Hanna Lichtenberger. „Man kann schon sehen, dass da Unterschiede sind.“ Klassismus gegenüber armutsbetroffenen Eltern in
elementarpädagogischen Einrichtungen. Deutungen, Mechanismen und Dis-kriminierungserfahrungen. soziales_kapital, Bd. 31
31. Ausgabe, 2025
Geschlechtergerechtigkeit
„Man kann schon sehen,
dass da Unterschiede sind.“
Klassismus gegenüber armutsbetroffenen Eltern
in elementarpädagogischen Einrichtungen
Deutungen, Mechanismen und
Diskriminierungserfahrungen
Hanna Lichtenberger
Zusammenfassung
Die multiplen Krisen unserer Gegenwart verstärken Kinderarmut und die negativen
Folgen für die Betroffenen. Elementarpädagogischen Einrichtungen wird in der sozial- und
bildungspolitischen Debatte zumeist eine wichtige Rolle bei der Bekämpfung sozialer Ungleichheit
und der Prävention negativer Folgen von Kinderarmut zugeschrieben. Voraussetzung dafür
ist jedoch, dass die Einrichtungen und ihre Fachkräfte armutssensibel arbeiten. Der Artikel
präsentiert Forschungsergebnisse einer quantitativen Online-Befragung von 540 Mitarbeitenden
elementarpädagogischer Einrichtungen in Österreich. Untersucht wurden die Wahrnehmungen der
Fachkräfte hinsichtlich armutssensibler Strategien und Klassismus-relevanter Haltungen. Deutlich
wird: Fachkräfte kompensieren fehlende Informationen über Familiensituationen häufig durch das
Lesen sichtbarer „Armutsindikatoren“. Darüber hinaus verknüpfen sie Hinweise auf strukturelle
Hürden mit einer an der Erwerbsnorm ausgerichteten Bewertung elterlicher Erwerbsbiografien.
Drittens erschweren ein Gleichheitsparadigma sowie mangelnde personelle und finanzielle
Ressourcen der Einrichtungen die Umsetzung einer flächendeckenden armutssensiblen Strategie.
Schlagwörter: Kinderarmut, Klassismus, armutssensibles Handeln, Armutsprävention,
Elementarpädagogik, Armut
Abstract
The present moment is characterized by numerous crises, which have the effect of
intensifying child poverty and the negative consequences for those affected. In the context of social
and education policy debates, early childhood education and care (ECEC) institutions are typically
assigned an important role in addressing social inequality and preventing the adverse consequences
of child poverty. However, this presupposes that these institutions and their professionals work in
a poverty-sensitive manner. This article presents the findings from a quantitative online survey of
540 employees in ECEC institutions in Austria. The study examined professionals’ perceptions
regarding poverty-sensitive strategies and attitudes relevant to classism. The results reveal the
following: Firstly, in the absence of information regarding family circumstances, professionals often
compensate by relying on visible „indicators of poverty.“ Secondly, references to structural barriers
are linked by professionals to assessments of parents’ employment biographies that are aligned with
the norm of paid work. Thirdly, an equality-as-sameness paradigm, as well as insufficient personnel
and financial resources within institutions, impede the implementation of a comprehensive poverty-
sensitive strategy.
Keywords: child poverty, classism, poverty-aware action, poverty prevention, early childhood
education, poverty,
1
Einleitung
Kinderarmut ist eine zentrale Herausforderung für elementarpädagogische Einrichtungen –
schließlich ist in Österreich mehr als jedes fünfte Kind von Armut oder materieller/sozialer
Ausgrenzung bedroht (vgl. Statistik Austria 2025: 86). Der Auftrag elementarpädagogischer
Einrichtungen wird häufig mit der Trias Betreuung–Bildung–Erziehung beschrieben (für kritische
Reflexionen vgl. u.a. Holztrattner 2023: 6–8). Zusätzlich kommt ihnen ein Auftrag zur Herstellung
von „Chancen“ bzw. Armutsprävention durch die Politik zu (vgl. BGBl. Nr. 99/2009: Art. 1), was in
der Literatur differenziert betrachtet wird (vgl. z.B. Salchegger/Höller/Herzog-Punzenberger/Breit
2021). Die Expertin für frühkindliche Bildung und Bildungsungleichheit, Kirsten Fuchs-Rechlin,
betont, dass es besonders auf die Qualität einer elementarpädagogischen Einrichtung ankomme, ob
dort Chancengerechtigkeit umgesetzt wird (vgl. Fuchs-Rechlin 2020: 185, 192). Zu dieser Qualität
gehört „die lebensweltliche und alltagsorientierte Ausrichtung der Arbeit sowie die Einbindung der
Familien“ (Fuchs-Rechlin 2020: 219) ebenso wie eine armutssensible Ausrichtung auf allen Ebenen
(Zugang, Konzept, Interaktion, Organisation etc.) (vgl. ebd.).
Von diesen Überlegungen ausgehend präsentiert der folgende Artikel Forschungsergebnisse
zu Wahrnehmungen von elementarpädagogischen Fachkräften zum Thema Kinderarmut, die
insbesondere hinsichtlich armutssensibler Strategien oder Klassismus-relevanter Haltung
untersucht werden. Datengrundlage bilden eine quantitative Online-Befragung (Fragebogen mit
geschlossenen, halboffenen und offenen Fragen) von 540 Mitarbeitenden elementarpädagogischer
Einrichtungen in Österreich, die im Rahmen einer Kooperation der Volkshilfe Österreich und der
Kinderfreunde Österreich erstellt wurde.
2
Kinderarmut im Kapitalismus
Armut ist ein strukturelles, mehrdimensionales Phänomen, dessen Wurzeln in der Verfasstheit
kapitalistischer Gesellschaften liegen (vgl. Butterwegge 2021: 20). Armut ist zudem ein soziales
Verhältnis und Teil der sozialen Strukturbildung: Sie ist für die Reproduktion von ungleichen
Gesellschaften funktional. Kinderarmut stellt eine spezifische Form sozialer Ungleichheit dar, die
mit der geringen Verfügbarkeit von Ressourcen – also ökonomischem, kulturellem oder sozialem
Kapital (vgl. Bourdieu 2021: 195–209) – einhergeht. Kinderarmut ist demnach kein Sammelbegriff
für verschiedene benachteiligte Lebenslagen, sondern muss in der Intersektion mit anderen
Strukturkategorien (Generation/Alter, Staatsbürger:innenschaft, Geschlecht oder Gesundheit/
Körperlichkeit etc.) reflektiert werden (vgl. Hunner-Kreisel/März 2019: 133–137). Neben der
Ressourcenknappheit, die sich aus der gesellschaftlichen Positionierung ergibt, gilt es zusätzlich,
Klassismus als Unterdrückungsform zu reflektieren, wenn über soziale Ungleichheit gesprochen
wird. Der Begriff Klassismus beschreibt die Abwertung und Diskriminierung aufgrund der
Klassenzugehörigkeit bzw. -herkunft (vgl. Seeck/Theißl 2020: 11).
Ein Aufwachsen in Armut kann für Betroffene lebenslange negative Effekte bedeuten. Es gibt
zahlreiche Studien zu den Nachteilen und Ungleichheiten, die entlang dem Lebenslagenkonzept
(vgl. exemplarisch Holz/Laubstein/Seddig 2016: 40) in vier Dimensionen beschrieben werden
können: der materiellen, kulturellen, gesundheitlichen und sozialen (vgl. exemplarisch Butterwegge/
Holm/Imholz/Klundt/Michels 2003; WHO 2020). Die Langzeit-Untersuchungen aus dem
Forschungszusammenhang des Frankfurter Instituts für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS) im
Auftrag der Arbeiterwohlfahrt (AWO) zeigten u.a.,
-
dass armutsbedingte Ungleichheiten bereits im Vorschulalter zu Tage treten können (vgl.
Hock/Holz/Simmedinger/Wüstendörfer 2000: 47–60),
-
dass sich Armut auf alle Dimensionen des kindlichen Lebens auswirkt und dass
kompensatorische Unterstützungsnetzwerke außerhalb der Familien einen positiven Effekt
auf die kindliche Entwicklung haben können (vgl. Holz/Skoluda 2003: 52),
dassnegativeAuswirkungenaufdenEntwicklungsverlaufvonKindernumsostärkerauftreten,
je früher und länger diese Kinder unter Armutsbedingungen aufwachsen (vgl. Holz/Richter/
Wüstendörfer/Giering 2006: V).
-
Ob und welche (Langzeit-)Folgen Armut in der frühen Kindheit hat, hängt von vielen Faktoren
ab, etwa von der Qualität der familiären Beziehungen, vom sozialen und kulturellen Kapital der
Eltern, von der Frage eines sicheren Aufenthalts, des Umfeldes sowie ihren Handlungs- und
Bewältigungsstrategien, aber auch von der Qualität öffentlicher (und wohnortnaher) Infrastruktur
und anderer kompensatorischer Netzwerke, die das Kind beim Aufwachsen begleiten (vgl. Fuchs-
Rechlin 2020: 185–219; Hock/Holz/Kopplow 2014: 38–39; Holz 2021: 4–5).
3
Armutssensibles Handeln in elementarpädagogischen Einrichtungen
Elementarpädagogische Einrichtungen verfügen nicht über den politischen Gestaltungsspielraum,
Armut zu bekämpfen. Sie können aber Teil der oben genannten kompensatorischen Netzwerke
sein, die zusammen mit anderen Akteur:innen gegen die armutsspezifischen Nachteile betroffener
Kinder wirken – und zwar dann, wenn sie armutssensibel arbeiten. Armutssensibles Arbeiten meint
den Abbau „armutsbedingter Barrieren, Vermeidung von Stigmatisierungen und Partizipation an
allem, um allen Heranwachsenden Teilhabe an allem Geschehen zu ermöglichen“ (Holz 2021:
7–8). Armutssensibles Arbeiten bedingt ein wertschätzendes, informiertes und empathisches
Handeln gegenüber armutsbetroffenen Personen, ihrer Lebenslage sowie ihren Bedürfnissen und
Belastungen. Dies kann sich im zwischenmenschlichen Umgang, in Organisationen und auf der
Ebene der gesellschaftlichen Strukturen zeigen (vgl. Holz 2021: 7–9; Fuchs-Rechlin 2020: 221–222).
Voraussetzungen dafür, dass Fachkräfte armutssensibel handeln können, ist eine selbstreflexive
Professionalität, die die eigenen Bewertungsmuster (z.B. hinsichtlich elterlichen Entscheidungen)
kritisch und vor dem Hintergrund struktureller Armutsursachen im Blick hat (vgl. Holz 2021: 8–10;
Prigge/Lochner/Simon/Bastug 2019: 194). Letzteres ist von Bedeutung, wenn armutssensibles
Handeln nicht zu einer individuellen Haltungsfrage der Fachkräfte bzw. der Einrichtungen gemacht
werden soll. Armut ist ein für kapitalistische Gesellschaften konstitutives Ungleichheitsverhältnis,
das nicht durch seine „Pädagogisierung“ aufgehoben werden kann.
4
Forschungszugang und Daten
Im Sommer 2022 wurde im Zuge der Erarbeitung einer von den Kinderfreunden Österreich
und der Volkshilfe Österreich erarbeiteten Handreichung zu armutssensiblem Handeln in
elementaren Bildungseinrichtungen (vgl. Gruber-Pruner/Lichtenberger/Pfeifer/Rehner 2022) eine
quantitative Online-Umfrage durchgeführt. Die Umfrage richtete sich an Fachkräfte elementarer
Bildungseinrichtungen in Österreich und war über die Plattform Survio.com zugänglich (n=540
Personen). Zur Unterstützung der Akquise von Respondent:innen versendeten zwei private Träger
undeineArbeitnehmer:innenvertretungdenLinkanihreMitarbeitenden. Weiterswurdesieinsozialen
Medien und in themenrelevanten Newslettern beworben. Zusätzlich angeschrieben wurden zudem
Leitungen burgenländischer Gemeindekindergärten, weil die beiden Träger in diesem Bundesland
keine Kinderbetreuungseinrichtungen betreiben.
Überproportional viele Respondent:innen arbeiteten in Wien. Weiters ist zu beachten,
dass durch die freiwillige Online-Teilnahme nur ein kleiner Teil der Beschäftigten erreicht
werden konnte. Auch sind Leiter:innen der Einrichtungen stärker vertreten als beispielsweise
Elementarpädagog:innen und Kindergartenassistent:innen, die kaum am PC arbeiten bzw. nicht
immer über eine berufliche Mail-Adresse verfügen. Im Folgenden werden einige Ergebnisse der
quantitativen Umfrage vorgestellt, die für die Analyse besonders relevant sind.
Die Umfrage zeigt, dass die Mehrheit der Fachkräfte über den finanziellen Hintergrund
der Familien in den Einrichtungen eher wenig bis gar nichts weiß. Darüber hinaus fühlt sich ein
Drittel durch die Ausbildung nicht genügend vorbereitet auf den Umgang mit armutsbetroffenen
Familien. Die Fachkräfte wurden gebeten, jene drei Aspekte zu nennen, an denen sie Kinderarmut
am stärksten in ihrem Arbeitsalltag wahrnehmen (multiple choice):
-
-
-
-
59,3% nannten die „Ausstattung der Kinder“,
38,3% „Zahlungsprobleme beim Kindergartenbeitrag“,
32,0% „Abwesenheit bei kostenpflichtigen Aktivitäten“,
24,3% „Inanspruchnahme von Zuschüssen (z.B. Befreiung vom Essensbeitrag)“.
Anschließend wurden die Teilnehmenden nach Erfahrungen und Hinweisen zum Thema Kinderarmut
befragt. 78 Respondent:innen (14,4%) gaben zum Teil sehr umfangreiche Antworten. Diese wurden
mit MAXQDA nach Kuckartz und Rädiker (2020: 14) manuell und den Prinzipien einer inhaltlich
strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse konzept- und datengeleitet codiert. Sie werden folgend
und mit Blick auf das forschungsleitende Interesse nach Klassismen und armutssensiblen Strategien
dargestellt.
Tabelle 1: Überblick über die gebildeten Über- und Unterkategorien
4.1 Blick auf Ursachen von Armutslagen (strukturelles Phänomen, Flucht,
Migration, Erwerbsarbeit)
Die von den Fachkräften genannten Ursachen für Armutslagen lassen sich in drei Cluster bündeln:
Erstens gibt es jene Deutungen, die Armut als strukturelles oder mehrschichtiges Phänomen
verstehen. Mehrere Fachkräfte beschreiben Armut als Ergebnis ineinandergreifender Faktoren,
wie Arbeitsmarktchancen, Transferregime, hohe Fixkosten, und rücken damit gesellschaftliche
Rahmenbedingungen in den Vordergrund (Respondent:in (R): R 7; R 31; R 145; R 167).
Zweitens nennen die Fachkräfte Ursachen von Armut, die sich auf die Abweichung von
der Norm der (Vollzeit-)Erwerbsarbeit konzentrieren. Als bestehende Hürden hinsichtlich der
Arbeitsmarktintegration werden z.B. Sprache, Aufenthalts- und Arbeitsberechtigungen sowie
Care-Verpflichtungen genannt (vgl. etwa R 6, R 486). Derartige Argumente verbinden sich zum Teil
mit anderen Deutungen der Normabweichung: „Kindergarten bietet Eltern die Möglichkeit einer
Berufstätigkeit nachzugehen. Dies kommt leider durch sehr häufige Sprachbarrieren nicht zur
Umsetzung.ElternbekommenkeinenJob,weilsienichtDeutschsprechen,keineArbeitsberechtigung
haben oder nicht arbeiten wollen.“ (R 167; vgl. zu fehlender Erwerbsmotivation, auch im Kontext
hoher Transferleistungen R 223) Eine Fachkraft knüpft den Bezug von Versicherungs- bzw.
Transferleistungen an die Vollzeitarbeit eines anderen Haushaltsmitglieds (vgl. R 450; R 167). Solche
Aussagen verschränken strukturelle Barrieren mit Bewertungen von Erwerbslosigkeit bzw. geringer
Erwerbsintensität, wodurch systemische Herausforderungen als individuelles Wollen/Nicht-Wollen
umgedeutet werden.
Drittens sind in den Antworten der Fachkräfte Deutungen zu finden, die Flucht und Migration
als Risikokonstellation für Armut verstehen. Dies wird insbesondere in Bezug auf bestimmte Gruppen
(z.B. Menschen aus der Ukraine; vgl. R 373; R 508; R 246) argumentiert.
4.2 Dimensionen von Kinderarmut
Eingebracht wurden auch Beobachtungen zu Effekten von Armut in verschiedenen Bereichen (z.B.
Ernährung, Gesundheit, Übergang zur Schule, Wahrnehmungen zur materiellen Ausstattung). In
diesen Segmenten geht es weniger um die Beurteilung der Elternschaft als um die Aufzählung von
Herausforderungen für das armutsbetroffene Kind. Zum Teil sind diese Argumente verbunden mit
der Kritik an fehlender Infrastruktur, etwa hinsichtlich fehlender Logopädie-Kassenplätze (vgl. R
435; ähnlich R 351). Beschrieben wurden Lebenslagen besonderer Prekarität (vgl. R 290; R 199; R
202). Auch die Belastung durch Kosten wie den Betreuungsbeitrag bzw. Nebenkosten wurden von
den Respondent:innen thematisiert (vgl. R 425; R 16; R 429; R 427; R 515).
Dieser Überkategorie wurden auch Segmente zugeordnet, die Wahrnehmungen zu
Diskriminierung aufgrund von Armut zum Inhalt haben. Sie lassen sich unterscheiden in die
Wahrnehmungen von Diskriminierung durch Gesellschaft, Politik und Verwaltung einerseits (vgl. R
484; R 247) und andererseits die Diskriminierung durch elementarpädagogische Fachkräfte (vgl.
z.B. R 484; R 6). In diesem Zusammenhang wird auch die Tabuisierung von Armut im beruflichen
Kontext kritisiert (R 144; R 6). Zu klassistischer Abwertung von Kindern durch Kinder gibt es kein
Fragment.
4.3 Erweiterung bzw. Umdeutung des Armutsbegriffs
IndenAntwortenderFachkräftefindensichauchStrategien,dieaufeineErweiterungbzw.Umdeutung
des Armutsbegriffs hindeuten. Dabei wird Armut umgedeutet und der Begriff bezeichnet nicht mehr
nur eine Positionierung in der Gesellschaft, sondern eine Qualität der sozialen Familienbeziehungen,
beispielsweise wenn von der „Armut an Familienleben“ (R 185; vgl. auch R 488) die Rede ist. Den
Begriff „emotionale Armut“ verwenden drei Respondent:innen etwa wie folgt: „Oft hapert es an der
sozialen, emotionalen Armut und der Eigenverantwortung der Eltern (Erziehungspflicht)“ (R 513; vgl.
auch R 235; R 33).
4.4 Beurteilung von Elternschaft Armutsbetroffener
Der Überkategorie „Beurteilung von Elternschaft Armutsbetroffener“ wurde ein Viertel der codierten
Segmente zugeordnet. Sie besteht aus den folgenden fünf Untercodes: Kritik am (vermeintlich)
fehlendenBewusstseinfürBildungundindividuelleFörderung(4.4.1), KritikanfehlenderZuwendung,
Liebe, Ansprache (4.4.2), Vernachlässigung von Grundbedürfnissen (4.4.3), mangelnde finanzielle
Kompetenz (falsche Prioritätensetzung beim Haushaltsbudget (4.4.4), fehlende Bereitschaft, Hilfe
anzunehmen (4.4.5).
4.4.1 Kritik am fehlenden Bewusstsein für Bildung und individuelle Förderung
Diese Bewertung armutsbetroffener Elternschaft ist besonders relevant für die Ausgestaltung
der Bildungspartner:innenschaft mit den Eltern und damit für die armutssensible Praxis. In den
Antworten findet sich z.B. die Deutung, dass Armutsbetroffene der Bildung ihrer Kinder keine oder
zu wenig Bedeutung beimessen (vgl. z.B. R 14; R 170, R 176, R 475). So wurde z.B. geurteilt,
dass diese Gruppe „kein Geld für Bildung investieren“ wolle. Die Bildungsferne der Eltern wird in
einem weiteren Fragment als Ursache dafür gesehen, dass professionelle Förderangebote nicht
angenommen werden (vgl. R 235).
4.4.2 Kritik an fehlender Zuwendung, Liebe, Ansprache
Wie schon bei der Umdeutung des Armutsbegriffs deutlich wurde, bringen Respondent:innen
Armut auch in Zusammenhang mit fehlender Zuwendung und Liebe durch die Eltern (vgl. R 185; R
31; R 235). Die Anforderungen an gute Elternschaft beschreibt eine Fachkraft wie folgt: „Die einzige
Forderung an Eltern ist, ihrem Kind so viel und so gut sie können Liebe, Geborgenheit, Zeit und
Sicherheit zu schenken.“ (R 31) Dies blendet andere Erfordernisse (z.B. materielle Sicherheit) aus
und impliziert zugleich, die hier formulierte Norm werde im Zusammenhang mit Armut zumindest
seltener erfüllt. Eine Fachkraft verbindet fehlende Zuwendung auch mit erhöhtem Medienkonsum
(vgl. R 235).
4.4.3 Vernachlässigung von Grundbedürfnissen
Von den Fachkräften werden außerdem Probleme bei der Erfüllung von Grundbedürfnissen, wie
Hygiene oder Bekleidung, angesprochen, die auch Vernachlässigung implizieren: „Häufigste
Auffälligkeiten sind zu kleine Schuhe, Jacken, kaputtes Gewand, Kinder gehen wenig duschen
und sind schmutzig – stinken.“ (R 290; vgl. auch R 261) Auch bei der Versorgung mit (gesunden)
Lebensmitteln werden Versorgungsmissstände angesprochen (vgl. R 512; R 501; R 202).
4.4.4 Mangelnde finanzielle Kompetenz (falsche Prioritätensetzung beim
Haushaltsbudget)
Bestehende Versorgungslücken werden in zahlreichen Antworten mit vermeintlichen
Fehlentscheidungen armutsbetroffener Eltern beim Einsatz des Haushaltsbudgets in Verbindung
gebracht: „Leider habe ich schon die Erfahrung gemacht, dass manchen Eltern gewisse
Statussymbole (Auto, teure Schuhe,...) wichtiger/mehr wert sind, als die Förderung und gute
Versorgung ihrer Kinder :-(“ (R 14; vgl. R 545) Neben der Anschaffung dieser „Statussymbole“
wird auch der Kauf von elektronischen Geräten (vgl. R 461), Zigaretten (vgl. R 170; R 513), Alkohol
(vgl. R 501; R 513) oder inadäquatem Spielzeug kritisiert: „Oft ist zu beobachten, dass zu oft zu
viel Unnötiges gekauft wird (ungesundes Essen, kleine Spielmitbringsel). Für passende adäquate
Kleidung sind dann oft keine finanziellen Mittel mehr übrig.“ (R 202)
Eingefordert wird explizit oder implizit eine Privilegierung der Bedürfnisse der Kinder
bzw. dessen, was als Erfordernis für die Kinder gesehen wird (vgl. R 14; R 170). Angesichts der
fehlenden finanziellen Kompetenzen wird vorgeschlagen, Transferleistungen über zweckgebundene
Gutscheine (vgl. R 186; R 170; R 202; R 64) auszuzahlen oder den falschen Einsatz der Ressourcen
durch Kontrollen (vgl. R 153; R 512; R 501) zu verhindern. Armutsbetroffene werden hier primär
als Leistungs-Empfänger:innen gedeutet, die „Unterstützung in der Haushalts-Finanzplanung“
(R 202) benötigen. Eine Fachkraft unterstellt Familien, mehr Kinder zu bekommen, um höhere
Transferleistungen zu erhalten (vgl. R 171).
4.4.5 Fehlende Bereitschaft, Hilfe anzunehmen
Eine weitere Dimension der Beurteilung schlechter Elternschaft ist die fehlende Bereitschaft, Hilfe
anzunehmen bzw. Anweisungen der Fachkräfte zu folgen (vgl. z.B. R 235; R 3; R 31). In diesem
Kontext gibt es auch Segmente, die Deutungen zu Scham und Angst vor Diskriminierung beinhalten
(vgl. R 241; R 253; R 435). So wird betont, dass Eltern die „Armut verstecken“ (R 280), wodurch
Unterstützung erschwert wird (vgl. R 280; R 24). Hinsichtlich der Thematisierung von Scham können
zwei Stoßrichtungen in den Antworten unterschieden werden: Einerseits werden die eigene Praxis
sowie Notlagen und Strategien von Betroffenen reflektiert (vgl. z.B. R 253), andererseits wird das
Sprechen über Scham durch die Reflexion von Beschämung in der Einrichtung ersetzt: „Den Eltern
ist es eher peinlich, wenn sie Briefe mit Rechnungen bekommen und möchten dies meist nicht vor
anderen Eltern bekommen.“ (R 195)
4.5 (Kein) Armutssensibles Handeln
In dieser Überkategorie wurden Deutungen der Fachkräfte analysiert, die den Auftrag elementarer
Bildungseinrichtungen im Kontext Armut abwehren, solche, die auf der Grundlage eines
Gleichheitsparadigmas mit Kindern und Familien arbeiten, und solche Antworten, in denen
armutssensible Strategien/Erfahrungen individueller Fachkräfte und/oder Einrichtungen deutlich
werden.
Das Anerkennen eines Auftrags der Elementarpädagogik hinsichtlich Armutsprävention
ist Grundlage für eine armutssensible Praxis. Weniger als jede:r zehnte Respondent:in ist jedoch
der Ansicht, dass die Milderung/Bekämpfung von Armut kein Teil des Auftrags elementarer
Bildungseinrichtungen ist. In den offenen Antworten finden sich Segmente, die diese Ablehnung
begründen. Eine Fachkraft argumentiert: „Ich denke, dass die Elementarpädagogik selbst genug
‚Baustellen‘ hat – daher denke ich nicht, dass es die Aufgabe der Pädagog*innen sein kann, Eltern
auch noch bezüglich ‚Armut‘ zu unterstützen.“ (R 164; vgl. auch 144) Eine andere Person wehrt den
Auftrag aufgrund fehlender personeller Ressourcen ab (vgl. R 261).
Einige Segmente implizieren ein „Gleichheitsparadigma“ in Bezug auf die Kinder in der
Einrichtung. Diesen Deutungen entsprechend sind alle Kinder gleich, „egal ob Arm oder Reich“,
sie müssen „gleich behandelt werden in den Einrichtungen“ (R 216; vgl. auch R 370). Dabei
wird Gleichheit nicht notwendig vorausgesetzt, sondern zum Teil auch als Ergebnis konkreter
Handlungen verstanden, die jedoch an unterschiedliche Akteur:innen rückgebunden werden: In
den Antworten wird sie zum einen als Resultat der Interaktionen der Kinder (wie verhalten sich
die Kinder untereinander, wie nehmen sie Armut wahr) ausgelegt, zum anderen als Ergebnis des
professionellen Handelns seitens der Fachkräfte thematisiert (vgl. z.B. R 6 vs. R 283). Ersteres kann
dazu führen, die Verantwortung für die Herstellung von „Gleichheit“ an die Kinder abzugeben und
sie nicht als Ergebnis der Arbeit der Beschäftigten bzw. als ihre Verantwortung zu sehen.
In zahlreichen Antworten wird von Erfahrungen und konkreten Ideen in Gruppen/
Einrichtungen berichtet, die im Sinne einer armutssensiblen Praxis bereits umgesetzt werden oder
als solche gewertet werden. Dazu gehören einerseits der Verweis auf armutssensible öffentliche
Infrastruktur und Sozialpolitik (vgl. R 16) und andererseits individuelle Strategien, die einzelne
Fachkräfte umsetzen: „Ich selber borge Familien Spielmaterialien, wasche immer wieder Wäsche
im Kiga und stelle den Kindern Kleidung zur Verfügung“ (R 144; vgl. auch R 279). Aber auch die
Strategien von Einrichtungen werden genannt: „In unserem Kindergarten versuchen wir den Eltern
durch Senkung der Betreuungsbeiträge entgegen zu kommen, auch wenn das bedeutet, dass der
Verein davon Schaden nimmt.“ (R 267; vgl. auch R 199)
4.6 Wunsch nach Veränderung
Einige Respondent:innen formulierten den Wunsch nach Veränderung im Kontext der
Armutsprävention. Diese zielen entweder darauf ab, armutsbetroffene Kinder in den Einrichtungen
effektiver unterstützen zu können, oder darauf, Kinder generell besser abzusichern. So äußerten
Fachkräfte den Wunsch nach einem beitragsfreien bzw. leistbaren Kindergarten (vgl. R 5),
einer „Grundausstattung an Kleidung“ (R 297) in den Einrichtungen und Weiterbildung (vgl. R
131; R 182; R 298), Hilfestellungen für die Kommunikation mit armutsbetroffenen Familien (vgl.
R 59) sowie Informationen zu Stellen, an denen Armutsbetroffene finanzielle Hilfen erhalten
(vgl. R 58; R 302). Auch Rufe nach einer besseren finanziellen Absicherung von Familien im
Allgemeinen und armutsbetroffenen Familien im Besonderen, nach strukturellen Verbesserungen
der Arbeitsbedingungen in der Elementarbildung oder der Realisierung von Kinderrechten und
kindgerechten Investitionen sind enthalten (vgl. R 147; R 256; R 429; R 469, R 480).
5
Armutssensibles Handeln unter prekären Bedingungen – Reflexion der
empirischen Daten
Armutsbekämpfung übersteigt den Handlungsspielraum elementarer Bildungseinrichtungen,
denn die Wurzeln von Armut liegen in der gegenwärtigen Gesellschaftsformation. Entsprechend
widersprüchlich ist der gesellschaftliche Auftrag an elementarpädagogische Einrichtungen,
Chancengerechtigkeit zu fördern und armutspräventiv zu wirken. Nichtsdestoweniger können
elementarpädagogische Einrichtungen armutssensibel handeln und Beschämung verhindern.
Daher ist es notwendig, sich mit den Wahrnehmungen der Fachkräfte analytisch zu beschäftigen
und zu untersuchen, wo klassistische Zuschreibungen passieren.
Aus der Zusammenschau der vorgestellten Ergebnisse ergibt sich ein ambivalentes
Bild hinsichtlich des armutssensiblen Handelns in elementarpädagogischen Bereichen. Wie
folgend gezeigt wird, wurden zum einen klassistische, für eine armutssensible Arbeit hinderliche
Argumentationen gefunden (5.1). Als zentrale Herausforderungen für armutssensibles Handeln
erweisen sich zudem das Gleichheitsparadigma, die Wahrnehmungen zu Scham sowie die
Umdeutung des Armutsbegriffs und der Personalmangel (5.2). Zu guter Letzt finden sich im Material
Hinweise darauf, dass armutsspezifische Ungleichheiten und bestehende Diskriminierung sehr wohl
erkannt und bearbeitet werden. So nannten Fachkräfte armutssensible Strategien, sie äußerten
Kritik an den Bedingungen elementarpädagogischer Arbeit und thematisierten Kinderarmut als
gesellschaftliches Problem (5.3).
5.1 Klassistische, für armutssensible Arbeit hinderliche Argumentationen
Die erhobenen Daten zeigen, dass Fachkräfte in elementaren Bildungseinrichtungen oft nur
unzureichend über die finanzielle Situation der Familien informiert sind. Das führt dazu, dass fast
60% der Fachkräfte Kinderarmut nur anhand der Ausstattung als ‚Armutsindikator‘ (vgl. Kerle/
Schäfer 2023: 33) erkennen. Dies begünstigt die Reproduktion klassistischer Vorurteile – besonders
wenn diese Armutsindikatoren mit einer Bewertung der Eltern in Verbindung stehen. Zahlreiche
Segmente enthalten Differenzierungen zwischen ‚guter‘ und ‚schlechter‘ Elternschaft und zeigen
klassistische Argumentationsmuster. Gemeint sind damit Abwertungen armutserfahrener Eltern
Simon/Prigge/Lochner/Thole 2019). Abwertungen finden sich mit Blick auf die Hygiene, Ernährung,
Zuwendung, Bildung und insbesondere hinsichtlich der Verwendung des Haushaltsbudgets.
Beispielhaft dafür sei nochmals das vorhergehend bereits genannte Zitat angeführt: „Oft
ist zu beobachten, dass zu oft zu viel ‚Unnötiges‘ gekauft wird (ungesundes Essen, kleine
Spielmitbringsel [...]).“ (R 202) Grundlage dieser Aussage ist eine Vorstellung vom Nötigen (gesundes
Essen und gutes Spielzeug), wobei unterstellt wird, dass armutsbetroffene Eltern dieses „oft“ nicht
gewährleisten. Gleichzeitig werden finanzielle Kompetenzen infrage gestellt. Kerle und Schäfer
(2023) argumentieren mit Bezug auf Bourdieu, dass erst eine größere Menge an Kapital einen
legitimen Habitus konstituiert (vgl. Bourdieu 2021: 382). So kann ein „kleines Spielmitbringsel“ eine
legitime Kaufentscheidung sein, armutsbetroffenen Personen wird dies aufgrund ihrer finanziellen
Situation jedoch abgesprochen. Die Beweggründe dafür, warum „kleine Spielmitbringsel“ gekauft
werden, werden ausgeblendet. Neben der kritischen Reflexion der eigenen Bewertung von Gütern
ist es von Bedeutung, „den Blick auf die Klassenposition“ zu wenden, „um Gewalt von Klassismus
umfänglich erfassen zu können“ (Kerle/Schäfer 2023: 33). So könnte es sein, dass Spielsachen
der Vorrang gegeben wird, weil z.B. größere Wünsche nicht erfüllt werden können oder dies den
Vorlieben/Spielroutinen des Kindes entspricht.
Im Mittelpunkt der zitierten Aussage, die exemplarisch für dieses Segment ist, steht die
Kritik an der (schlechten, unzureichenden etc.) Bewältigung der Armutslage (Unnötiges wird
gekauft), nicht der Umstand der Armut selbst. Die Thematisierung falscher Prioritätensetzung im
Haushaltsbudget folgt dem klassistischen Narrativ des „unökonomischen Verhaltens“ (Kerle/Schäfer
2023: 33). Dieses trägt dazu bei, dass Armut als „selbstverschuldet gedeutet und individualisiert“
(ebd.) wird. Dies ist ein zentrales Merkmal gegenwärtiger „Unterschichtsdiskurse“ (Chassé 2016:
35–37). Mit Bourdieu kann zudem darauf verwiesen werden, dass Geschmack und Vorlieben (z.B.
bei Spielsachen) klassenspezifisch geprägt sind. Seitens der Fachkräfte könnten sie auch ein Mittel
In Antworten, die sich mit der Verbindung von Armut und (Nicht-)Erwerbstätigkeit
beschäftigen, wurde einerseits ein Bewusstsein für strukturelle Herausforderungen deutlich, mit
denen bestimmte Gruppen am Arbeitsmarkt konfrontiert sind. Andererseits gab es auch Deutungen
zum unterstellten fehlenden „Arbeitswillen“. Verlängert wird dadurch das Narrativ und mithin die
diskursive Trennung von „würdigen“ und „unwürdigen“, also unschuldigen und selbstverschuldeten
Armen (vgl. exemplarisch Kerle/Schmidt/Ober/Bliemetsrieder/Weise 2019). Zugleich wird eine Norm
von Erwerbsarbeit unterstellt. Eltern, die dieser nicht entsprechen wollen, werden individuell für ihre
Armutslage, aber auch für die ihrer Kinder verantwortlich gemacht.
5.2 Herausforderungen für armutssensibles Handeln
Als besonders herausfordernd für armutssensibles Handeln kann das in den Segmenten gefundene
Gleichheitsparadigma betrachtet werden. Kerle (2021) versteht dies als „Inszenierung des positiven
Blicks“, der dazu führen kann, dass Armut und/oder armutssensibles Handeln von den Fachkräften
als irrelevant identifiziert werden. Das Problem an der – sicherlich wünschenswerten egalitären
– Gleichbehandlung ist natürlich, dass eben nicht allen Kindern die gleichen Ressourcen zur
Verfügung stehen. Entsprechend betont auch Holz (2021: 5): „Präventionsgrundsatz ist ‚Ungleiches
muss ungleich behandelt werden‘“.
Eine weitere Herausforderung ist der Umgang mit Scham, insbesondere wenn die Scham
der Eltern als Reaktion auf ihre Armutslage, nicht als Reaktion auf Beschämung gedeutet wird.
Je weniger strukturelle Ursachen von Armut und die damit einhergehenden gesellschaftlichen
Abwertungen bei den Fachkräften präsent sind, je wahrscheinlicher ist die Wahrnehmung von Scham
als individuellem Problem der Eltern (vgl. Prigge/Simon/Kerle 2023: 193–195; vgl. weiterführend
Kerle/Prigge/Simon 2022: 32–35). Dieser Deutung zufolge können sich Eltern ‚doppelt schuldig
gemacht‘ haben: Wie vielfach nahegelegt wurde, ist die Scham aufgrund der selbstverschuldeten
Armutslage auch der Grund dafür, bestimmte Unterstützungsleistungen nicht anzunehmen.
Versuche, Armut umzudeuten und verschiedene Probleme, wie ein anregungsarmes Umfeld,
fehlendeZuwendung, FormenderVernachlässigungetc., unterdenBegriffderArmutzusubsumieren
(vgl. dazu auch Kerle et al. 2019: 45), bezeichnen Simon, Kerle und Prigge (2022: 98–108) als
klassistische Strategie der „Ent_nennung“. Strukturelle/materielle Ursachen von Armut (z.B. im
Rahmen des postfordistischen Arbeitsmarktes; vgl. Chassé 2016: 46–48) werden ausgeblendet. Das
könnte dazu führen, dass auch der armutssensible Handlungsauftrag von Fachkräften umgedeutet
wird. Der vielfach benannte Umstand, dass eine „individuelle Förderung von Kompetenzen und
Interessen der Kinder mit unseren Personalschlüsseln und der Vertretungssituation einfach nicht
möglich“ (R 515, vgl. auch R 261; 425; R 480) sei, stellt eine weitere Herausforderung für eine
armutssensible Praxis dar.
5.3 Vorhandene armutssensible Strategien und Deutungen
ImempirischenMaterialwerdenDeutungenundStrategiensichtbar,dieimSinneeinesarmutssensiblen
Handelns bereits von Fachkräften und/oder Einrichtungen umgesetzt werden. So zeigten zahlreiche
Segmente, dass es Wissensbestände über die mit Armut zusammenhängenden Ungleichheiten
beim Kind, das Anerkennen und Erkennen von Diskriminierung sowie kompensatorische Strategien
von Fachkräften und Einrichtungen gibt.
Dass eine armutssensible Arbeit in elementarpädagogischen Einrichtung nicht alleine
eine Haltungsfrage der Pädagog:innen ist, die auf der Ebene des kulturellen Kapitals von
Armutsbetroffenen adressiert werden kann, wird von Kerle (2021: 193) unterstrichen – dies führe zu
einer „zunehmenden Entpolitisierung der pädagogischen Praxis“ (ebd.: 194). Auf den „handfesten
Skandal“ Kinderarmut (Butterwegge 2021: 19) hinzuweisen, könnte Teil eines an den Kinderrechten
orientierten politischen Handlungsauftrags der Elementarpädagogik sein – auch und gerade
angesichts des politischen Mandats der Sozialen Arbeit.
6
Abschluss
Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung unterstreichen, dass elementarpädagogische
Einrichtungen nicht per se Orte sind, an denen Ungleichheit ausgeglichen wird. Vor allem
dann nicht, wenn personelle, armutssensible und multiprofessionelle Ressourcen fehlen und
armutsbekämpfende Sozialpolitik nicht die Realität ist. Deutlich wird, dass Armut, armutssensible
Sprache und Klassismus-Reflexion wichtige Bestandteile des Lehrplans für Elementarpädagogik
sein und sich auch in der Weiterbildung wiederfinden müssen. Denn klassismuskritische
Reflexionen sind für die Arbeit mit armutsbetroffenen Familien von großer Bedeutung. Von ebenso
großer Relevanz ist es, die strukturellen Ursachen von Kinder- und Familienarmut zu überwinden
und allen Kindern in Österreich ein Aufwachsen ohne Armut zu garantieren. Die Ergebnisse zeigen
darüber hinaus, dass eine armutssensible Soziale Arbeit in elementarpädagogischen Einrichtungen
dringend nötig ist – insbesondere wenn es um die Beziehungsarbeit und nachhaltige Unterstützung
der Eltern geht.
Aus einer sozialpolitischen Perspektive ist festzuhalten: Während mit dem Chancen-Index
für Schulen bereits ein Modell zur sozialindizierten Ressourcenverteilung existiert, fehlt es derzeit
an Ideen für ein vergleichbares Modell für elementarpädagogische Einrichtungen. Derzeit gibt
es keinen kostenfreien Zugang zu elementarpädagogischen, den Kriterien für Vereinbarkeit von
Beruf und Familie entsprechenden, qualitativ hochwertigen und armutssensiblen Bildungsplätzen
in ganz Österreich. Dafür braucht es Investitionen, die angesichts der aktuellen budgetären Lage
noch weiter auf sich warten lassen – und das, obwohl die negativen Folgen von Kinderarmut die
Gesellschaft viele Milliarden Euro im Jahr kosten.
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(31.10.2025)
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Über die Autorin
Hanna Lichtenberger
Ist Sozialwissenschafterin und leitet das Team „Sozialpolitik und Forschung“ in der Volkshilfe
Österreich. Sie forscht zu Kinderarmut und Sozialpolitik und lehrt an diversen Hochschulen.