soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 23 (2020) / Rubrik "Editorial" / Redaktion soziales_kapital
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/659/1188.pdf
Die Fertigstellung dieses Editorials und der aktuellen Ausgabe des Online-Journals soziales_kapital steht unter dem Einfluss der Corona-Krise bzw. COVID-19. Mitte März 2020 wurden in Österreich weitgehende Vorkehrungen getroffen, um die Gesundheit der in Österreich lebenden Menschen zu schützen und den neuen COVID-19-Virus einzudämmen. Diese bestehen in der Schließung von Universitäten, Fachhochschulen, Schulen und Kindergärten, einer möglichst großen Einschränkung von sozialen Kontakten, der Umstellung von Arbeit in Organisationen auf Homeoffice, Ausgangsbeschränkungen und -sperren und Verhaltensregeln in Bezug auf Gesundheit bzw. Erkrankung. Mittlerweile sind alle Menschen davon betroffen und berührt. Tagesaktuell (20.03.2020) gehen nur wenige europäische Länder mit der Situation ohne weitgehende Einschränkungen um: dies sind England und die Niederlande.
Was bedeutet dies für das Thema dieser Ausgabe? Bevor die Krise in Österreich so akut wurde wie oben kurz beschrieben, habe ich zur Bedeutung von Selbstorganisation und Niederschwelligkeit in klassischer Form nachgedacht. So haben soziale Bewegungen historisch immer wieder Impulse für neue Angebote und Innovationen im Sozialbereich gegeben. Bewegungen von Arbeiter*innen, Frauen, Migrant*innen, Lesben und Schwulen und anderen, die aus unterschiedlichen Gründen „nicht der Norm“ in einer Gesellschaft entsprechen, konnten einiges an Beachtung, Respekt, Anerkennung und der Umverteilung von Ressourcen erreichen (vgl. Lamp 2007). Heterogenität und Vielfalt hinsichtlich Herkunft und der Gestaltung von Lebensformen scheinen in unserer Gesellschaft beinahe selbstverständlich Platz zu finden. Vieles, beinahe alles scheint möglich. Wo liegen aber auch die Grenzen? Wer gehört dennoch nicht dazu? Wieso braucht es Formen von Selbstorganisation von Klient*innen, wie zeigen sich diese und wie passen sie zu Angeboten der Sozialarbeit? Wieso sind gerade Angebote im Bereich der Sozialen Arbeit nie fertig und ist die Frage berechtigt, ob damit jene erreicht werden, die in besonderem Maß Unterstützung benötigen? Lothar Böhnisch hat 2018 in seinem Buch Die Verteidigung des Sozialen. Ermutigungen für die Soziale Arbeit 30 Argumentationsketten zur Angewiesenheit der Gesellschaft auf Soziale Arbeit formuliert. Eine davon lautet: „[D]ie Soziale Arbeit ist ein Seismograph für verdeckte und verschwiegene soziale Probleme“. (Böhnisch 2018: 120ff.) Daraus lässt sich ableiten, dass es danach zu schürfen gilt, wer in welcher Form Unterstützung benötigt und worin neue soziale Aufgaben bestehen, damit in einer Gesellschaft lokal und global das Gemeinwohl Berücksichtigung findet.
Formen von Selbstorganisationen verweisen immer auch auf fehlende Angebote und sie begrenzen die Macht von Sozialer Arbeit, damit diese nicht pater- oder maternalistisch für Klient*innen agiert, sondern mit ihnen gemeinsam. Theorie und Praxis von Empowerment und User-Involvement und die prinzipielle Ausrichtung, Hilfe(n) so zu geben, dass sie zu Selbsthilfe(n) führen, beinhalten entsprechende Denk- und Handlungsanleitungen. Sie sind in der Ausbildungen und der Praxis von Sozialer Arbeit als Idealkonzepte vorhanden und in Umsetzung. Niederschwelligkeit bedeutet speziell an jene zu denken, für die die Suche nach und das Annehmen von Hilfe (aus welchen Gründen immer) besonders schwierig ist. Ob dies psychische kranke Menschen sind oder Migrant*innen mit eigenen Sprach- und Kulturhintergründen, ob arme oder alte Menschen oder solche mit begrenztem Zugang zu Bildung (die Aufzählung lässt sich um ein Vielfaches verlängern). Sie alle sollten im Bereich von Sozialer Arbeit Zugänge geboten bekommen, mitgedacht und einbezogen werden. Soweit die nicht so geringe Aufgabenstellung!
Was behandeln die einzelnen Beiträge in dieser Ausgabe des Online-Journals soziales_kapital: Zum Themenschwerpunkt finden sich fünf Beiträge. Wie kollektives Handeln zu mehr Selbstbestimmung von Menschen mit Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen beitragen soll, argumentiert Michaela Moser in ihrem Beitrag. Darin zeigt sie auf, warum Soziale Arbeit ihr Verhältnis zu Selbstorganisation überdenken und ändern muss. Roswitha Al-Hussein beschäftigt sich mit der Bedeutung, die die Selbstorganisation von und für Migrantinnen und Musliminnen im Raum Graz in der Organisation SOMM hat. Sie fragt darüber hinaus, inwieweit die Organisation als eine Bereicherung für eine inklusive Gesellschaft betrachtet werden kann. Der Beitrag schließt mit einem Hinweis auf die äußerst prekäre Lage, in der sich der Verein seit dem Sommer 2019 befindet. Ausgehend von der UN-Behindertenrechtskonvention widmen sich Sandra Buchgraber und Barbara Kerschbaumer der Frage, wie sich das Paradigma der Selbstbestimmung von psychoseerfahrenen Menschen im Spannungsfeld von gelingender Partizipation und gesellschaftlichen Erwartungen gestaltet. In einem weiteren Beitrag wird gezeigt, wie die Kinder- und Jugenduniversität der Fachhochschule Kärnten durch unterschiedliche Projekte Kindern und Jugendlichen „einfache Zugänge“ zu tertiären Bildungsangeboten ermöglichen will. Christian Oswald und Waltraud Grillitsch erörtern im Kontext von Selbstorganisation, Niederschwelligkeit und Barrierefreiheit die verschiedenen Zugänge und Themen des Projekts. Katharina Crepaz und Susanne Elsen beschäftigen sich mit dem Potenzial der Selbstorganisation für das Empowerment von Migrantinnen und gehen auf Voraussetzungen und mögliche Herausforderungen einer Selbstorganisation ein. Weiters wird die Anwendbarkeit von Best Practices in Bayern auf Südtirol analysiert.
Ausgehend von der Gesprächserfahrung, dass jemand „ganz Ohr“ ist, erläutert Johannes Vorlaufer in der Rubrik Sozialarbeitswissenschaft, inwiefern das Hören des Menschen nicht nur ein konstituierender Moment menschlicher Existenz ist, sondern auch als Grundlage eines therapeutischen Gesprächs zureichend verstanden werden kann und muss.
In der Rubrik Junge Wissenschaft widmet sich Doris Setznagel der Frage, welche Zusammenhänge zwischen Armut und Ernährung bestehen und geht dabei auf die Bedeutung der Ernährung als Armutsindikator sowie ernährungsbezogene Probleme in Armutsverhältnissen ein. Johannes Gorbach setzt sich mit den sozialen Dimensionen von Nachverdichtungsprozessen in Wien sowie der Rolle der Sozialen Arbeit in Hinblick auf die professionelle Begleitung auseinander. Zur Schaffung von Wohnräumen wird nämlich vermehrt auf innerstädtische Nachverdichtung gesetzt, was auch zu einer Verdichtung des Zusammenlebens führt. In einem Beitrag über Jugendwohnungslosigkeit gibt Claudia Kutzer Einblicke in die Lebenswelten von wohnungslosen Jugendlichen in Vorarlberg und erläutert, warum die bestehenden Angebote im Bundesland Vorarlberg für die Existenzsicherung dieser Gruppe nicht als ausreichend angesehen werden können. Katharina Reuscher und Elisabeth Zepnik-Horniczek beschreiben in ihrem Beitrag, warum Klient*innen der Wiener Wohnungslosenhilfe das Betreute Konto ablehnen. Sie setzten sich mit der Bedeutung dieser Ablehnung für die Praxis der Sozialen Arbeit und Interventionsvorschlägen für mehr Akzeptanz des Betreuten Kontos auseinander. Welche Herausforderungen in der medizinischen Versorgung von illegalisierten Personen in Wien bestehen, thematisiert der Beitrag von Antonia-Christina Dallinger, Michael Mörtl und Sophie-Thérèse Lenauer. Behandelt werden dabei die eingeschränkten Angebote für die betroffene Zielgruppe sowie sprachliche und sozialisationsbedingte Barrieren auf beiden Seiten.
In der Rubrik Werkstatt untersuchen Doris Hörler, Sarah Silic und Petra Pahr-Gold, wie effizient Wissensplattformen im Beratungskontext Sozialer Arbeit aufgestellt sind. Die Erkenntnisse führten zur Erstellung einer neuen Informationsplattform, die den Wissenstransfer in Beratungssituationen effizienter unterstützen soll. Diese wird im Beitrag kurz vorgestellt.
In der Rubrik Einwürfe/Positionen widmet sich Janine Khandoker der Frage, inwiefern Freiwilligeneinsätze und Praktika in sozialen Einrichtungen in Ländern des globalen Südens zwar die Möglichkeit bieten sich sozial zu engagieren und zu reisen, jedoch nicht außer Kritik stehen. Wer profitiert wirklich davon? Werden bestehende Hierarchien reproduziert oder der Abbau historisch übermittelter Vorurteile begünstigt? Zudem wird in einem Beitrag das Konzept Radical Help besprochen, das ausgehend von Hilary Cottams Prinzipien für moderne Sozialsysteme entwickelt wurde, die insbesondere auf menschlichen Beziehungen aufbauen. In einer kritisch-reflexiven Auseinandersetzung zeigt Andreas Hallas auf, inwiefern dieses Konzept dazu beitragen kann, Soziale Arbeit weiterzuentwickeln. Der letzte Beitrag ist die deutschsprachige Übersetzung des Dubrovnik Manifests, welches im Zuge einer Konferenz 2019 entstanden ist. Im Manifest werden radikale Veränderungen, gewonnene Erkenntnisse und zukünftige Herausforderungen Sozialer Arbeit thematisiert. Übersetzt wurde das Manifest von Eva Grigori und Michaela Moser.
Gertraud Pantucek (Standort Graz) für die Redaktion
Literatur
Böhnisch, Lothar (2018): Die Verteidigung des Sozialen. Ermutigungen für die Soziale Arbeit. Weinheim/Basel: Beltz Juventa.
Lamp, Fabian (2007): Soziale Arbeit zwischen Umverteilung und Anerkennung. Der Umgang mit Differenz in der sozialpädagogischen Theorie und Praxis. Bielefeld: Transcript.