soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 21 (2019) / Rubrik "Editorial" / Redaktion soziales_kapital
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/624/1134.pdf
Je herausfordernder die sozialen Dynamiken vor Ort sind, umso größer ist die Gefahr, den eigenen Tellerrand für den Horizont zu halten. Um dem vorzubeugen, haben wir eine internationale und globale Perspektive zum Thema der 21. Ausgabe von soziales_kapital gemacht.
Helmut Spitzer, seit mehreren Jahrzehnten in Ostafrika aktiv, führt mit seinem Beitrag ins Thema ein und diskutiert die Rolle der Sozialen Arbeit in Bezug auf sozialen Wandel und nachhaltige Entwicklung in der Weltgesellschaft. Globale Herausforderungen brauchen globale Reaktionen und damit eine Disziplin und Profession sozialer Arbeit, die sich solchen internationalen Themen öffnet. Eine dieser globalen Herausforderungen behandelt Marina Tomic Hensel in ihrem Beitrag: die Ökonomisierung als zunehmender Einfluss ökonomischer Kriterien und betriebswirtschaftlicher Instrumente in sozialen bzw. in staatlich-öffentlichen Bereichen bei gleichzeitiger Erosion staatlicher Finanzierung. Hier braucht es eine kritisch-reflexive Auseinandersetzung und eine Verknüpfung dieser Herausforderung mit der jeweils eigenen Praxis.
Konkret werden Andrea Nagy, Alex Klein und Christine Schmid, wenn sie die international kooperativen Studiengänge der FH St. Pölten und der Saxion Hogeschool in Enschede beschreiben. Die Zusammenarbeit sehen sie als Beitrag zu einer notwendigen Internationalisierung, wo eine Auseinandersetzung mit nationalen Qualifikationsrahmen und gesellschaftlichen Trends stattfindet. Eine weitere Konkretisierung vollzieht Sophie Nix, indem sie einen Einblick in das Sozial- und Gesundheitswesen von Kenia liefert. Dazu beschreibt sie die NGO-Landschaft, die in Kenia aktiv ist und vermittelt über zwei Interviews Einblicke in sozialarbeiterische Aktivitäten und Herausforderungen.
In meinem Beitrag zu „Globalisierung und Solidarität“ schildere ich die konkreten Erfahrungen eines durchgeführten Erasmus+ Projekts mit der Universität Tifariti. Diese Universität ist in den Langzeitflüchtlingslagern der Saharawi im Südwesten von Algerien verortet. Vor dem Hintergrund des letzten – eingefrorenen und verschwiegenen – Dekolonialisierungsprozesses in Afrika bedeutet Solidarität auf Hochschulebene, personelle und materielle Unterstützung für den Aufbau von Strukturen zu gewähren. Das geht nicht ohne persönliches Engagement bis hin zu einer neuen Form der Selbstbesteuerung.
In der Rubrik Sozialarbeitswissenschaft thematisiert Ruth Hechtl Inter*Kinder und Jugendliche. Die diesbezügliche Deutungsmacht der Medizin führt zu einer systematischen Pathologisierung und Medikalisierung. Im Beitrag wird auf aktuelle Studien Bezug genommen und eine Menschenrechtsperspektive eingenommen. Für die Soziale Arbeit bedeutet das, Sensibilisierung für das Thema der Intergeschlechtlichkeit herzustellen und weitere Forschung zu initiieren.
In der Rubrik Junge Wissenschaft dokumentiert Thomas Unger gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit gegenüber Sozialarbeiter_innen. In Interviews und Gruppendiskussionen bestätigten diese häufig sexistische, islamophobe, antisemitische, homophobe und rassistische Abwertungen und Anfeindungen. Dabei wird der professionelle Handlungsspielraum als sehr gering angesehen, weil Sanktionen diesbezüglich abgelehnt werden. Jennifer Mair untersucht die Vermittlung von Gender-Kompetenz in Bachelorstudiengängen der Sozialen Arbeit in Österreich. Dazu wurden Syllabi und Curricula analysiert. Zur Intersektion von weiblichem Geschlecht und islamischer Religion hat Nicole Fuchshuber ihre Bachelorarbeit verfasst. Im Artikel stellt sie ihre zentralen Ergebnisse vor. Es wird sichtbar, dass Musliminnen mit Kopftuch immer wieder Diskriminierungen erfahren und an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Auch hier ist die Soziale Arbeit gefordert.
Vera Blessing beschäftigt sich mit Sexarbeit als Handlungsfeld der Klinischen Sozialen Arbeit. Dabei baut sie auf einer diskursanalytischen Forschungsarbeit auf. So werden die gegenwärtigen politischen Debatten rund um die Regulierung von Sexarbeit auf Basis der Genealogien der Sexarbeit und zweier feministischer Positionen eingeordnet. Weiters wird die gesellschaftliche Doppelmoral, die als Hauptgrund zur Stigmatisierung von Sexarbeitenden führt, reflektiert. Über Professionalisierung von Schulsozialarbeit schreibt Elke Martin in Anlehnung an ihre Masterarbeit. Sie verortet die Schulsozialarbeit im Spannungsfeld von Hilfe und Kontrolle und stellt fest, dass diese häufig Funktionsdefizite des Schulsystems und des Gesellschaftssystems beheben soll. Gleichzeitig beschreibt sie, dass ein unklares Kompetenzprofil besteht und nur ein geringer Spielraum, um auf Veränderungen der sozioökonomischen Verhältnisse der Schüler_innen hinzuwirken. Martin sieht eine Lösung darin, durch eine gezielte Aktenführung sozialpolitische Forderungen formulieren zu können.
Kulturelle Identitätsentwicklung von Jugendlichen mit Fluchterfahrung wird von Birgit Mohr behandelt. Dazu werden theoretische Hintergründe und empirische Erkenntnisse aus der offenen Jugendarbeit herangezogen. Schließlich wird eine Auftragsklärung für die interkulturelle Soziale Arbeit durchgeführt. Barbara Theiner schreibt über Funktionen von virealer Nachbarschaftsvernetzung in Wien am Beispiel der Plattformen Fragnebenan und Facebook. Forschungsergebnisse bezüglich dieser Plattformen als Teil des virealen Raumes werden präsentiert, um sie besser verstehen und einordnen zu können. Michael Poigner stellt Fragen nach dem Nutzen und den Grenzen lebensstilbasierender Ansätze in quantitativen Studien für die Soziale Arbeit. Dazu fasst er zentrale Ergebnisse seiner Masterarbeit zusammen. Die Ergebnisse zeigen, dass die Erklärungskraft von Lebensstilen bei der Wohnstandortwahl umstritten ist, dass die Kategorie Lebensstil viel eher als Ungleichheitsmerkmal verstanden werden kann und eine sinnvolle Ergänzung bei der kleinräumigen Untersuchung sozialer Ungleichheit ist.
In der Werkstatt dokumentieren Edith Sandner-Koller, Eva Weiland und Michael Noack eine Evaluation der sozialräumlichen Hilfegestaltung in der Grazer Kinder- und Jugendhilfe. Befragte bescheinigen mehrheitlich positive Auswirkungen auf ihre Lebenssituation. Die Gründe dafür werden dargestellt und die diesbezüglichen Einwände ebenfalls.
In der Rubrik Nachbarschaft machen Olga V. Filatova, Charlotte Sweet, Elena A. Vinarchik und Franz Schiermayr einen Ländervergleich zwischen Russland und Österreich in Bezug auf psychosoziale Beratung bei Familienkrisen. Dabei werden wissenschaftlich-strukturelle Ähnlichkeiten sowie kulturell-ideologische Unterschiede sichtbar. Weiters werden beide Kulturen im Zusammenhang eines globalen Zeitgeistes interpretiert.
Tarek Diebäcker analysiert städtebauliche Verträge und Privatisierungstendenzen am Heumarkt in Wien. Über neue Bauprojekte können unerwünschte Gruppen aus dem Stadtraum ausgeschlossen und störende Nutzungsaktivitäten untersagt werden. Dazu ermöglicht die novellierte Bauordnung für Wien den notwendigen Handlungsrahmen. Dies steht im Gegensatz zu Positionen der OGSA und einer kritischen Sozialen Arbeit in Österreich.
Hubert Höllmüller