soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 22 (2019) / Rubrik "Editorial" / Redaktion soziales_kapital
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/633/1137.pdf


Editorial Online-Journal soziales_kapital

22. Ausgabe Oktober 2019: Sucht/Konsum


Konsum und Sucht sind Themenbereiche, die in unserer Gesellschaft alle Altersgruppen und Bevölkerungsschichten betreffen. Jeder von uns ist gefordert, das eigene Konsumverhalten immer wieder zu reflektieren und zu hinterfragen. Während es den meisten Menschen gelingt, ein angemessenes und nicht die eigene Gesundheit gefährdendes Konsumverhalten zu entwickeln, stellt für einen Teil der Menschen der Umgang mit Konsum und Sucht ein Gefährdungs- oder Abhängigkeitspotential dar. Diese zweitgenannte Gruppe bedarf oftmals einer professionellen Hilfe im Umgang mit ihrem Konsum- und Suchtverhalten.

An dieser Stelle setzt die moderne Suchtforschung an. Sie unterscheidet zwischen substanzgebundenen Süchten (z.B. Alkohol- oder Nikotinabhängigkeit) und substanzungebundenen Süchten (z.B. Spiel- oder Kaufsucht). Substanzgebundene Süchte sind in den internationalen Klassifikationsschemata psychischer Störungen detailliert beschrieben. Konkret unterscheidet die WHO (2019) in ihrer internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10 GM-2019) drei Kategorien von psychischen Störungen bzw. Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen und zehn psychotrope Substanzgruppen. Im Gegensatz dazu sind die substanzungebundenen Süchte mit Ausnahme des pathologischen Glücksspiels (WHO 2019: F63) in den internationalen Klassifikationsschemata psychischer Störungen noch nicht explizit verankert. Zanki, Metz und Fischer (2010) kritisieren diese unzureichende Klassifikition von substanzungebundenen Süchten, da aufgrund der mangelhaften klinischen Diagnosemöglichkeiten nur unzureichende Behandlungsmaßnahmen aus dem Suchtbereich zum Einsatz kommen können.

Jenseits dieser klinischen Klassifikation, die wichtig und hilfreich für die entsprechende medizinische Behandlung von Suchterkrankten ist, stellen sich bei jeder Form der Suchterkrankung zahlreiche psychosoziale Fragen auf unterschiedlichen Ebenen. Dies betrifft die Suchterkrankten selbst (Mikroebene), die Ebene der Angehörigen (Mesoebene), die Ebene der Institutionen und professionellen HelferInnen (Exoebene) sowie die gesamte Gesellschaft (Makroebene). Eine Profession, die in der interdisziplinären Beratung, Betreuung und Begleitung einerseits eine zentrale Rolle einnimmt und andererseits stark im Spannungsfeld von Drogenhilfe und Drogenpolitik steht, ist die Soziale Arbeit.

Vor diesem Hintergrund befasst sich die aktuelle Ausgabe von soziales_kapital mit dem Themenschwerpunkt Sucht/Konsum aus der Sicht der Sozialen Arbeit. Die insgesamt sieben Beiträge zum Thema betrachten Sucht aus sehr vielfältigen, sowohl theoretischen als auch praxisbezogenen Perspektiven und liefern damit spannende und aktuelle Einblicke in die Materie.

Der Beitrag von Kurt Fellöcker und Silvia Franke betrachtet die Suchtberatung im Spannungsfeld von Beziehungsangebot und sozialpolitischem Wandel. Bezugnehmend auf das biopsychosoziale Modell und einen multiperspektivischen Zugang zum Phänomen Abhängigkeit wird für einen klientInnenfreundlichen und partnerschaftlichen Zugang zur Zielgruppe in der Suchtberatung plädiert.

Der Beitrag von Charlotte Sweet und Franz Schiermayr nähert sich dem Thema Sucht aus einer post-postmodernen Perspektive an. Auf Grundlage der Systemtheorie wird in diesem Beitrag ein Diskurs darüber geführt, auf welcher Suche DrogenkonsumentInnen sind.

Im Beitrag von Johannes M. Zimm und Kathrin Bergthaler werden Umgangsformen und Normalisierungsprozesse des Scheiterns von Behandlungsansprüchen in institutionalisierten Suchtbehandlungssystemen untersucht. Dabei werden u.a. die Bedeutung des Scheiterns und der Umgang damit sowohl auf Ebene der involvierten Individuen als auch auf Ebene der betreuenden und behandelnden Organisationen vor dem Hintergrund postmoderner Gesellschaftserzählungen beleuchtet.

Daniel Sanin analysiert in seinem Beitrag aus der Perspektive der Kritischen Psychologie und ihren Kategorien die Theorien und Denkformen der Suchthilfe. Konkret werden diese mit alternativen Ergebnissen und Theorien kontrastiert und in ihrer systemerhaltenden Funktion sichtbar gemacht.

Saskia Ehrhardt widmet sich in ihrem Beitrag der Frage, welches pathogene Potenzial von Konsum ausgeht, und liefert Implikationen für sozialtherapeutische Interventionen.

Der Beitrag von Harald Ploder gibt anhand des Beispiels von Kontaktladen und Streetwork im Drogenbereich, einer Suchthilfeeinrichtung der Caritas Steiermark in Graz, einen Überblick über aktuelle und zielgruppenorientierte Entwicklungen in der niederschwelligen und akzeptanzorientierten Suchthilfe.

Hubert Höllmüller betrachtet das Thema Sucht aus einer sozialwissenschaftlichen sowie sozialpsychologischen Perspektive und kommt dabei zu dem Schluss, dass Drogenhilfe aus der Perspektive der Sozialen Arbeit wesentlich mehr umfasst als nur die Vorstellung einer Krankheit, für die in erster Linie die Medizin zuständig ist.

In der Rubrik Junge Wissenschaft liegen drei Beiträge vor. Im Beitrag befassen sich Gernot Windpassinger, Karin Weißenböck, Jasmin Ceresna und Julia Windpassinger mit der Wahrnehmung von und dem Umgang mit gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit von SozialarbeiterInnen. Isabelle Zingg setzt sich mit dem Sterben in Würde auseinander. Dabei geht sie u.a. der Frage nach, welche Rolle die Soziale Arbeit bei der Strebebegleitung spielen kann. Heimo Neumaier beschreibt die Lebenslagendiagnostik als sozialarbeitswissenschaftliches Evaluierungsinstrument der Sozialpolitik.

Die Rubrik Werkstatt umfasst insgesamt drei Beiträge. Sandra Anders und Andrea Viertelmayr stellen in ihrem Beitrag ein Reflexionsinstrument zur Kindeswohlgefährdung in Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil vor. Im Beitrag von Katharina Kirsch-Soriano da Silva und Florian Rautner werden Lernerfahrungen aus einem kooperativen Stadtteilzentrum in Wien Ottakring des Teams der Caritas Stadtteilarbeit zusammengefasst. Der Beitrag von Heiko Berner stellt die Ergebnisse des Forschungsprojekts „Berufsbiografien im sozialen Sektor im Land Salzburg“ vor, das sich mit Änderungsmotiven von Tätigen im sozialen Bereich befasste.

Insgesamt stellt diese Aussage eine substanzvolle und fundierte Zusammenstellung von wissenschaftlichen Arbeiten aus der Sozialen Arbeit zum Themenschwerpunkt Sucht/Konsum dar, ergänzt durch interessante Arbeiten in den weiteren Rubriken.



Petra Wagner (Standort Linz)

Literatur

WHO (2019): Internationale Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10 GM-2019). Verfügbar unter: https://www.icd-code.de/ (15.10.2019).

Zanki, Malgorzata /Metz, Verena/Fischer, Gabriele (2010): Suchterkrankungen – Überblick und aktuelle Forschungsergebnisse. In: Psychologie in Österreich, 30, S.118–127.