Brunner, Alexander/Bischeltsrieder, Anja/Wild, Gabriele (Hg.) (2025): Vom Fall zur Situation.
Zugänge und Positionen zum professionell-methodischen Handeln in der Sozialen Arbeit. Wien:
30. Ausgabe 2025
Hard-To-Reach or No Access?
Brunner, Alexander/Bischeltsrieder, Anja/Wild, Gabriele (Hg.) (2025):
Vom Fall zur Situation
Zugänge und Positionen zum
professionell-methodischen Handeln
in der Sozialen Arbeit
Wien: Löcker
Vom Fall zur Situation, der dritte Band der Reihe „Basiswissen Soziale Arbeit – kompakt und kritisch“,
bietet Einblicke in das Wesen der Methoden- und Handlungskompetenz der professionellen Sozialen
Arbeit, die der Komplexität des situativen Handelns gerecht werden und zudem spannend zu lesen
sind. Wie in den anderen Bänden der Reihe auch, sind die in diesem Sammelband besprochenen
Situationen bewusst in der spezifisch österreichischen Landschaft verortet, aber dass der fachliche
Blick dabei aus allernächster Nähe kommt, macht das methodische Geschehen über Ländergrenzen
hinweg greifbar und erkenntnisbringend.
In den von erfahrenen Sozialarbeiter:innen geschriebenen Beiträgen geht es – dem Titel
entsprechend – darum, über den Fall hinaus zu denken und sich in der Situation zu bewegen.
Professionsgeschichtlich situiert wird das Vorhaben durch eine knappe und klarsichtige
Beschreibung der Methodenentwicklung im deutschsprachigen Raum. Der Band bietet bewusst
nicht bloß eine weitere „Methodensammlung“ oder Besprechung der „Idee des methodischen
Handelns“ in Abgrenzung zur „Methoden-Anwendung“. Ausgehend von einer sozial- und
sozialarbeitswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Begriff „Situation“ wird stattdessen
eine Veranschaulichung und Meta-Reflexion des prozesshaften Vorgehens in der Sozialen Arbeit
unter Berücksichtigung kontextueller Faktoren angestrebt. Im Zuge dessen wird die gleichzeitige
Wichtigkeit von Methodenkompetenz, Erfahrungswissen, Subjektivitäten, kontextuellem Weitblick
und kritischer Haltung hervorgehoben. Gefühle, Kreativität und Improvisation als affektive Aspekte
gelten dabei erfrischender Weise als unverzichtbar für die professionelle Reflexion.
Dass sie sich dem Situationsbegriff zuwenden, begründen die Herausgeber:innen im ersten,
die folgenden Beiträge rahmenden Kapitel mit dem Ziel, „ein durch Fallkonzeptionen tendenziell
zu individualisierendes kasuistisches Denken […] zu erweitern“ (S. 22), nämlich um die vier
Dimensionen Wissen aus fachlichem Diskurs, Wissen und Können aus der Praxis, organisationale
Kontexte und Gesellschaft bzw. Sozialpolitik (vgl. S. 44). Aufgrund der in jeder Situation wirkenden
Machtverhältnisse gerät im Zuge dessen die Haltung in den Fokus:
„Über den engeren subjektiven und interaktionistischen Rahmen hinaus sind
Situationen durch zahlreiche andere Dimensionen wie Räumliches, Diskurse,
nichtmenschliche Akteur*innen oder institutionell-organisatorische Gegebenheiten
bestimmbar. Diese Dimensionen sind keine Randbedingungen von Situationen,
sondern wirken zentral auf die Akteur*innen ein. Sie müssen berücksichtigt werden,
damit nicht primär Menschen „methodisch“ behandelt werden, sondern in und mit
Menschen in komplexen Situationen methodisch gehandelt wird.“ (S. 22)
Diesem Statement gegen sozialtechnologisches Vorgehen entsprechend, folgt am Ende des
einleitenden Kapitels keine Diskussion des „richtigen“ methodischen Handelns, sondern es
werden Überlegungen zur Wichtigkeit der Haltung im Navigieren methodischer (Un-)Möglichkeiten
präsentiert.
Sieben Situationen
Entsprechend der Auffassung von methodischem Handeln als vielschichtigem Geschehen in
komplexen Situationen, werden die folgenden sieben Kapitel des Bandes in drei „Sozialformen der
Hilfe“(Individualhilfe,GruppenarbeitundGemeinwesenarbeit)eingeteilt,abernichtdadurchdefiniert.
Jeder Beitrag soll die Verflochtenheit der drei Ebenen veranschaulichen, indem die Erzählungen aus
der Sicht der Praktiker:innen vorgestellt werden. Ganz bewusst werden dabei die situativ bedingten
Reflexionsprozesse geschildert, die den gewählten Handlungsstrategien zugrunde liegen. Dadurch
werden nicht nur kontextuelle Faktoren greifbar, sondern auch das innere, professionelle Abwägen:
Wie und auf welcher Ebene kann und soll im jeweiligen Kontext gehandelt werden?
Der erste Beitrag von Anja Bischeltsrieder beschreibt eine Ausnahmesituation in der
Individualhilfe in einer Wohneinrichtung der Wohnungslosenhilfe. Organisationsvorgaben,
Teamabsprachen, Gepflogenheiten und individuelles Befinden überschneiden sich dabei und die
Sozialarbeiterin muss gleichzeitig Regeln einhalten und brechen, um Mensch und Situation gerecht
zu werden. Hier wird deutlich, dass die Rahmenbedingungen kreative und flexible (Ver-)Handlungen
verlangen, während letztere durch erstere erschwert werden.
Maria Fraissler erzählt im anschließenden Beitrag von der Begleitung einer Frau in einer
Gewaltschutzeinrichtung, die im Strafverfahren wütend machende Erfahrungen machen musste.
Wie sie methodisch vorgehen würde, kontrastiert Fraissler damit, wie sie in der konkreten Situation
vorgehen kann. Geschehnisse sind weder steuerbar noch vorhersehbar; gesellschaftlich bestimmte
Problemlagen sind nicht individuell lösbar. Fraissler schildert dabei das „Balancieren zwischen
emotionaler und sachlicher, auf problem- und lösungsorientierter Ebene“ (S. 81), welches ihr zufolge
nicht ohne Entschleunigung zu gewährleisten ist. Gemessen am Bedarf einer Klientin, die Gewalt
erfahren hat, fällt der Auftrag eng aus.
Gabriele Wild schildert in ihrem Beitrag die Arbeit mit einer Jugend-Gruppe im öffentlichen
Raum, für die Erfahrungswissen um die „Szene“ nötig ist, ebenso wie Sensibilität für die konkreten
Handlungsmöglichkeiten angesichts räumlicher Begebenheiten, des Gruppengeschehens sowie
der Gefühlslagen, Machtverhältnisse und Sichtbarkeiten. Wissen über Phasen und Rollen oder
das Erkennen von Auftragskonflikten helfen dabei, Komplexität wahrzunehmen. Um dieser gerecht
zu werden, sind sowohl ein Gespür für die facettenreiche Situation als auch fachliche Kreativität
gefragt.
Ebenfalls von der Arbeit mit Jugendlichen erzählt Verena Scharf. In diesem Beitrag steht der
Konflikt in einer Gruppe im Jugendtreff im Zentrum, und zwar über den Krieg in Israel/Palästina. In
einem ersten Schritt nimmt Scharf, mit Bezug auf antirassistische Ansätze, die eigene Erzählung
in den Blick, um den eigenen Blickwinkel sowie Vorgaben und Aufträge herauszuarbeiten. Danach
erzählt sie ein zweites Mal – nicht-problematisierend. So rückt sie die Situation selbst in den
Vordergrund und macht Handlungsmöglichkeiten sichtbar. Abschließend prüft sie Ansätze aus
der Themenzentrierten Prozessanalyse nach Behnisch auf ihr Potenzial für die Gestaltung von
Beziehungsangeboten, die möglichst frei von Machtasymmetrien sind.
Wolfgang Haydn und Barbara Stanek berichten von zwei Initiativen für junge Menschen in
sozialpsychiatrischen Wohngemeinschaften. In einer der geschilderten Situationen begegnen sich
die Menschen bei regelmäßigen Treffen zum Thema Selbstfürsorge. In der zweiten Situation geht es
um die Herausforderungen eines Urlaubs ohne die gewohnten Sicherheiten der Wohngemeinschaft.
Das behutsam gestaltete Treffen zur Selbstfürsorge kommt mit Wissen, Erfahrung und Kreativität
der Fachkräfte gut aus; der Urlaub hingegen erfordert mehr Teameinsatz, Ressourcen und
Unterstützung durch die Organisation. Die Autor:innen ziehen für alle Beteiligten Resumeé: Die
gemeinsame Überwindung schwieriger Situationen stärkt und macht eigene Potenziale sichtbar.
Christoph Stoik schildert eine Bürger:innen-Versammlung und erzählt von der
Schwierigkeit, eine geeignete Moderationsmethode hierfür auszuwählen. Er fächert die Erzählung
auf und bindet unmittelbare, fachliche und politische Begebenheiten ein, während er über die
zahlreichen Wahlmöglichkeiten reflektiert. Klar wird, dass die Entwicklung eines passenden
methodischen Zugangs nicht selbstverständlich und nicht „von der Stange“ zu kaufen ist, sondern
Sozialraumanalyse, Innovationskraft, kollegiale Zusammenarbeit, Zeit, Reflexionsbereitschaft und
Haltung verlangt.
Der Beitrag von Johannes Polt, der ebenfalls im Bereich der Gemeinwesenarbeit angesiedelt
ist, widmet sich den ungleichen Machtverhältnissen bei der Besiedelungsbegleitung eines
geförderten Neubauprojekts. Diese bestehen einerseits unter den Bewohner:innen, andererseits
gegenüber Systeminstanzen wie der Hausverwaltung, dem ordnungspolitischen Diskurs und
in Bezug auf Dynamiken der Armut. Parteilichkeit und fachliche Positionierung gegenüber der
Genossenschaft als Auftraggeberin stellen methodische Herausforderungen auf allen Ebenen
dar: „Die Auflösung dieses durch Marktlogik erzeugten Dilemmas ist nicht möglich, ein Austesten
dieser Grenze erfordert kommunikatives Geschick, kreative Lösungen und die Einbindung weiterer
Vernetzungsressourcen.“ (S. 172)
Insgesamt werden in den sieben beschriebenen Situationen keine „Fälle gelöst“, sondern
sie werden auf zahlreichen Ebenen „live“ beschrieben und reflektiert. Das Wechseln der Ebenen
Individuum-Gruppe-Gemeinwesen und das Navigieren im System der Auftragslogik sind überall in
derSozialenArbeitzentraleProzesse.ImvorliegendenBandkönntenberufserfahrenePraktiker:innen
lediglich eines vermissen, nämlich Ausführungen zu Verhandlungskompetenzen innerhalb von
Teams und Organisationseinheiten. Allerdings müssten die Autor:innen dazu noch viel stärker
anonymisieren, da solche konfliktträchtigen, internen Prozesse kaum an die Öffentlichkeit getragen
werden können.
Für Studierende eröffnet der Band den Blick auf eine reflektierte, kritische Praxis, jenseits
abstrakten Wissens und platter, zweidimensionaler Fallschilderungen. Für den Einsatz in der Lehre
ist der Band offenkundig hilfreich: Die Beiträge sind kompakt, die Schilderungen anschaulich und die
Sprache ist anspruchsvoll, ohne unzugänglich zu sein. Darüber hinaus wird die gelebte Reflexion im
Moment des Lesens selbst nochmal reflektierbar. Für Sozialarbeitende wird in Vom Fall zur Situation
die eigene Praxis als professionelles Handlungsgeschehen widergespiegelt und kann nach der
Lektüre sogar noch klarer gesehen werden. Im Vorwort spricht Josef Bakic entsprechend davon,
dass der Band „grundlegende Gedanken zum bisher so noch nicht publizierten Erfahrungswissen
Sozialer Arbeit in Form neuer Ordnungsversuche“ (S. 7) präsentiert. Dass im vorliegenden Band
dieses Erfahrungswissen tatsächlich publiziert und kritisch neu geordnet wird, muss jedem:r
nachdenkenden Praktiker:in im Herzen guttun und bringt auch neuen Schwung fürs kritische
Denken und Handeln. Nicht zuletzt kann dieser Band uns allen in der Sozialarbeitswissenschaft als
Nachweis und Vorbild dafür dienen, wie Nachdenken über Soziale Arbeit für, mit und aus der Praxis
geht.
180 Seiten / EUR 19,80
Antje Haussen Lewis