soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 19 (2018) / Rubrik "Editorial" / Redaktion soziales_kapital
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/574/1035.pdf


Editorial Online-Journal „soziales_kapital“

19. Ausgabe März 2018: Sozialraum / Community Development


Mit dem Schwerpunkt dieser Ausgabe haben die Redakteur*innen zwei Begriffe in den Mittelpunkt gestellt, die aufgrund ihres historischen Ursprungs und ihrer diskursiven Verortung das weite Feld der Gemeinwesenarbeit umreißen. Community Development, hier verstanden als „Gemeindeentwicklung“, fungiert meist als Sammelbegriff, mit dem lokale Aktivitäten gefasst werden, um herausfordernde Lebenssituationen in Zusammenarbeit mit der Bevölkerung „vor Ort“ zu bearbeiten und Entwicklungsimpulse zu setzen. Zugleich ist dem Begriff der Community im Sinne von Gemeinschaft mit Vorsicht zu begegnen, denn in seiner holistischen Konzeption verweist er dann auf soziale Gruppen mit einem starken „Wir-Gefühl“ und ist dann mit immanenten Schließungs- und Ausgrenzungseffekten verbunden. Insofern ist das Spektrum von Community-Development-Projekten breit, in dem neben emanzipatorischen oder staatzentrierten auch neo-kommunitaristische oder antistaatliche Zugänge von lokaler Gemeinschaftlichkeit auftauchen können.

Der Ansatz des Community Organizing dagegen steht in der US-amerikanischen Tradition für die Organisation der Wohnbevölkerung sowie für die Vernetzung von Initiativen, Gruppen und Vereinen, um die gesellschaftlichen Machtbeziehungen zu verändern und die Lebenslage der Menschen in „benachteiligten“ Stadtteilen zu verbessern (vgl. Rothschuh 2013: 375-376). Für die sich langsam seit den 1970er-Jahren etablierende professionsbezogene Gemeinwesenarbeit im deutschsprachigen Raum war beispielsweise Saul Alinskys Ansatz des Community Organizing prägend. Sein 1971 veröffentlichtes Werk „Rules for Radicals. A practical Primer for realistic Radicals“ (Alinsky 1989[1971]) entwickelte sich zum ‚Importschlager‘ und wird gemeinhin als eine politisch-ermächtigende Variante von Gemeinwesenarbeit gelabelt (vgl. Galuske 2007: 104-105). Seit den 1990er-Jahren scheinen intermediäre Praxiskonzepte vielerorts gesellschaftskritische Initiativen der Gemeinwesenarbeit bzw. des Community Organizing zunehmend abzulösen. Mit der sogenannten „Raumwende“ in den Sozialwissenschaften entwickelte sich zur gleichen Zeit der Begriff Sozialraum zu einer analytischen Referenz, auch für Konzepte der Gemeinwesenarbeit. Dabei stellt sich die Frage, inwiefern das Arbeitsprinzip der Gemeinwesenarbeit (vgl. Boulet/Krauss/Oelschlägel 1980) theoretisch und konzeptionell reaktualisiert werden kann oder auch durch Ansätze von „Sozialraumarbeit“ (Kessl/Reutlinger 2013) weiterentwickelt werden können.

Mit der Ausschreibung des Themenschwerpunktes war für die Standortredaktionen also das Interesse verbunden, Autor*innen zu motivieren, ihre fachlichen Perspektiven und theoretischen Positionen zu Community Development, Gemeinwesenarbeit und Sozialraum sichtbar zu machen. Denn abseits des „Handbuchs Gemeinwesenarbeit“ (Stövesand/Stoik/Troxler 2013), in dem „Traditionen und Positionen, Konzepte und Methoden“ für Deutschland, Schweiz und Österreich zusammengetragen wurden, ist die deutschsprachige Debatte zur „GWA“ kaum gebündelt. Mit dieser Ausgabe konnten wir sechs Artikel zum Schwerpunkt versammeln, aber auch in den Rubriken Werkstatt und Rezensionen finden sich Beiträge, die einen vielseitigen Blick auf den österreichischen/deutschsprachigen Fachdiskurs zum Thema werfen.

Mit Blick auf die sechs in der Rubrik „Thema“ eingereichten Artikel setzen die Beiträge von Manuela Hofer zu „Street Harassment als Gewalt im öffentlichen Raum“ und Christian Reutlinger zu „Community Work“ explizit an US-amerikanische Debatten oder Traditionen an. Manuela Hofer skizziert die hierzulande kaum rezipierte Auseinandersetzung zu Geschlechtergewalt im öffentlichen Raum und gibt produktive Anregungen, wie Soziale Arbeit zu einem „belästigungsfreien Raum“ beitragen kann. Christian Reutlinger rekonstruiert mittels metaphorischer Bilder der (Un-)sichtbarkeit US-amerikanische Positionierungen von „Community work“, wobei er sich resümierend für eine räumlich-reflexive Haltung einer „politischen Gemeinwesenarbeit“ einsetzt.

Die Beiträge von David Lemmerer sowie Bernd Rohrauer werfen einen explizit raumrelationalen Blick auf städtische Gebiete in Wien. David Lemmerer erörtert differente „Rationalisierungsweisen“ von Angeboten aufsuchender Sozialer Arbeit und Stadtteilmanagement im Entwicklungsgebiet rund um den Wiener Hauptbahnhof und zeigt Zusammenhänge zu Programmatiken „unternehmerischer Stadtpolitiken“ auf. Bernd Rohrauer diskutiert die Bedeutung von „Freiräumen im Wohnumfeld“, wobei er einerseits vor aktivierenden Strategien von Gemeinwesen- bzw. Stadtteilarbeit warnt und andererseits aus empirischen Ergebnissen Anregungen für eine „ermöglichende Rolle sozialräumlicher Sozialer Arbeit auf der Mikroebene“ formuliert.

Die beiden Beiträge von Anna Riegler und Helga Moser sowie Christoph Stoik zielen u. a. darauf ab, fachliche Perspektiven für das Konzept der Gemeinwesenarbeit zu formulieren. Ansetzend an den Ergebnissen eines zweijährigen Forschungsprojekts zu „Anerkennung und Partizipation von Migrant*innen“ entwickeln Anna Riegler und Helga Moser einen „standpunktsensiblen Blick“ für eine antidiskriminierende und migrationspädagogisch ausgerichtete Gemeinwesenarbeit. Im Zentrum von Christoph Stoiks Beitrag stehen fünf Thesen zu aktuellen Herausforderungen der Wiener Gemeinwesenarbeit mit denen er u. a. Instrumentalisierungs- und Ökonomisierungstendenzen reflektiert und auf fachliche Leerstellen im Diskurs hinweist.

Der Beitrag von Roland Fürst, Edith Sandner-Koller und Vincent Richardt zu „fallunspezifischer und fallübergreifender sozialraumorientierter Sozialen Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe“ (Rubrik Sozialarbeitswissenschaft) kann ebenso wie der Artikel von Eva Fleischer zu „Partizipativer Sozialplanung in einer Tiroler Landgemeinde“ dem inhaltlichen Schwerpunkt dieser Ausgabe zugeordnet werden. Auch Barbara Bretterkliebers Praxisbericht zum Zusammenleben von geflüchteten Menschen und Bewohner*innen und der gemeinwesenorientierten Prozessbegleitung durch das interkulturelle Beratungs- und Therapiezentrum ZEBRA oder der Beitrag von Paul Klumpner zu „Gemeinwesenarbeit und Integration auf Stadtteilebene“ (Rubrik Werkstatt) passen ebenso wie die Rezension zur Monographie von Michael May „Soziale Arbeit als Arbeit am Gemeinwesen“ zum Schwerpunktthema dieser Ausgabe. Wir hoffen, damit ganz unterschiedliche Perspektiven auf „Community Development und Sozialraum“ versammelt zu haben und so den Leser*innen einen spannenden Einblick in die aktuelle Fachdebatte geben zu können.

Darüber hinaus freuen wir uns, wie in jeder Ausgabe, dass die folgenden Fachartikel über den Themenschwerpunkt hinweg Einblick in die Vielfalt Sozialer Arbeit geben: Sabine Klinger und Regina Mikula schreiben zu biografischen Übergängen im Kontext von Migrationsbewegung. Florian Zahorka gibt Einblicke in die psychosoziale Versorgung einer Präklinik in Colorado Spring (USA), Helmut Spitzer und andere reflektieren Praktika im Globalen Süden als Praxis internationaler Sozialer Arbeit und Anna Riegler und Martin Gössl warnen vor der Instrumentalisierung von Forschung für „eine Politik der Diskriminierung“. Auch die Rezensionen zu Büchern von Brigitte Kukovetz (Irreguläre Leben), Johannes Pflegerl und anderen (Passgenau helfen) oder Emmerich Tálos (Das austrofaschistische Österreich 1933-1938) bieten bedeutsame professionstheoretische Einblicke und historische Bezüge.



Marc Diebäcker (Standort Wien)


Literatur

Alinsky, Saul (1989 [1971]): Rules for Radicals. A practical Primer for realistic Radicals. New York: Vintage Books.

Boulet, Jean Jaak / Krauss, Ernst Jürgen / Oelschlägel, Dieter (1980): Gemeinwesenarbeit als Arbeitsprinzip. Eine Grundlegung. Bielefeld: AJZ-Druck und -Verlag.

Galuske, Michael (2007): Methoden der Sozialen Arbeit. Weinheim/München: Juventa.

Kessl, Fabian / Reutlinger, Christian (2013): Sozialraumarbeit. In: Stövesand, Sabine / Stoik, Christoph / Troxler, Ueli (Hg.): Handbuch Gemeinwesenarbeit. Traditionen und Positionen, Konzepte und Methoden. Deutschland – Österreich – Schweiz. Opladen/Berlin/Toronto: Verlag Barbara Budrich, S. 127-140.

Rothschuh, Michael (2013): Community Organizing – Macht gewinnen statt beteiligt zu werden. In: Stövesand, Sabine / Stoik, Christoph / Troxler, Ueli (Hg.): Handbuch Gemeinwesenarbeit. Traditionen und Positionen, Konzepte und Methoden. Deutschland – Österreich – Schweiz. Opladen/Berlin/Toronto: Verlag Barbara Budrich, S. 375-383.

Stövesand, Sabine / Stoik, Christoph / Troxler, Ueli (2013) (Hg.): Handbuch Gemeinwesenarbeit. Traditionen und Positionen, Konzepte und Methoden. Deutschland – Österreich – Schweiz. Opladen/Berlin/Toronto: Verlag Barbara Budrich.