Hubert Höllmüller. Hard-to-reach. Ein Etikett zur Dekonstruktion – oder wie einfach es wäre,
sich von jungen Erwachsenen ihre Erfahrungen mit der Sozialen Arbeit erzählen zu lassen.
30. Ausgabe 2025
Hard-To-Reach or No Access?
Hard-to-reach
Ein Etikett zur Dekonstruktion – oder wie einfach es wäre,
sich von jungen Erwachsenen ihre Erfahrungen mit der
Sozialen Arbeit erzählen zu lassen
Hubert Höllmüller
Zusammenfassung
In diesem Beitrag geht es darum, den gängigen Fachbegriff hard-to-reach zu dekonstruieren. Es wird
gefragt, ob die eingeschränkte Erreichbarkeit von Zielgruppen an den Zielgruppen selbst liegt oder
in den Strukturen und Arrangements der Sozialen Arbeit. Die für die Soziale Arbeit sehr spezifische
Feldkompetenz – also der Zugang zu Zielgruppen durch aufsuchende und nachgehende Arbeit in
deren Lebenswelten und Sozialräumen – reduziert das Problem des Zugangs bis auf Ausnahmen
auf die Frage von (fehlenden) Aufträgen und Ressourcen. Deshalb wird der Frage nachgegangen,
warum sich dieses Etikett so beständig im Fachdiskurs hält und dabei die Soziale Arbeit selbst
thematisiert unter Bezug auf das Kapitalienkonzept von Pierre Bourdieu.
Schlagworte: Etikettierung, Dekonstruktion, Niederschwelligkeit, Symbolkapitalismus, hard-to-
reach
Abstract
The aim of this article is to deconstruct the common technical term hard-to-reach. It posits the
question of whether the limited accessibility of target groups is due to the target groups themselves
or due to the structures and arrangements of social work. The distinct field competence of
social work—namely, access to target groups through outreach and follow-up work in their living
environments and social spaces—mitigates the issue of access to resources and assignments,
with a few exceptions. For this reason, the question of why this label persists so consistently in
professional discourse will be explored, and social work itself will be addressed with reference to
Pierre Bourdieu’s concept of capital.
Keywords: labeling, deconstruction, low threshold, symbolic capitalism
1
Perspektive 1: Hard-to-reach und Niederschwelligkeit
Hard-to-reach ist ein gängiger Fachbegriff der Sozialen Arbeit zur Bezeichnung von Zielgruppen,
„die nicht über die vorhandenen Begegnungsstrukturen erreichbar sind bzw. die diese bewusst
vermeiden und/oder ablehnen“ (Höllmüller 2022a). Allerdings lässt sich fragen, inwieweit er
Erklärungskraft hat, liegt die schwere Erreichbarkeit doch daran, dass die Zielgruppen besondere
Einschränkungen und/oder Bedarfe haben. Die gute Nachricht ist: Es gibt inzwischen ausreichend
Konzepte und Methoden, um diese Zielgruppen doch zu erreichen. Abgesehen von denen, die sich
in ihrem Lebensalltag bewusst der Sozialen Arbeit entziehen oder durch Zwang entzogen werden.
Es ist eine Besonderheit der Sozialen Arbeit (in marktkapitalistischer Sprechweise ein unique selling
point), dass sie Zielgruppen in ihrer Lebenswelt aufsucht, ohne sie „heimzusuchen“. Sie erreicht
Personen mit der nötigen Sensibilität im öffentlichen, halböffentlichen und auch privaten Raum,
die für andere Berufsgruppen unerreichbar sind, und kann niederschwellige Angebote schaffen,
die auch diejenigen nutzen, die sonst keinen Weg zur Sozialen Arbeit finden. Bei der Reflexion und
Kritik des Begriffs hard-to-reach ist es deshalb wichtig, die Soziale Arbeit selbst zu thematisieren
und zu fragen, wieso Zielgruppen als hard-to-reach etikettiert werden, obwohl die Beschränkungen
in der Profession liegen.
Die konzeptionelle Antwort der Sozialen Arbeit auf hard-to-reach ist zumeist
Niederschwelligkeit,alsoderAnsatz,Zugangshürdensoweitzureduzieren,dassdieentsprechenden
Personen Angebote (leichter) nutzen (können). Mögliche Schwellen sind nicht nur Äußerlichkeiten
wie Öffnungszeiten, Anmeldepflicht, Lage des Angebots oder Kostenaspekte, sondern auch ‚weiche
Faktoren‘ wie die professionelle Haltung, Selbstdeutungen der Zielgruppen und Stigmatisierungen.
Hierdurch eröffnet sich bereits eine kritische Perspektive auf die Soziale Arbeit selbst, denn
Haltungen und Stigmatisierungen haben nichts mit den Adressierten zu tun, sondern nur mit den
Adressierenden.
Diese Selbstthematisierung ist anderen Professionen noch fremd. Im Psychiatrieverlag (sic!)
wird 2020 zum Thema hard-to-reach noch sehr unbedarft definiert:
„In der psychosozialen Arbeit wird oftmals von einer Klientel berichtet, durch die sich
die Mitarbeitenden psychosozialer Dienste und Einrichtungen mit einer Reihe von
Herausforderungen und ihren professionellen Grenzen konfrontiert sehen. Danach
können (oder wollen) – so das bestehende Bild – die Betroffenen nicht in der
beabsichtigten Weise von den bestehenden Versorgungssystemen profitieren. […]
Hard-to-reach-Klientinnen und -Klienten zeichnen sich […] durch folgende Merkmale
aus:
•
•
•
•
•
•
Komplexer Hilfebedarf und multiple existentielle Problemlagen
Herausfordernde Verhaltensweisen oder abweichende Lebensentwürfe,
Diskriminierungs- und Stigmatisierungserfahrungen,
Keine erkennbare ausreichende Motivation für professionelle Unterstützung,
Keine Äußerung anknüpfungsfähiger Bedarfe,
Kommunikative Barrieren, fehlendes Wissen zu bestehenden Hilfen oder
eingeschränkte Mobilität.“ (Giertz/Große/Gahleitner 2020: 15–16)
Hier stehen die „Klient*innen“ (auch ein Begriff, der in der Sozialen Arbeit bald nur mehr historisch
lesbar sein sollte) im Fokus und die angeführten Merkmale sollen nicht Mitarbeitende mit ihren
professionellen Grenzen konfrontieren, sondern lediglich auf einen professionellen Umgang
verweisen.
Die Soziale Arbeit antwortet auf das Nicht-Aufsuchen ihrer Angebotsstrukturen konzeptionell
mit dem Aufsuchen der Zielgruppen in ihren Lebenswelten, um dort Begegnungen zu gestalten,
die ein Arbeitsbündnis im Sinne der Bedarfe der Adressierten ermöglichen sollen. Mit diesem
Konzept sind alle Zielgruppen erreichbar bis auf jene, die sich in ihrem Lebensalltag bewusst der
Sozialen Arbeit entziehen oder durch Zwang entzogen werden. Der Hinweis auf das Beharren der
Sozialen Arbeit auf den Hard-to-reach-Begriff bringt per se ein kritisches Potential in Bezug auf die
Interventionssysteme mit sich: Die Gründe für die schwere Erreichbarkeit von Personen können
bei den adressierten Personen liegen, aber auch im Interventionssystem, das auf die Ressourcen
und Restriktionen der Zielgruppen zu wenig oder gar nicht eingeht. Und noch einmal strenger:
oder gar nicht eingehen will. Verschärft wird dieses Setting, wenn sich adressierte Personen
bewusst entziehen und eine Einbindung in Interventionssysteme verweigern. Die damit verbundene
Vorstellung, dass sie dadurch Systeme „sprengen“ – so wie etwas, das nicht in einen Rahmen
passt –, zeigt die Abwehr jeder kritischen Perspektive. Das System macht alles richtig, nur die
adressierten Personen verstehen das nicht.
Für eine Bearbeitung dieses Phänomens ist der Auftrag entscheidend: Einerseits erfolgt
dieser ausdrücklich für bestimmte Zielgruppen wie bei Streetwork und Mobiler Jugendarbeit,
Parkbetreuung oder Anlaufstellen und der Erfolg wird daran gemessen, inwieweit aus hard-to-reach
dann easy-to-reach wird. Andererseits wird bei anderen Interventionssystemen durchaus akzeptiert,
dass einzelne adressierte Personen nicht erreicht werden. Hier entscheiden die Eigeninitiativen der
Interventionssysteme bzw. Nachschärfungen der Auftraggeber, ob mehr auf die Ressourcen und
Restriktionen der adressierten Personen eingegangen wird. Aber auch wenn Auftrag und Ressourcen
stimmen, ist die Umsetzung nicht garantiert: Wenn das Arbeitszeitverständnis Nachteinsätze der
Streetwork oder Wochenendöffnung von Jugendräumen verhindert, oder wenn die Stechuhr die
Teilnahme einer Jugendamtssozialarbeiterin an einem Familienrat verhindert, weil dieser Termin
nach 17:00 stattfindet, dann kann auch mit dem besten Auftrag niemand erreicht werden.
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Perspektive 2: Welches Radar ortet U-Boote?
Wer als hard-to-reach gilt, ist schon ein Definitionsdiskurs für sich. Armut als soziales Problem, und
damit eines der Kernthemen der Sozialen Arbeit seit Jahrhunderten sowie im lokalen und globalen
Kontext, steht da an prominenter Stelle. „Armutsbetroffene Personen gelten in der Forschung als
‚hard to reach‘ – also als Gruppe, die für die Wissenschaft besonders schwer erreichbar ist.“ (BMK
2024: 16) Der veröffentlichte Diskurs zur finanziellen Unterstützung von armutsbetroffenen Personen
– unabhängig davon, ob es sich um Sozialhilfe, Mindestsicherung oder Grundsicherung handelt–,
thematisiert dies aber nicht. Es werden zwar zahlreiche Statistiken über Bezüge veröffentlicht, was
allerdings nicht thematisiert wird, ist der „Non Take Up“:
„Originally, non take-up was a term applied specifically within the context of financial
social benefits, which is why the original definition for non take-up was all persons
or households entitled to receive financial social benefits who are unaware of their
entitlement. […] Even if the debate surrounding non take-up has different origins
across different countries, it has always been a sign of political concern over the
issue of effectiveness of social spending.“ (Warein 2016: 1)
Ein beträchtlicher Teil der anspruchsberechtigten armutsbetroffenen Personen wird von den ihnen
zustehenden Geldern nicht erreicht. Für Österreich ist die aktuellste Untersuchung dazu vom Juni
2021, hierin geht es um den Non Take Up der Wiener Mindestsicherung. Richard Heuberger (2001:
22) schreibt in seinem Endbericht: „Aus der direkten Berechnungsmethode aus den Daten ergibt
sich eine Non take up-Quote von 33% auf Haushaltsebene und von 27% auf Personenebene. Die
Schwankungsbreite beträgt etwa 6 Prozentpunkte, die Non take up-Quote liegt also zwischen 27%
und 39%.“
Diese Zahlen finden keinen Eingang in öffentliche Diskurse. Während gern über Höhen,
besonders über zu hohe Beträge, Anspruchsvarianten etc. gesprochen wird, scheint das Drittel
der Armutsbetroffenen, die keine Zuwendung erhalten, kaum relevant. Dabei könnte sich ein
Sozialstaat schon fragen, wie treffsicher seine Unterstützungen angesichts dessen sind. Wenn ganz
in juristischer Manier der „Sinn des Gesetzes“ bzw. die „Absicht des Gesetzgebers“ im Zentrum
steht, dann müsste es ein deutlicheres Echo darauf geben, dass eine so hohe Zahl von Berechtigten
– diejenigen, die tatsächlich arm sind mit allen Konsequenzen, Belastungen und gesundheitlichen
Schäden – seit Jahrzehnten von der staatlichen Unterstützung nicht erreicht wird. Weil die Soziale
Arbeit ja eigentlich weiß, wie diese Personengruppe erreichbar ist, stellt sich die Frage, wieso nicht
die notwendigen Unterstützungsprogramme aufgelegt werden – und zwar nicht nur für Österreich:
„Non-take-up is a particular challenge with minimum income benefits. In Europe,
the non-take-up of the minimum income benefit ranges from twenty-nine to fifty-
seven percent. […] [T]he biggest barrier to benefit take-up in Europe is the application
procedure, followed by a lack of information on the application procedure and the
benefits themselves […]. The report thus concludes with the following
recommendations: make information accessible, simplify application procedures
while preserving physical access to applications, and involve people living in poverty
in service design.“ (ISSA 2023)
Es ist also eine Frage des Zugangs: Fehlende Information und fehlende Fertigkeiten, Anträge in
der entsprechenden Form zu stellen, sowie fehlendes service user involvement bei der Gestaltung
des Zugangs. Für Österreich weist die Armutskonferenz diesbezüglich einen Fortschritt im letzten
Jahrzehnt aus:
„Eine aktuelle Studie des European Center for Social Welfare Policy and Research
zeigt, dass die Einführung der Bedarfsorientierten Mindestsicherung zu einer
signifikanten Reduktion der Nichtinanspruchnahme von Sozialhilfe geführt hat. So
haben 2003 61.000 anspruchsberichtigte Haushalte (39%) keine Sozialhilfe in
Anspruch genommen, 2009 sogar 114.000 Haushalte (51%). Mit Einführung der
Bedarfsorientierten Mindestsicherung sank dieser Wert bis 2015 hingegen auf 73.000
Haushalte (30%).“ (Armutskonferenz 2019)
Das wesentliche Element der neu eingeführten Mindestsicherung war, dass der Antrag nicht mehr
bei der jeweiligen Heimatgemeinde, sondern bei der Bezirkshauptmannschaft zu stellen war. Die
Armutskonferenz identifiziert einen weiteren wichtigen Grund für die hohe Non-Take-Up-Quote:
Scham. Ein Teil der Sozialhilfebeziehenden wollte nicht auf die Heimatgemeinde gehen, aus Angst
davor, dass jemand mitbekommt, dass sie einen Sozialhilfeantrag stellen. Wenn Martin Schenk
(2019) davon spricht, dass Beschämung „eine soziale Waffe [ist]. […] Sie rechtfertigt die Bloßstellung
und Demütigung als von den Beschämten selbst verschuldet“, dann stellt sich die Frage, wer diese
Waffe in Anschlag bringt und wer sie betätigt. Wer betreibt Bloßstellung und Demütigung? Oder, mit
der Definition von Neckel (2008): Wer hat Interesse daran, die eigene Macht zu erhöhen?
„Beschämungen sind soziale Techniken, um eigene Vorteile gegenüber fremden
Ansprüchen konservieren zu können, um abweichende Lebensformen oder
Eigenschaften als minderwertig zu klassifizieren, um die eigene Macht in der
Interaktion mit Dritten zu erhöhen. Damit der Akt der Beschämung seinen Zweck
erreicht, muss für den beschämenden Mangel die Verantwortlichkeit auf die
beschämte Person selbst übertragen werden.“ (Neckel 2008: 24)
Alban Knecht kann sowohl den Ort als auch die Akteur*innen der Beschämung zuordnen:
„Armutsbetroffene sind in besonderem Maße beschämenden Situationen ausgesetzt. Unter
anderem auf Ämtern, in Einrichtungen des Gesundheitssystems wie auch in den Medien“ (Knecht
2019: 342). Beschämung ist darüber hinaus auch ein Phänomen in der Sozialen Arbeit, und zwar
nicht nur im Erwachsenenbereich, sondern auch in der Kinder- und Jugendhilfe:
„ImsozialpädagogischenKontexterfolgtezwarinsbesondereimZugesozialpolitischer
Veränderungen sowie herabwürdigender Etikettierungen der Klientel Sozialer Arbeit
in politischen und öffentlichen Debatten als ‚neue Unterschicht‘ (Nolte 2004: 35;
kritischdazuvgl.Kessl2005,2007)bzw.‚underclass‘einekritischeAuseinandersetzung
über ‚blaming‘ (vgl. Abramovitz 1995; Handler/Hasenfeld 2007) und über
beschämende Strukturen (Bolay 1998). Doch bilden hier die Phänomene Scham und
Beschämung nur vereinzelt explizit den Gegenstand der Reflexionen.“ (Magyar-Haas
2011: 277)
Einen Teil der Hard-to-reach-Zielgruppen produziert also die Soziale Arbeit selbst, wenn sie diese
durch Beschämung bewusst ausschließt oder auch nur die Beschämung in öffentlichen Diskursen,
von Medien und Politik unkommentiert und ohne Kritik stehen lässt.
Abseits armutsbetroffener Personen sind die gesellschaftlichen Gruppen besonders schwer
erreichbar, die sich im Illegalen aufhalten (müssen) und also den öffentlichen Raum so gut es geht
meiden sowie diejenigen, die mit Gewalt daran gehindert werden, in den öffentlichen Raum zu
treten. Aber schwer erreichbar heißt auch hier nicht, nicht erreichbar. Im Falle familiärer Gewalt
ist es beispielsweise eine Frage des halböffentlichen Raumes und der Bereitschaft, hinzusehen,
um dann die Gewalt ansprechen bzw. anzeigen zu können. Bei Menschenhandel, Zwangsheirat,
illegaler Prostitution oder Sklaverei (ich meine dies weder historisch noch in einem globalen Kontext,
sondern auf das Österreich des Hier und Jetzt bezogen) gibt es einzelne Projekte, die Erfahrungen
damit sammeln, wie diese Hard-to-reach-Personengruppen erreicht werden können – auch diese
„U-Boote“ tauchen von Zeit zu Zeit auf.
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Perspektive 3: Wer will wen erreichen und wozu?
Das Journal, in dem sie diesen Beitrag lesen, ist die Online-Zeitschrift aller Studiengänge für
Soziale Arbeit in Österreich und wurde von diesen soziales_kapital genannt. Es ist die zentrale
Plattform für Fachdiskurse der Sozialen Arbeit in Österreich. Auch wenn die Begründung für diese
Namensgebung nicht ausdrücklich mitgeliefert wurde, geht es eindeutig um einen Bezug zum
Kapitalkonzept von Pierre Bourdieu. Vermutlich soll mit dem Titel zum Ausdruck gebracht werden,
dass es in der Sozialen Arbeit um das soziale Kapital der entsprechenden Zielgruppen geht. Als
marginalisierte und schlecht ausgestattete soziale Gruppen soll ihr soziales Kapital vermehrt, erhöht
bzw. ‚akkumuliert‘ werden. Ganz im Sinne Bourdieus erleichtert eine Zunahme dieser Kapitalform
den Zugang zu finanziellem Kapital.
Das ist eine durchaus positive Sichtweise, die – theoretisch fundiert –sowohl in der Disziplin
als auch in der Profession Sozialer Arbeit wenig Widerspruch hervorrufen dürfte. In der klassischen
Sozialarbeit steht zwar die Umsetzung der materiellen und finanziellen Ansprüche der Zielgruppen
im Zentrum – wie sich anhand der Non-take-up-Quote der „Sozialhilfe“ zeigt, gäbe es da auch
noch viel zu tun –, aber in den meisten Handlungsfeldern kann nicht finanzielles Kapital verteilt,
sondern eben „nur“ soziales Kapital erhöht werden. Zum Thema kulturelles Kapital wird in der
Bildungsforschung und Bildungstheorie noch über die „Vererbung“ von akademischen Abschlüssen
nachgedacht, aber dann hören die Bezüge zu Bourdieu und seiner Kritik der gesellschaftlichen
Verhältnisse auf. Würde sich die disziplinäre und professionelle Sozialarbeits-Community allerdings
etwas mehr selbst thematisieren, dann würden sich zwangsläufig Fragen zum symbolischen
Kapital innerhalb der Sozialen Arbeit stellen. Für die Disziplin ließe sich dann fragen, wo wir es mit
„Wissenschaftskapitalist*innen“ zu tun haben, denen es in erster Linie um den Zugang zu Rollen
und Reputation geht, um Definitionsmacht und Entscheidungspositionen. Thomas Höhne schreibt
dazu:
„ErfolgreicheWissenschaftlerInnensindnachBourdieuauchimmer‚wissenschaftliche
Kapitalisten‘ (Bourdieu 1998, S. 23, 27) im Feld, die viel symbolisches Kapital auf sich
vereinen […]. [E]rst mit der systematischen Kopplung von Handlungszwängen und
Anreizsystemen wird eine Normalisierung des Kampfes um (knappe) Ressourcen
erreicht. Auf diese Art wird politisch eine marktförmige Knappheitssituation erzeugt,
bei der alle Akteure aufgefordert sind, letztlich auch wie Marktakteure kompetitiv im
Kampf um die begehrten symbolischen Güter zu agieren.“ (Höhe 2021: 39)
Knappe Ressourcen sind auch Forschungsgelder, Personalfinanzierung etc., aber ganz im Sinne
Bourdieus muss zuerst symbolisches Kapital akkumuliert werden, um ökonomisches erschließen
zu können: „Auch im wissenschaftlichen Feld geht es um die Akkumulation von Kapital, allerdings
nicht von materiellem, sondern vom symbolischen Kapital (Reputation, Ehre, Distinktion, anerkannte
Originalität) untrennbar verknüpft mit dem Kampf um wissenschaftliche Glaubwürdigkeit“ (Fröhlich
2003: 118). Und verstehen wir die Profession der Sozialen Arbeit als „soziales Feld“ – der Feldbegriff
ist in der Sozialen Arbeit ohnehin zentral – dann ließe sich auch hier mit Bourdieu gut weiterdenken:
„Soziale Felder sind für ihn der Raum, in den [sic!] sich die Machtbeziehungen
zwischen Akteuren konzentrieren, also die gesellschaftlichen Arenen, in denen
unterschiedliche Akteure um soziale Vorteile ringen und Machtverhältnisse bestimmt
werden. Damit verweist Bourdieu auf eine Grundeigenschaft jedes Feldes: Den
Kampf. Für ihn wird jedes soziale Feld von einer Gruppe von Akteuren bestimmt,
die eine ‚Orthodoxie‘ bilden und die die anderen Akteure – die er als heterodox oder
häretisch bezeichnet – unterwerfen. […] Die Ressourcen, die die einzelnen Akteure
oder Gruppen in diesem Kampf verwenden, hat Bourdieu in mehrere Kapitalsorten
zerlegt.“ (Burchardt 2003: 507)
In der Profession lässt sich fragen, wo die „Orthodoxie“ auf Mitarbeiter*innen-Ebene, in den
Leitungen und Führungsfeldern symbolisches Kapital akkumulieren kann und wo es auch
tatsächlich akkumuliert wird. „Das symbolische Kapital ist gewissermaßen eine den drei anderen
Kapitalarten übergeordnete Ressource. Denn das symbolische Kapital entsteht als gesellschaftlicher
Anerkennungsakt durch andere und bestimmt Ansehen und Prestige einer Person.“ (Rehbein 2016:
109)
Diese symbolkapitalistische Perspektive ermöglicht eine neue Sicht auf Fragen nach dem
Nutzen und den Hilfseffekten all der „Hilfen“, die im System durchgeführt bzw. angeboten werden.
Wenn das Macht-Haben und die Macht, Recht zu haben, in den Vordergrund treten, werden
Wirkungsansprüche zumindest sekundär und es wird das schlechte alte Verwalten von Problemen
wieder aktuell. In zahlreichen Bereichen der Sozialen Arbeit ist naheliegend, dass es sich um
Symbolkapitalismus nach Bourdieu handelt: Wie erhalten private Organisationen der Sozialen
Arbeit ihre Aufträge und damit öffentliche Gelder? Wie wichtig ist Wachstum und was bedeutet
es, wenn die Wirtschaftskammer den Leiter des größten Sozialunternehmens eines Bundeslandes
zum „Manager des Jahres“ wählt? Wie beeinflusst und erhält der Symbolkapitalismus schließlich
die Mehrheitskultur der Sozialen Arbeit, die immer noch paternalistisch und expertokratisch ist (vgl.
Höllmüller 2022b)?
Nocheinmalrekapituliert:LässtsichinderSozialenArbeitsymbolischesKapitalakkumulieren,
und wenn ja, von wem? Kann es auch in der Sozialen Arbeit um Ansehen, Status und Prestige gehen,
um Machtausübung als Kapitalvermehrung? Auch wenn Soziale Arbeit gesamtgesellschaftlich und
im Vergleich zu anderen Professionen ein geringes Ansehen hat, reicht doch die Selbstanerkennung
oder, mit einem beliebten Wort der Sozialen Arbeit, die Wertschätzung (durch sich selbst). Denn
auch damit geht es um „Wert“, um etwas, das sich als mehr und als weniger „schätzen“ lässt:
„Auf der Seite des symbolischen Pols findet sich symbolisches Kapital in Form von
‚Prestige‘, das ‚in allen Feldern und Institutionen ähnlich beschaffen ist‘ und das auf
einer ‚kaum oder schwach institutionalisierten Anerkennung‘ der Gemeinschaft der
Kolleginnen und Kollegen beruht.“ (Bourdieu 1998: 31).
Wie verträgt sich der real existierende Symbolkapitalismus in der Sozialen Arbeit mit der Frage
der Erreichbarkeit von Adressat*innen? Er liefert jedenfalls eine mögliche Begründung dafür, wieso
Zielgruppen als hard-to-reach etikettiert werden, obwohl sie es bei Anwendung der entsprechenden
Konzepte nicht sind. Wo es vorrangig um den Erwerb und den Erhalt von symbolischem Kapital geht
(so wie eben in kapitalistischen Dynamiken generell), wird die Arbeit mit Zielgruppen nachrangig.
Wennsiesichdannauchnoch„zieren“und„kompliziert“werden,dannisteinewirkungsvolleStrategie
der Verantwortungsabwehr, sie als schwierig und schwer erreichbar zu bezeichnen. Eine weitere
beliebte Spielform davon ist das Etikett der „Scheinkooperation“, ein gängiger Pseudofachbegriff in
der Kinder- und Jugendhilfe. Bemerkenswert, dass sich der Ergänzungsbegriff „Scheinhilfe“ noch
nicht etabliert hat.
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Perspektive 4: Wir reden über uns selbst und wir beforschen uns selbst –
Momo Austria
Anfang März in einem Seminar zum Thema Pathologisierung an der FH Kärnten, Studiengang Soziale
Arbeit: Patrick sitzt im Sesselkreis mit zwanzig Studierenden und spricht über seine Diagnosen
und sein Leben. Was haben ihm diese Diagnosen gebracht? Warum war er anfangs dagegen und
findet jetzt, sie haben ihm genutzt? Patrick erzählt von seinem Alltag in der Einrichtung, in der er
jetzt noch für eineinhalb Jahre wohnt. Ob er viele Kontakte nach außen hat? Ob er Freunde hat?
Es passt. Und dann finden die Studierenden heraus, dass er einen Verein gegründet hat, er hat die
Statuten geschrieben und er ist der Obmann. Worum geht es in dem Verein? Jugendliche und junge
Erwachsene sollen sich selbst organisieren und über sich selbst sprechen – über ihre Erfahrungen
mit dem Erwachsenwerden, ihre Erfahrungen mit der Kinder- und Jugendhilfe, darüber was in ihrer
Familie schiefgelaufen ist. Patrick erzählt von seiner Familie, davon was ihn aus der Bahn geworfen
und was ihn wieder zurück gebracht hat. Der Verein, den er gegründet hat, heißt Momo Austria,
anonymisiert werden, denn er ist mit Foto und Namen dort zu finden. „Service User Involvement“ ist
der Fachbegriff dafür, was in diesem Seminar passiert ist. Allerdings sind das nur die ersten Schritte.
Denn die Einbeziehung von Nutzer*innen der Sozialen Arbeit würde konsequenterweise auch
bedeuten, diesen Nutzer*innen bezahlte Lehraufträge dafür zu geben, dass sie Studierenden und
Lehrenden von ihren Lebenswelten erzählen und davon, was wirklich genutzt und was geschadet
hat. So weit sind wir noch lange nicht.
Aber wer will diese service user überhaupt hören? Obwohl sich der Verein kurz nach seiner
Gründung bei der Fachabteilung des Landes vorgestellt hat, bekommt er bis dato keinen Cent
Unterstützung. Da geht es dem Careleaver Verein etwas besser: Er bekommt öffentliche Gelder, im
Internet erscheint bei der Suche nach ihm zuerst die Forschungsprojektseite der Uni Klagenfurt, der
Verein ist davon eine Rubrik. Oder er wird auf den Homepages zweier großer privater Organisationen
genannt, die beide nicht nur in der Kinder- und Jugendhilfe ein breites Tätigkeitsfeld haben. Die
zentralen Forderungen des Careleaver Vereins sind die Verlängerung der Betreuung bis zum 26.
Lebensjahr; das Recht auf Wiedereinstieg in Jugendhilfe-Maßnahmen nach dem 18. Geburtstag;
finanzielle Unterstützung bis zum 26. Lebensjahr; Unterstützung im Bildungs- und Ausbildungsweg;
Wohnungsförderung; das Recht auf Gesundheit; Information und Beratung (vgl. Careleaver Verein
2024: 2).
Aber zurück zu Patrick. Er erzählt, wie es zur Gründung seines Vereins gekommen ist. Und
nach mehrmaligem Nachfragen erzählt er auch, dass er gerade mit rund zehn anderen jungen
Erwachsenen ein Forschungsprojekt macht, dessen Thema sie selbst festgelegt haben (es geht
um Trauma-Erfahrungen von jungen Erwachsenen), für das sie selber den Fragebogen erstellt
und Interviews durchgeführt haben und dessen Auswertung sie nun selbst machen werden. Ja,
eine Sozialarbeiterin, die ihre Ergebnisse in eine Masterarbeit überführen möchte, hat ihnen die
einzelnen Schritte erklärt – sie wollen das schließlich ordentlich machen. Aber sie haben über die
Gestaltung jeder dieser Schritte selber entschieden und jeden selber ausgeführt. Wer wissen will,
welche Erfahrungen sie bisher mit der Sozialen Arbeit gemacht haben, muss sie nur fragen – von
wegen hard-to-reach.
5
Conclusio
Hard-to-reach ist ein Fachbegriff, der eine Dekonstruktionsschleife benötigt. Großteils weiß die
Soziale Arbeit, wie ihre Zielgruppen zu erreichen sind – gerade ihre Feldkompetenz zeichnet sie ja
aus. Es sind die angrenzenden Professionen, die weniger Zugänge finden sowie der hochschwellige
Teil der Sozialen Arbeit, wobei hier Selbstthematisierung gefragt ist: Wie sehr lassen sich
Hochschwelligkeit und Soziale Arbeit überhaupt verbinden?
Wo es tatsächlich auch für die Soziale Arbeit schwierig wird, Zielgruppen zu erreichen,
ist im Kontext von Illegalität und im Falle des gewaltsamen Fernhaltens von Zielgruppen von
öffentlichen Räumen. Menschenhandel und Wohnungsprostitution, Fluchtrouten und Zwangsehen
geschehen in einem Feld, wo Akteure auf bewusste „Unsichtbarkeit“ abzielen und im Kontext
des Menschenhandels auch mit Gewalt arbeiten. Aber schwierig heißt nicht unmöglich. Es gibt
zahlreiche Projekte, die hier Felderfahrung sammeln.
Was die Etikettierung von Zielgruppen als hard-to-reach befördert, ist der unausgesprochene
symbolischeKapitalismusinderSozialenArbeit,wodieAnhäufungvonStatusundMachtwichtigerist
als der Auftrag, mit allen Zielgruppen akzeptierend und partizipativ zu arbeiten. Das Prinzip „nothing
about me without me“ – übernommen aus der Arbeit mit Menschen mit Behinderung – drückt aus der
Perspektive der Zielgruppen das Gegenteil davon aus, sich von den Unterstützungsarrangements
der Sozialen Arbeit nicht erreichen lassen zu wollen. Unterstützung muss jedoch auf Augenhöhe
stattfinden, sie darf nicht bevormundend und nicht expertokratisch sein. Die Feldkompetenz der
Sozialen Arbeit ist gut entwickelt, aber Kompetenz braucht nicht nur Wissen, Fertigkeiten und die
Haltung, sondern auch die tatsächliche Umsetzung – und diese lässt sich mit dem Hard-to-reach-
Label rasch abwehren.
Literaturverzeichnis
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Rehbein, Boike (2016): Die Soziologie Pierre Bourdieus. Konstanz/München: UVK.
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Über den Autor
FH-Prof. Mag, Dr. Hubert Höllmüller
Professur am Studiengang Soziale Arbeit der FH Kärnten, Schwerpunkt Kindheit/Jugend,
internationaler Koordinator, Forschungen zur Kinder- und Jugendhilfe in Österreich, zu Slowenien
und zum Westsaharakonflikt. Doktoratsstudium der Philosophie an der Carl-Franzens-Universität
Graz mit Schwerpunkt Erkenntnistheorie und Wissenschaftstheorie. Ausgewählte Publikationen:
Niederschwelligkeit in der Sozialen Arbeit, hg. mit Helmut Arnold (2017); Erasmus goes Westsahara,
hg. mit Lisa Bebek und Franziska Syme (2019); „Kritik des reinen Konstruktivismus in der Sozialen
Arbeit“, in soziales_kapital (2021); „Schwelle“, in: Sozialraum. Eine elementare Einführung (2022).