Die Akademisierung und Professionalisierung der Sozialen Arbeit in Österreich

Abstract

Die 27. Ausgabe von soziales_kapital widmet sich der Akademisierung der Sozialen Arbeit in Österreich. Im Jahr 1912 gründete Ilse Arlt die erste unabhängige Fürsorgeschule in Wien und legte wesentliche Grundsteine für den langen und bis dato unabgeschlossenen Weg der Akademisierung der Sozialen Arbeit. Ihre Entwicklung ist in der Frauenbewegung des 19. und 20. Jahrhunderts grundgelegt und unmittelbar mit dieser verknüpft; sie verläuft vom Ehrenamt über die Verberuflichung hin zur anerkannten Profession und Disziplin, deren Studium sich heute durch die Aneignung von theoriegeleitetem Wissen und Kompetenzen sowie eine entsprechende Praxistätigkeit auszeichnet. Die formale Akademisierung der Sozialen Arbeit in Österreich erfolgte im Rahmen der Überführung der Ausbildung von den Sozialakademien an die Fachhochschulen ab dem Jahr 2001. Die Beiträge zum Thema diskutieren die historischen Entwicklungen der Akademisierung Sozialer Arbeit in Österreich mitsamt ihren Diskontinuitäten, spüren kritisch Professionalisierungsprozessen und De-Professionalisierungstendenzen nach und gehen auf relevante Organisationen, wie beispielsweise Fachhochschulen und Fachgesellschaften, ein. 

Johanna M. Hefel und Iris Kohlfürst leisten in ihrem Beitrag eine Bestandsaufnahme der Akademisierung der Sozialen Arbeit mit Blick auf den Regelabschluss von Fachkräften, die Förderung von Nachwuchswissenschaftler*innen, Forschungsstrukturen, ein notwendiges Kerncurriculum sowie das fehlende Berufsgesetz. Sie argumentieren für die Notwendigkeit von Fachgesellschaften wie der Österreichischen Gesellschaft für Soziale Arbeit (ogsa) in Akademisierungsprozessen. Die Entwicklung der Ausbildung und Theorie der Sozialen Arbeit in Österreich, welche sich dem Engagement von Pionier*innen wie Ilse Arlt verdankt, erfuhr eine Unterbrechung durch und im Nationalsozialismus, wie Eva Fleischer und Andrea Trenkwalder-Egger in ihrem Beitrag argumentieren. Dieser Bruch findet, so die Autorinnen, seinen Ausdruck in einer verspäteten Professionalisierung der Sozialen Arbeit und zeigt sich auch am Fehlen eines Berufsgesetzes. Diese Leerstelle des Berufsgesetzes wiederum birgt die Gefahr der De-Professionalisierung der Praxis, da die Soziale Arbeit keinem Berufs- und Titelschutz unterliegt und daher die beliebige Verwendung der Bezeichnung Sozialarbeiter*in möglich ist. Sie verdeutlichen die Wichtigkeit einer gesetzlichen Regelung, die gegenwärtig noch aussteht. 

Dem Thema Berufsgesetz widmet sich auch der Beitrag von Julia Pollack, welcher die historischen Entwicklungen und aktuellen Bestrebungen zu einem solchen Gesetz darstellt. Die mehr als 25-jährige Auseinandersetzung verweist auf durchaus unterschiedliche Berufsbilder und Professionsverständnisse, sie ist gekennzeichnet durch unterschiedliche Debatten um Gesetzes(vor)entwürfe und Verwerfungen – insgesamt ein komplexer Prozess, dessen Kontinuität durch das Engagement des Oesterreichischen Berufsverbands für Soziale Arbeit (OBDS) sichergestellt wird. Präsentiert werden im Beitrag darüber hinaus Vorschläge für eine zeitgemäße gesetzliche Regelung Sozialer Arbeit, die richtungsweisende Perspektiven für ein aktuelles Berufsgesetz darstellen können. Deutlich wird: Ähnlich unabgeschlossen wie die Geschichte der Akademisierung der Sozialen Arbeit, die im Beitrag von Eva Fleischer & Andrea Trenkwalder-Egger sowie dem von Johanna M. Hefel & Iris Kohlfürst nachgezeichnet wird, ist auch das Ringen um ein Berufsgesetz der Sozialen Arbeit. 

Fachhochschulen, die in Österreich zentrale Institutionen der Akademisierung der Sozialen Arbeit darstellen, fungieren als Brücke zwischen Theorie und Praxis. Insbesondere die Praxislehre und Praxiskoordination ist aufgrund ihrer engen Bezüge zu den Handlungsfeldern Sozialer Arbeit ein Seismograf für die Entwicklungen in ebendiesen. Als Schauplatz der Akademisierung der Sozialen Arbeit beschreibt auch Gertraud Pantuček die Fachhochschulen in ihrem Beitrag. Ausgehend von der seit nunmehr 20 Jahre bestehenden Ausbildung von Sozialarbeiter*innen an Fachhochschulen überlegt sie, inwiefern die von der International
Association
of
Schools
of
Social
Work
(IASSW) formulierten „Global Standards For Social Work Education & Training“ an Hochschulen realisiert werden und welche Desiderate gegenwärtig bestehen. Diskutiert werden hierbei zum Beispiel ein Kerncurriculum, die Diversität in der Ausbildung, die Partizipation von Student*innen und Nutzer*innen Sozialer Dienste sowie der Einbezug aktueller sozialer Entwicklungen in die Ausbildung. 

Akademisierungsprozesse sind verwoben mit der Professionalisierung Sozialer Arbeit, aber auch deren De-Professionalisierung. Diskutieren lässt sich im Zuge der Entwicklungen an den Fachhochschulen, ob De-Professionalisierungstendenzen mit der Umstellung der Studienstruktur im Zuge des Bolognaprozesses und der interdisziplinären Öffnung der Masterstudiengänge für Quereinsteiger*innen einhergehen. Hier zeigt sich auch das wechselseitige Verhältnis zwischen Hochschulen und Praxisfeldern der Sozialen Arbeit. Dynamiken aus den – teilweise unter Druck stehenden – Handlungsfeldern wirken sich auf die (Un-)Möglichkeiten akademischer Ausbildung aus, wie am Beispiel der Praxislehre deutlich wird. Gleichwohl sollten die in der akademischen Ausbildung vermittelten Inhalte aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen aufnehmen und so zur Weiterentwicklung der Profession und zur Professionalisierung von Fachkräften beitragen. 

In der Rubrik Sozialarbeitswissenschaft stellen Ernest Aigner, Hanna Lichtenberger, Judith Ranftler und Sonja Schmeißl die Auswirkungen des Klimawandels auf armutsbetroffene Kinder und Familien dar und zeigen, dass die Klimakrise bestehende soziale Ungleichheiten vertieft und neue Herausforderungen entstehen lässt. Die Soziale Arbeit ist daher gefordert, richtungsweisende Perspektiven hin zu mehr Klimagerechtigkeit zu entwickeln und diese Inhalte gegenwärtig und zukünftig stärker in Curricula zu berücksichtigen. Dagmar Fenninger-Bucher und Gabriele Kronberger gehen in ihrem Beitrag der Frage nach einem Fachkräftemangel in der Sozialen Arbeit nach. Sie zeigen, dass sich dieser auf Praktika während des Studiums auswirkt und zu Vereinbarkeitsproblemen und Arbeitsstress für Studierende führen kann. Aus diesem Grund plädieren sie für eine Evaluierung des Bedarfs der Fachkräfte in der Sozialen Arbeit in Österreich. Bettina Eichinger befasst sich mit professioneller Unterstützung für Eltern mit Lernschwierigkeiten und verweist auf die Randständigkeit dieser Thematik. Tamara Mandl argumentiert für eine notwendige Öffnung der Palliative Care ausgehend von der Diversität und Pluralität von sterbenden Menschen und deren Angehörigen. Karen Meixner fokussiert in ihrem Beitrag auf online hate speech und geht den Fragen nach, welche Faktoren die Veröffentlichung von Hassreden im Internet befördern und welche Präventionsmöglichkeiten der Sozialen Arbeit zur Verfügung stehen. Die Herausforderungen in der Beratung der Offenen Jugendarbeit, aber auch Möglichkeitsräume zeichnen Manuela Hofer und Marc Diebäcker in ihrem Beitrag nach, der auf den Ergebnissen einer explorativen Studie zum Thema basiert. 

In der Rubrik Junge
Wissenschaft
thematisiert Priska Buchner gesellschaftliche Prozesse zwischen Emanzipation einerseits und Disziplinierung andererseits im Rahmen der Corona-Pandemie. Cordula Hinterholzer legt in ihrem Beitrag dar, dass die zunehmende Sichtbarkeit der Vielfalt von geschlechtlichen Identitäten und sexuellen Orientierungen von Professionellen geschlechter- und queerreflexive Kompetenzen erfordert, welche nicht per se gegeben sind. Fabian Matthias Kos befasst sich mit Führungsethik und plädiert für eine kontextabhängige und kontextsensible Form ethischer Entscheidungsfindung. Er stellt ein Klassifikationsschema vor, das die Reflexion von Entstehungsbedingungen und die Erläuterung von Problemsituationen unterstützen kann. Im Beitrag von Stefanie Premitzer wird das Angebot der Kurzzeitpflege in Kärnten erläutert und kritisch diskutiert.

In der Rubrik Werkstatt diskutieren Katharina Kirsch-Soriano da Silva und Eva-Maria Kehrer die Rolle der Gemeinwesenarbeit und geben einen Überblick über kooperative Entwicklungsansätze für Quartiersräume in neuen Stadtteilen von Wien. Im Beitrag von Manfred Tauchner, Johann Praith, Manuela Kovalev et al. werden entlang zentraler Ergebnisse einer in Österreich und der Slowakei durchgeführten Studie sowohl die Herausforderungen für Gründer*innen von Sozialunternehmen als auch Lücken im Studium der Sozialen Arbeit aufgezeigt. Geschlechtsspezifische Gewalt an wohnungslosen und obdachlosen Frauen thematisieren Barbara Unterlerchner, Bojana Bonić und Anna Aszódi. Sie zeigen, wie adäquate Unterstützung durch strukturelle Ungleichverhältnisse sowie die Individualisierung von Problemlagen verhindert wird. Melanie Zeller stellt die Information von zivilen Personen über häusliche Gewalt in den Mittelpunkt ihres Beitrags und arbeitet heraus, dass Bewusstseinsbildung und unterstützende Handlungsanleitungen wesentliche Elemente der Gewaltprävention darstellen.

In der Rubrik Positionen thematisieren Simone Tillian und Hubert Höllmüller die Erfahrungen von Jugendlichen in den Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe sowie die dortige prekäre Personalsituation und ziehen Vergleiche zu einer Publikation in diesem Journal aus dem Jahr 2015. Außerdem finden sich in dieser Ausgabe zwei Rezensionen: Anna Gamperl hat den Band Praxis Sozialer Arbeit in Österreich (2022) rezensiert, der von Josef Bakic, Johanna Coulin und Gabriele Kronberger herausgegeben wurde, Gertraud Pantuček widmet sich dem Sammelband Geschichte und Entwicklung der Sozialen Arbeit in Österreich (2022) von Arno Heimgartner und Josef Scheipl. 

Die Beiträge in den Rubriken Sozialarbeitswissenschaft, Junge Wissenschaft, Werkstatt und Positionen verdeutlichen, dass es an Anlässen für die Professionalisierung und Weiterentwicklung der Sozialen Arbeit gegenwärtig nicht mangelt. Mag ihre Akademisierung auch eine junge Entwicklung sein, präsentiert sich die Soziale Arbeit in Österreich in dieser Ausgabe doch als wache, kritische, differenzierte und fachlich profunde Disziplin und Profession. Wir wünschen Interesse, Neugierde und eine spannende Lektüre der interessanten und inspirierenden Beiträge.

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