soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 24 (2020) / Rubrik „Editorial“ / Redaktion soziales_kapital
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/view/707/1293.pdf


Editorial Online-Journal soziales_kapital

24. Ausgabe Oktober 2020: Digitalisierung


Es waren Myriam Antinori, Judith Kerch, Charis Mrugalla und Magdalena Wilfling, die 2014 das Stichwort Digitalisierung in soziales_kapital brachten. Seither wurde darüber viel geschwiegen und heuer ist der Moment gekommen: Die 24. Ausgabe widmet sich weit über ihr Schwerpunkt-Thema hinaus der Digitalisierung. Gehen wir inzwischen davon aus, dass es im Jahr 2020 keinen Sinn mehr ergibt zu unterscheiden zwischen nicht-digitalen Phänomenen und solchen, die sich der Digitalisierung zuwenden, so scheint retrospektiv gesprochen die Wahl des Themas gut gemeint, doch irreführend. Zugleich mag es auch als Weckruf dienen, die Gegenwart und Zukunft von Gesellschaft und damit auch Sozialer Arbeit nicht als unheimliche Dystopie, sondern als gestaltbare, dynamische Epoche zu erleben.

Es ist nicht so, als wären frühere Jahrgänge soziales_kapital gänzlich befreit von den Zeichen der Zeit gewesen. Bereits in der ersten Ausgabe dieser Zeitschrift fand sich ein Beitrag des mittlerweile verstorbenen Soziologen Hermann Denz, der sich mit polarisierenden Gesellschaftsmodellen befasst. Darin betont der Autor den digital divide, also den Ausschluss aus neuen Medien entlang von Kapitalverhältnissen, und warnt vor der Verfestigung sozialer Ungleichheit insbesondere unter Kindern und Jugendlichen. Auch charakterisiert er Nutzer*innen sozialer Medien als Vertreter*innen einer individualisierten Spaßgesellschaft ohne Sinn für kollektive Verantwortlichkeiten (vgl. Denz 2008). Denz hatte nur teilweise Recht mit seiner Zeitdiagnose: Soziale Ungleichheit wird heute, acht Jahre später, immer noch durch Kapitalismus und Staaten produziert, soziale Medien konnten hingegen ganz neue Wege des grenzüberschreitenden Aktivismus und der Kommunikationskultur beschreiten.

Inzwischen ist der Zugang zu und die Vernetzung junger Menschen durch Smartphones zumindest europaweit nahezu flächendeckend gegeben. Der Ausschluss älterer Generationen wird hingegen gravierender – und bereits bestehende Vereinsamungstendenzen können in Zeiten einer Pandemie verstärkt werden. Dazu passend schildern Christoph Redelsteiner, Jakob Fischer, Gerlinde Pollak, Lisa Maria Redelsteiner, Lukas Pollak und Hannah Tischler in unserem Schwerpunkt die Erfahrungen von Senior*innen bei der Nutzung von Tablets zur Kontakt- und Hobbypflege.

Die so genannte Generation Y, die Geburtenjahrgänge ab 1995, gilt als erste Generation seit langem, welche sich gesellschaftspolitische Wirksamkeit zutraut und für die der Kampf gegen Diskriminierung und die Orientierung an Diversität Selbstverständlichkeiten sind. Dass dementsprechend auch die Soziale Arbeit mit Jugendlichen Seismograph für laufende Entwicklungen und Notwendigkeiten ist, ist kein Geheimnis. Kaum verwunderlich also, dass wir in der vorliegenden Ausgabe eine ganze Reihe von Artikeln haben, die sich der Digitalisierung aus Sicht der Jugend(sozial)arbeit widmen. Die Jugendlichen von heute können die erwachsene Zielgruppe von morgen sein, umso genauer lohnt es sich hier auch für andere Arbeits- und Handlungsfelder hinzuschauen.

Roman Brandstätter und Petra Paukowitsch eröffnen den Schwerpunkt mit den Ergebnissen ihrer Masterarbeit mit dem Titel „Streamwork – Die Exploration des Erstkontaktes der virtuellen Sozialen Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen auf sozialen Medien“. Petra Burgstaller und Pamela Heil präsentieren ihre Praxiserfahrungen von Jugend- und Schulsozialarbeit im virtuellen Raum als Treffpunkt für Kinder und Jugendliche, angeregt durch die distanzierenden Schutzmaßnahmen im Zuge der Covid-19-Pandemie. Auch Christian Zinkel-Camp schildert Erfahrungen und Problematiken der Digitalisierungsbeschleunigung der Offenen Jugendarbeit. Matthias Scheibe geht demgegenüber einen Schritt zurück und skizziert auf Basis eines sozialräumlichen Verständnisses eine strukturierte Analysetechnik für die kooperative Erkundung jugendlicher Lebenswelten im digitalen Raum. Katharina Stainer stellt in der Rubrik „Junge Wissenschaft“ Ergebnisse einer Qualifizierungsarbeit vor, welche sich mit Grenzen und Möglichkeiten digitaler Jugendarbeit befasst. Das Themenfeld digitale Jugendarbeit wird in der Rubrik „Werkstatt“ von Anu Pöyskö, Christina Pantucek-Eisenbacher und Michaela Anderle für diese Ausgabe geschlossen. Sie berichten von den Tätigkeiten einer Projektgruppe in Wien, welche aktuell einen Leitfaden für virtuelle Tätigkeiten von Jugendarbeiter*innen erarbeitet und Hinweise zur Adaption von Strukturen, Angeboten, Abläufen und Regelungen bieten soll.

Um im Generationen-Narrativ zu bleiben, lässt sich auch fragen, was nach der Generation Y passieren wird, welche Selbstverständnisse und Herausforderungen jene erben werden, die heute als Kinder bezeichnet werden. Monica Brunner und Verena Hofer stellen in der Rubrik „Junge Wissenschaft“ Ergebnisse des Forschungsprojektes „Nutzung digitaler Medien von Kleinkindern im familiären Alltag“ vor. Digitalisierung ist freilich keine Altersfrage allein, ebenso wenig wie Alterskohorten per se Zielgruppen sind. Sehr wohl aber Menschen, deren höchstpersönliche Lebenslage sich in einem gesellschaftlich anerkannten oder hergestellten Phänomen wiederfindet, das dann als „soziales Problem“ charakterisiert und damit Aufgabe Sozialer Arbeit wird. Etwa der Zugang zum Arbeitsmarkt, für den Christiane Reischl und Martin Gössl die Nützlichkeit interdisziplinärer Inklusionsmethoden betonen, was sie anhand der Zusammenarbeit von Ergotherapie, Biomechanik und Sozialwissenschaft illustrieren. Dass Digitalisierung „die Frage nach dem Sinn des Lebens erneut stellt“, konstatieren Charlotte Sweet und Franz Schiermayr. Sie hinterfragen einige grundlegende Annahmen sozialer Regulative. In unserer Rubrik „Nachbarschaft“ sind findings einer Fragebogenstudie von Sabine Klinger, Andrea Mayr, Romana Rauter und Anita Lerch publiziert, in welcher es um die Rolle digitaler Technologien für die Zusammenarbeit am Arbeitsplatz im Gesundheits- und Sozialwesen aus der Perspektive von Führungskräften geht.

Covid-19 hat nicht nur lange geforderte digitale Denk- und Handlungsweisen in die Praxis Einzug halten lassen, als gesellschaftlich erfahrene Krise hat die Pandemie unmittelbare wie auch kaum abzuschätzende Langzeitfolgen auf die soziale und ökonomische Sicherheit der Weltbevölkerung. Hanna Lichtenberger und Judith Ranftler analysieren mit intersektionalem Blick die Auswirkungen auf mehrfachdiskriminierte Kinder und Soziale Arbeit in der Rubrik „Sozialarbeitswissenschaft“. Unter Anleitung Arno Heimgartners verfolgten Studierende der FH Burgenland während der Ausgangsbeschränkungen im Frühjahr 2020 fünf unterschiedliche Forschungsprojekte, deren findings in der Rubrik Werkstatt präsentiert werden.

Zusätzlich zu unserem Schwerpunkt Digitalisierung und dem globalen Thema Pandemie, das 2020 prägt(e), bietet die Ausgabe von soziales_kapital in mehreren Rubriken Theorie und Praxis Sozialer Arbeit Raum. So finden sich in der Sparte „Sozialarbeitswissenschaft“ aktuelle Forschungsergebnisse gleich mehrerer Projekte: Verena Grill untersucht in einer qualitativen Studie, inwiefern Soziale Arbeit dazu beiträgt, Machtverhältnisse durch epistemische Gewalt aufrechtzuerhalten. Fragen der Herrschaftskritik widmen sich auch Anna Riegler, Brigitte Kukovetz und Helga Moser, die untersucht haben, inwiefern differenzsensible Kompetenzen in der Praxis der Sozialen Arbeit umgesetzt werden. Marc Diebäcker, Katrin Hierzer, Doris Stephan und Thomas Valina stellen in einer Meta-Analyse den internationalen Forschungsstand zu Akutunterbringung und -versorgung von Nutzer*innen in der Wohnungslosenhilfe vor und diskutieren ihn mit Blick auf Zielgruppenorientierung, Unterbringungsqualität und fachliches Arbeiten in niederschwelligen Einrichtungen. Marion Johanna Neunkirchner reflektiert Umsetzung und Nutzen multiperspektivischer Fallarbeit in der Untersuchungshaft und Deliktverarbeitung bei Beschuldigten, die Gewalt in Intimpartnerschaften ausgeübt haben. Dass Soziale Arbeit auch sexy sein kann, schlägt Tatjana Tschabrun diese Rubrik abschließend vor: Sie plädiert für die Verankerung sexueller Bildung in der Profession und beschreibt deren Notwendigkeit anhand von praxisbezogenen Beispielen.

Die Zukunft der Sozialarbeitswissenschaft liegt in der Rubrik „Junge Wissenschaft“, hier bekommen Absolvent*innen der Studiengänge Sozialer Arbeit die Möglichkeit, Ergebnisse ihrer Qualifizierungsarbeiten dem Fachdiskurs nahe zu bringen. Neben den bereits genannten Beiträgen, lassen sich hier folgende Themen nachlesen: Markus Deutsch beschäftigt sich mit Geschichte und internationalen Modellen des Bedingungslosen Grundeinkommens, Felix Friedrich hat sich mit der praktischen Umsetzung des Fachkonzeptes Sozialraumorientierung in der ambulanten Familienhilfe auseinandergesetzt und Verena Hrdlicka widmet sich Partizipationsmöglichkeiten und -hindernissen in der Dokumentation. Moritz Reisberger analysiert die theoretischen Wissensbestände bei Praktiker*innen der Sozialen Arbeit in Tirol und warnt vor der Tendenz zur Theoriearmut. Karin Schmid führte eine ethnografische Fallstudie durch, die die Zusammenhänge zwischen dem Einzug einer älteren, pflegebedürftigen Frau in ein Pflegeheim und der zu beobachtenden Verschlechterung ihrer Krankheitssymptome untersucht und Jakob C. Walter fragt sich, welche Aufgaben Internationale Soziale Arbeit in Bezug auf finanzielle Rücküberweisungen von Migrant*innen in ihre Herkunftsländer haben könnte.

In unserer Rubrik „Werkstatt“ finden sich neben den bereits genannten Beiträgen zwei weitere: Rosgard Ballan, Gian Bonev, Ronja Brückler, Sejla Dardagan, Virginia Firtescu, Tanja Prakesch und Nesrin Yildrim stellen findings ihrer Bachelorarbeiten vor, die sich um Anwendungserfahrungen und Entwicklungspotentiale des sozialdiagnostischen Tools Inklusionschart drehen. Christian Zajer liefert Überlegungen zu einer Engführung von klinischer und sozialraumorientierter Sozialer Arbeit.

Aus der Nachbarschaft, Deutschland, erreichte uns ein Beitrag, der auf Basis der Ergebnisse eines empirischen Lehr-Forschungsprojekts einen Einblick in Orte der Solidarität in der Stadt Trier gibt. Caroline Schmitt stellt Orte und ihre Protagonist*innen vor, die emanzipatorische Lebenspraxen erproben. Rezensiert werden zwei Bände in dieser Ausgabe: Sara Blumenthal bespricht Dominik Manteys Monografie über Sexualpädagogik und sexuelle Bildung in der Heimerziehung und Manuela Hofer stellt Persson Perry Baumgartingers Buch über historische, begriffliche und aktivistische Aspekte der Trans Studies vor. In „Einwürfe/Positionen“ schließlich verweisen wir auf ein trinationales Positionspapier zur Care-Krise und dieses Editorial abschließend, erlaube ich mir den Verweis auf das Wiener Manifest für digitalen Humanismus (2019), das demokratie- und inklusionsorientierte Handlungsvorschläge zur Gestaltung der Ko-Evolution von Technologie und Mensch festhält.


Lange Rede, langer Sinn: Ich wünsche euch und Ihnen inspirierende Lektüren und bin mir sicher, dass Autor*innen sich über Lob, Replik, Kritik und Zitation freuen.



Eva Grigori (Standort St. Pölten) für die Redaktion



P.S.: Schon gesehen? Wir haben einen neuen Webauftritt! soziales-kapital.at


Literatur

Antinori, Myriam/Kerch, Judith/Mrugalla, Charis/Wilfling, Magdalena (2014): Nutzung Neuer Medien in der Sozialen Arbeit. In: soziales_kapital, Bd. 11/2014. https://soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/view/321/552 (28.10.2020).

Denz, Hermann (2008): Konfliktgesellschaft und Sozialsystem – Widersprüche, Verwerfungen, Bruchlinien. In: soziales_kapital, Bd. 1/2008. https://soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/view/39/1238 (28.10.2020).

Werthner, Hannes/Lee, Edward A./Akkermans, Hans/Vardi, Moshe/Ghezzi, Carlo/Magnenat-Thalmann, Nadia /Nowotny, Helga/Hardman, Lynda/Stock, Oliviero/Larus, James/Aiello, Marco/Nardelli, Enrico/Stampfer, Michael/Frauenberger, Christopher/Ortiz, Magdalena/Reichl, Peter/Schiaffonati, Viola/Tsigkanos, Christos/Aspray, William/de Bruijn, Mirjam E./Strassnig, Michael/Neidhardt, Julia/Forgo, Nikolaus/Hauswirth, Manfred/Parker, Geoffrey G./Sertkan, Mete/Stanger, Allison/Knees, Peter/Tamburrini, Guglielmo/Tellioglu, Hilda/Ricci, Francesco/Nalis-Neuner, Irina (2019): Vienna Manifesto on Digital Humanism. https://dighum.ec.tuwien.ac.at/dighum-manifesto/ (28.10.2020).