und die Reflexion
darüber, wie diese ineinandergreifen, halten wir für essentiell für den Erfolg niederschwelliger
Angebote. Wirkungen auf individueller und systemischer Ebene stehen bis zu einem gewissen Grad
in Wechselwirkung miteinander: Für Erfolge auf individueller Ebene bedarf es oftmals entsprechender
Bedingungen auf systemischer Ebene, umgekehrt profitieren Entscheidungsträger*innen auf
systemischer Ebene von der Expertise, die im Rahmen der Interventionen und Beobachtungen auf
individueller Ebene generiert wird. Deshalb braucht es insbesondere für das sechste Wirkungsziel
(WahrnehmungundAufzeigenvonExklusionsprozessen)geeignetePlattformen,umdieErkenntnisse
aus der Arbeit mit benachteiligten Personengruppen auf systemischer Ebene einbringen und dort
Schritt für Schritt Verbesserungen der strukturellen Bedingungen hervorbringen zu können. Dies
zeigt auf, wie Soziale Arbeit durch eine kritisch-reflexive Haltung wichtige Impulse setzen kann.
Deren Relevanz wurde bereits in Kapitel 2.3 herausgearbeitet.
4
Soziale Sicherungssysteme durch niederschwellige Ausgestaltung
weiterentwickeln
Soziale Sicherungssysteme stehen vor einer paradoxen Herausforderung: Durch eine Fülle
von sozioökonomischen und gesellschaftspolitischen Dynamiken steigt die Relevanz von
Wirkmechanismen und Investitionen in soziale Sicherungssysteme, damit die soziale und finanzielle
Absicherung von vielen Personengruppen aufrechterhalten werden kann. Gleichzeitig erzeugen
gerade diese Dynamiken einen Verteilungskampf um staatliche Ressourcen und erhöhen den Druck
auf Leistungseinschränkungen. Die drohenden Konsequenzen davon sind Einschränkungen der
Funktionen sozialstaatlicher Leistungen auf individueller und gesellschaftlicher Ebene, wodurch
Risiken ansteigen und Absicherung abnimmt. Das wiederum erhöht den Druck auf spezifische
soziale Angebote, wie z.B. jene im Kontext der Wohnungslosenhilfe. Diese sind jedoch nicht darauf
ausgerichtet, größer werdende Lücken sozialer Sicherungssysteme zu kompensieren, und sie sind
bereits jetzt mit großen Herausforderungen konfrontiert. Wir plädieren deshalb für eine progressive
Weiterentwicklung sozialer Sicherungssysteme durch die systematische Integration eines
niederschwelligen Ansatzes. Die Ausführungen dieses Beitrags untermauern die Notwendigkeit
dieser Weiterentwicklung und stellen Impulse dafür bereit.
Aus unserer Sicht bietet eine solche Weiterentwicklung Antworten auf die zunehmend
komplexer werdenden Herausforderungen pluraler Lebenslagen und ermöglicht effektive
Unterstützung, da Zugänge zu Leistungen nicht nur bestehen bleiben, sondern verbessert werden.
Soziale Arbeit spielt im Zuge dessen eine wichtige Rolle, da sie fachliches Wissen über und Analysen
von Exklusionsprozessen zur Verfügung stellt.
Bei neunerhaus orientieren wir uns an der oben skizzierten niederschwelligen Arbeitsweise,
die im Kontinuum von Nieder- und Hochschwelligkeit (vgl. Kap. 3.2) situiert ist, und fokussieren die
Wirkungsziele (vgl. Kap. 3.3) auf individueller und systemischer Ebene, um eine gezielte und reflexive
Neu- bzw. Weiterentwicklung von Angeboten entlang der Bedarfe der Nutzer*innen voranzutreiben.
Es ist unser Anliegen, eine derartige Arbeitsweise auch an vorgelagerte Angebote des breiten
sozialen Sicherungssystems zu vermitteln, um gemeinsam an einer progressiven Weiterentwicklung
zu arbeiten – trotz und aufgrund bestehender gesellschaftlicher Krisendynamiken. Dafür gilt es, auf
BasisfachlicherundpraxisbezogenerExpertisegesellschaftspolitischeUngleichheitenzuanalysieren
und daraus folgend – im Sinne von Policy-Arbeit als Teil des Portfolios einer Sozialorganisation –
fundierte Lösungsvorschläge zu generieren.
Verweise
i Erläuterungen zu den Indikatoren siehe Statistik Austria (2025b).
ii
neunerhaus ist eine Sozialorganisation in Wien, die innovative Angebote in den Bereichen der Wohnungslosenhilfe und der
Gesundheitsversorgung setzt und darüber hinaus gezielt strukturelle Veränderungen im Sinne ihrer Vision verfolgt. Mehr Informationen
Literaturverzeichnis
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Über die Autor_innen
David Neusteurer, MA
Ist Sozialarbeiter und Sozialwissenschaftler. Als Referent für Grundlagen & Policy-Arbeit bei der
Sozialorganisation neunerhaus arbeitet er zu den Schwerpunkten Soziale Arbeit, Niederschwelligkeit
und Sozialpolitik.
Mag.a DSAin Elisabeth Hammer, MSc
Ist Sozialwissenschaftlerin, Geschäftsführerin der Sozialorganisation neunerhaus, Obfrau der
Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAWO) und Autorin verschiedener Publikationen
zum Thema Wohnungslosigkeit und Soziale Arbeit.